Gebrochene Biografien

Zwei Romane führen den russischen Schriftsteller Alexander Ilitschewski im deutschsprachigen Raum ein

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „die bösen 90er“ werden die Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion heute in Russland von vielen erinnert. Eine solche Einschätzung nimmt vor allem die negativen Folgen des großen Umbruchs und die chaotischen Zustände jener Zeit in den Blick. Die positiven Elemente wie etwa die neu errungene Meinungsfreiheit oder die vergleichsweise demokratisch verlaufenden politischen Prozesse gehen dabei oft vergessen. Die Biografien der Menschen sind damals durcheinandergeraten: Das Streben nach Materiellem verdrängte die geistigen Werte, berufliche Karrieren wurden von einem Tag auf den anderen zerstört, und eine orientierungslose Masse rannte allen möglichen und meist kurzlebigen „Identifikationsangeboten“ hinterher. Manches Leben verwandelte sich gar in eine ziel- und hoffnungslose Odyssee.

Der russische Schriftsteller Alexander Ilitschewski (geboren 1970) hat das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts als junger Mann selbst erlebt. Auch in seiner Biografie hat die neue Zeit ihre Spuren hinterlassen. Der ausgebildete Physiker und Mathematiker hat einen Teil der 1990er-Jahre in den USA und in Israel verbracht, um unter einigermaßen geregelten Verhältnissen weiterhin wissenschaftliche Forschung betreiben zu können. Vor allem aber hat Ilitschewski genau beobachtet, was in diesen Jahren mit seinen Landsleuten passierte. Jetzt sind von ihm auf Deutsch gleich zwei Werke erschienen: Sein Roman „Matisse“ ist hierzulande zunächst fast unbemerkt geblieben. Erst nachdem das Feuilleton auf den zweiten Roman, „Der Perser“, aufmerksam geworden ist, findet nun auch „Matisse“ allmählich Beachtung. Die beiden Werke weisen einige gemeinsame Motive auf, die ihrerseits wiederum eine gewisse Grundlage in der Lebensgeschichte des Autors haben. Es geht beide Male um gebrochene Biografien, um die Irrfahrten durch das Leben, um Wissenschaft und Kunst in schwieriger Zeit, um den Süden als Sehnsuchtsort, aber auch um den Phantomschmerz nach dem Verlust.

„Matisse“, für den Ilitschewski 2007 den wichtigen russischen Booker-Preis erhielt, handelt von einem Physiker namens Leonid Koroljow, der in den 1990er-Jahren zum Obdachlosen wird. Das Erstaunliche an dieser Geschichte: Koroljows Abstieg zum Clochard ist nicht unabwendbar. Zwar erlebt Koroljow den Niedergang der Wissenschaft in Russland mit, doch kann er sich zunächst durchaus über Wasser halten – etwa dank einem Forschungsaufenthalt im Ausland. Später wird er zum Gelegenheitsarbeiter und übt sich in Bisness, wie man damals fast jede Tätigkeit nannte, die den bisher gewohnten Horizont überstieg. Er lebt in einer eigenen Wohnung, die er freilich noch abbezahlen muss. Da Koroljow aber keine Familie hat und überhaupt einigermaßen gewitzt ist, spricht eigentlich nichts dagegen, dass er die schwierigen Jahre irgendwie überstehen wird. Als sich aber in seinem Treppenhaus Obdachlose einnisten, erkennt er in ihrer Lebensweise eine Art Gegenentwurf zu seinem als sinnlos empfundenen Dasein. In einem langen Abnabelungsprozess löst sich Koroljow allmählich von seinem bürgerlichen Leben und findet im Obdachlosenleben die Freiheit. Er steigt in den Moskauer Untergrund ab und entdeckt ein geheimes Gangsystem, das mit der U-Bahn verbunden ist. In wochenlangen Streifzügen erkundet der Protagonist diese Gegenwelt zur Stadt an der Oberfläche und verbringt hier den kalten Winter. Später schließt er Freundschaft mit den Obdachlosen Wadja und Nadja. Wadja könnte man als eine Art Dichter bezeichnen, weil er seine Lebensgeschichte immer wieder anders – in Variationen – erzählt. Vielleicht ist es ein Fingerzeig darauf, dass ein Leben ohne Brüche, ohne Widersprüche und Neuanfänge gar nicht denkbar ist; ganz sicher aber ein Ausdruck der eigenen inneren Freiheit. Vollkommen anders dagegen Nadja: Sie schweigt in der Regel, gilt als „bekloppt“. Einen Bildband von Matisse, dessen farbenfrohen Bilder, die Sonne, das Paradies im Süden enthaltend, hütet sie wie einen Schatz. Koroljow absolviert zunächst eine Art „Obdachlosenlehre“ bei Wadja und Nadja. Später überredet er die beiden, mit ihm nach Süden zu ziehen: zumindest bis zum Schwarzen Meer, vielleicht bis nach Palästina, der Wärme, der Erlösung entgegen.

Man mag „Matisse“ als einen Roman über die Unbehaustheit lesen, doch möglicherweise findet Koroljow Heimat gerade in der Wanderschaft. Das Pilgern verleiht seiner gebrochenen Biografie Sinn: Er erfährt die heilende, ja euphorisierende Wirkung des Umherziehens. „Matisse“ erzählt damit auch von der Hoffnung, dass sich die Verwerfungen des Lebens dereinst auf einer höheren Ebene aufheben werden. „Die Biografie – eine Hieroglyphe des Lebens – ist der einzige Besitz der Obdachlosen“, heißt es an einer Stelle. Koroljow bezeichnet sich selbst als „Narr in Christo“. Aber mit gleichem Recht könnte man in ihm einen Franziskus sehen, der dem Besitz abschwört: Von der Selbstentsagung erhofft sich Koroljow das Aufgehen seiner Seele, seines Selbst in Gott.

Umfangreicher, noch beeindruckender und bedeutender ist Ilitschewskis zweiter Roman, der nun ins Deutsche übersetzt worden ist. Auch wenn „Der Perser“ einige Motive von „Matisse“ wieder aufnimmt, ist er doch um einiges umfassender angelegt. Wiederum geht es hier um durchgerüttelte Lebensläufe, und auch der Süden hat – dieses Mal in der Gestalt des sowjetischen und nachsowjetischen Aserbaidschans – seinen Auftritt. Doch im Gegensatz zu „Matisse“ dehnt Ilitschewski nun den Zeitrahmen bis in ins 21. Jahrhundert aus und greift auch räumlich viel weiter aus. Einige Handlungsstränge verlagern sich nach Amerika, Israel, Moskau oder gar auf die Weltmeere. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Freundschaft zwischen zwei Männern, die in deren gemeinsame Kindheit zurückreicht: Ilja Dubnow, der Ich-Erzähler mit russischen Vorfahren, und Haşem Sagidi, der mit seiner Mutter aus dem Iran geflohen war, sind praktisch Tür an Tür auf einer Insel etwas außerhalb von Baku aufgewachsen. Sie haben zusammen von der Welt geträumt und ihr Interesse für das Theater und für landeskundliche Streifzüge entdeckt. Doch auch hier bringen die gewaltigen politischen wie gesellschaftlichen Umbrüche die Biografien durcheinander. In den Wirren nach dem Zerfall der Sowjetunion verlieren sich die beiden aus den Augen. Während Ilja als Geologe für verschiedene Öl-Unternehmen in den USA oder Moskau tätig ist, wird Haşem zum Biologen, der im Süden Aserbaidschans zusammen mit einer Gefolgschaft von so genannten Hegern einen Naturpark verwaltet. Nach einer gescheiterten Ehe und Jahren der Wanderschaft beschließt Ilja, ins mittlerweile unabhängige Aserbaidschan zurückzukehren, um in seine verlorene Kindheit einzutauchen. Dort findet er Haşem wieder, der in seinem Reservat zu einer Art Guru, Derwisch oder Heiligem geworden ist – von vielen verehrt, von anderen verachtet. Haşem ist ganz durch den russischen Dichter Welimir Chlebnikow inspiriert, dem er in vielem nachzuleben sucht. Die zahlreichen Anspielungen auf Chlebnikows Leben und Werk gehören zu den reizvollsten, allerdings auch zu den schwierigsten Stellen des Romans. Die Wiederbegegnung zwischen Ilja und Haşem endet schließlich in einer Tragödie.

Diese knappe Schilderung kann lediglich das erzählerische Gerüst des Romans, dessen Grundkonstellation nachzeichnen. „Der Perser“ ist jedoch noch vieles mehr als die Geschichte einer alten Freundschaft: Er ist ein Buch der Abschweifungen, ein Traktat über Naturwissenschaft und Kunst, über Erdöl und Globalisierung, über das Fliegen und die Seefahrt. Der Roman erzählt eine Geschichte Aserbaidschans, beleuchtet die Ränder eines zerfallenen Imperiums, weiht den Leser ein in religiöse und mystische Traditionen. „Der Perser“ ist opulent, sprachmächtig, betörend – ein Derwischtanz, der den Zuschauer mitunter schwindlig macht.

Es fällt in Anbetracht der überschwänglichen Phantasie des Autors und der zahlreichen Aspekte des Romans schwer, einen eigentlichen Kern desselben auszumachen. Aber man könnte es so formulieren: „Der Perser“ ist ein Buch, das vom Phantomschmerz handelt. Iljas Trennung von seiner Frau Therese und dem kleinen Sohn, der Verlust der Kindheit, der Untergang des Imperiums und vielleicht ganz besonders die Vertreibung aus dem Paradies. Auf je eigene Weise versuchen Ilja und Haşem dieses wiederzufinden. Ein Kaukasus-Epos ist „Der Perser“ übrigens nicht, wie Johannes Kaiser beim Deutschlandradio zu glauben meinte, denn der Kaukasus ist nun wirklich nicht mit Aserbaidschan gleichzusetzen. Und noch einiges mehr daneben liegt die online-Redaktion der Süddeutschen Zeitung, die von einer „Tiefenbohrung in der Schwarzmeer-Region“ schrieb. Da hat die Zeitung glatt das Kaspische Meer mit dem Schwarzen verwechselt. Mit Verlaub: Aus Ilitschewskis großartigem Roman hätte man etwas mehr lernen können – und das übrigens nicht nur in Geografie.

Ein Wort zur Übersetzung ins Deutsche. Diese vermag bei „Matisse“ leider weniger zu überzeugen, denn sie weist etliche Nachlässigkeiten auf: So hat ein Buchkapitel im Anhang plötzlich einen anderen Titel („Der Künstler“ statt „Der Maler“) und die Anmerkungen sind teilweise fehlerhaft. Im einem Joseph-Brodsky-Zitat verwechseln die Übersetzerinnen Valerie Engler und Friederike Meltendorf „vanna“ (Badewanne) und „vannaja“ (Badezimmer). Und dass der Ausstellungskomplex im Norden Moskaus schon seit einiger Zeit wieder die alte Abkürzung WDNCh zurückbekommen hat, ist ihnen entgangen. Am ärgerlichsten aber ist, dass die russischen Namen nicht konsequent gleich transkribiert werden. Hat es hier vielleicht an Absprache zwischen den beiden Übersetzerinnen gemangelt? – Was für ein anderes Bild dann im „Perser“! Man staunt, ja frohlockt ob der sprachlichen Leistung von Andreas Tretner, der sich nicht nur mit Fauna und Flora Aserbaidschans herumschlagen musste, sondern den Text überhaupt in ein äußerst nuancenreiches, farbenprächtiges, spektakuläres Deutsch gegossen hat! Tretner ist es zu verdanken, dass man auch etwas gelassener über die eine oder andere Durststrecke bei der Lektüre hinwegsieht.

Alexander Ilitschewski ist ein Name, den man sich merken muss. In seinen Romanen erzählt er davon, was mit den Menschen geschieht, die von der „Bö des großen Umbruchs“ erfasst werden. Gemäß dem Autor sind die beiden nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Bücher Teil eines größeren Ganzen. Man darf also mit Spannung auf die weiteren Bände der Tetralogie warten!

Titelbild

Alexander Ilitschewski: Matisse. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Friederike Meltendorf und Valerie Engler.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
427 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570031

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alexander Ilitschewski: Der Perser. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen Alexander Tretner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
750 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783518424995

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