Gegen das acherontische Grauen

Helga Raulff begibt sich auf die Spuren des Atomblitzes

Von Arata TakedaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arata Takeda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Super-GAU von Tschernobyl am 26. April 1986 waren Ausdrücke wie „die Kirschbäume sind explodiert“ oder „der strahlende Himmel“ plötzlich nicht mehr unschuldig denkbar. So empfand es die Ich-Erzählerin von Christa Wolfs „Störfall“ (1987). In ihrem Bewusstsein bedeuteten die Nachrichten über den Reaktorunfall einen historischen Einschnitt: „Wieder einmal, so ist es mir vorgekommen, hatte das Zeitalter sich ein Vorher und Nachher geschaffen.“ Wieder einmal: Denn der Katastrophe von Tschernobyl waren mehrere „kleinere“ Reaktorunfälle vorausgegangen, und die Geschichte der Kerntechnik hatte zu einem früheren Zeitpunkt einen viel tiefer greifenden Einschnitt erfahren. Die Semantik von „Explosion“ und „Strahlung“ hätte schon längst vor Tschernobyl mit apokalyptischem Grauen belastet sein müssen.

Mit „Strahlungen“ wählte Helga Raulff für die von ihr kuratierte Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne (vom 20. November 2008 bis 1. Februar 2009) und das sie begleitende Buch eine bereits „besetzte“ Überschrift. Während Ernst Jünger damit noch diffuse Lichtstrahlen meinte, die er als Autor einfing und in sinnvolle Muster ordnete, sollte nun eine eindeutige Assoziation nahegelegt werden. Die historische Zäsur, um die es hier geht, markieren Alamogordo und Hiroshima, der erste Atombombentest vom 16. Juli und der erste Atombombenabwurf vom 6. August 1945. Die Autorin zeichnet die textuellen Spuren nach, die sich unter dem Eindruck der Atombombe in Literatur und Philosophie eingeschrieben haben – nicht zuletzt anhand von seltenen Fundstücken aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Es mag befremden, dass in Yvan Golls „Atom Elegy“ von 1946 Faszination und Klage einander aufwiegen. Gedichte von Rose Ausländer, Nelly Sachs und Paul Celan scheuen es derweil nicht, das Grauen der Atombombe mittels der Bilder des Holocaust zu evozieren. Hinzu kommen biblische Vergleiche und Rückgriffe auf die antike Mythologie. Politische oder moralische Vorbehalte dagegen, Auschwitz und Hiroshima in einem Atemzug zu nennen, spielen für die poetische Verarbeitung keine Rolle. Wohl aber in der Literatur- und Politikkritik. Der „Aufbau“ in New York druckt 1960 in einer Kulturbeilage Sachs’ „Landschaft aus Schreien“ (1957) ganz verstümmelt ab – unter anderem fehlt die Zeile mit „den Gerippen in Maidanek und Hiroshima“. In einem Brief an Hans Magnus Enzensberger verwahrt sich Hannah Arendt dagegen, Auschwitz und die Atombombe auf einer Ebene zu diskutieren.

Zwei Umstände erschweren anfangs die innerdeutsche Rezeption und Zirkulation der Berichte über den ersten Einsatz von Atomwaffen und dessen Folgen. Zum einen hatte sich Deutschland zu dem Zeitpunkt mit den Trümmern im eigenen Land und dem Grauen der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen; zum anderen ging die US-amerikanische Zensur bis gegen Ende der 1940er-Jahre systematisch zu Werke. Daraus erklären sich die verspätete Notiz Gottfried Benns zur Enola Gay, dem Bomber von Hiroshima, aus dem Jahre 1949 und die tendenziöse Wahrnehmung in der Öffentlichkeit: „Nicht Erschrecken und Verzweiflung über das Ausmaß der Zerstörung, das die Bomben im Kriegseinsatz angerichtet hatten, sondern Angstlust und Spektakel rund um die Tests begleiteten den Eintritt ins Nuklearzeitalter.“

In der Literatur werden, im Rahmen der verfügbaren Informationen, sowohl das Leiden und Sterben der Atombombenopfer als auch die Auswirkungen der Atomwaffentests aufmerksam registriert. Hörspiele von Oskar Wessel und Erwin Wickert, Gedichte von Günter Eich, Wolfgang Weyrauch, Stephan Hermlin, Ingeborg Bachmann und Ludwig Harig dokumentieren den Aufstand der moralischen Phantasie gegen die „Apokalypseblindheit“. Bisweilen prallt die Phantasie an der Realität ab. Claude Eatherly, zu dessen Legende als reumütiger Bomberpilot von Hiroshima unter anderem Günther Anders und Robert Jungk beitrugen, wurde als Bluffer enttarnt. J. Robert Oppenheimer, den Heinar Kipphardt als von moralischen Zweifeln geplagten Wissenschaftler dramatisch inszenierte, befand die technische Arbeit an der Wasserstoffbombe als „a sweet and lovely and beautiful job“.

Helga Raulff lädt den Leser zu einem facettenreichen Streifzug durch die intellektuellen Regungen der 1940er- und 1950er-Jahre. Das dabei entstehende textuelle Netzwerk spannt sich von bekannten Beispielen von Marie Luise Kaschnitz und Friedrich Dürrenmatt bis zu wiederentdeckten Werken von Robert Jungk („Heller als tausend Sonnen“, 1956) und Heinrich Schirmbeck („Ärgert dich dein rechtes Auge“, 1957). Auch gibt die Autorin Einblicke in die unterschiedlichen Wege, die Martin Heidegger und Karl Jaspers angesichts des anbrechenden Atomzeitalters philosophisch beschreiten. Die Erklärung der Göttinger Achtzehn gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr und die pazifistische Bewegung „Kampf dem Atomtod“ bilden nicht nur den Hintergrund, sondern auch das Ferment für engagiertes Schreiben.

Die Spurensuche wird ergänzt durch zwei Briefe von Hermann Broch an Yvan Goll, geschrieben wenige Wochen nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, einen 1946 von der Redaktion der „Frankfurter Hefte“ abgelehnten Aufsatz von Hans Blumenberg über „Atommoral“ sowie einen vermutlich um 1959 verfassten und 1984 posthum publizierten Beitrag von Karl Löwith zu „Atomenergie und menschliche Verantwortung“, nebst Kommentaren zur historischen Einordnung der Texte. Wer die Ausstellung versäumt hat, darf sich über dieses Buch freuen. Eingestreute Farbabbildungen von musealen Fundstücken gewähren nachträgliche Blicke in die Vitrinen. Von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten deutschen Bücher 2009 ausgezeichnet, bereitet das Buch intellektuelles und ästhetisches Vergnügen zugleich.

Die kleineren Mängel sind schnell aufgezählt: John Herseys Reportage erscheint nicht, wie angegeben, im Herbst 1945, sondern Ende August 1946. Bei einigen Ausführungen über Ernst Jünger und Elisabeth Langgässer wäre ein erneuter Hinweis auf Elisabeth Emters Dissertation „Literatur und Quantentheorie“ (1995) angebracht gewesen, auf die eingangs als einen früher unternommenen, aber anders fokussierten Versuch verwiesen wird. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Ausstellung und das Buch sich ihrerzeit eines Themas annahmen, das sich zwei Jahre später angesichts der Katastrophe von Fukushima mit verschärfter Dringlichkeit stellen sollte. So bleibt das Buch im Zeitalter nach Fukushima umso lesenswerter, bildet es doch eine wertvolle Informations- und Bezugsquelle, die zur erweiterten Beschäftigung mit dem Thema anregt.

Titelbild

Helga Raulff: Strahlungen. Atom und Literatur. Mit zum Teil unveröffentlichten Texten von Hermann Broch, Hans Blumenberg und Karl Löwith, kommentiert von Marcel Lepper, Jan Bürger und Reinhard Laube.
Marbacher Magazin 123/124.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2008.
160 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783937384481

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