Männerphantasien

Karen Duves dystopischer Roman „Macht“ führt uns ins misogyne Jahr 2031

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Two girls are too many, threeʼs a crowd and four youʼre dead“, warnten die Spießbürger den titelstiftenden Dandy eines Songs der englischen Beat-Band The Kinks ein Jahr vor dem Summer Of Love. Der Song bescheinigte ihm hingegen zuletzt, er sei „all right“. Das kann man von Sebastian Bürger nun allerdings nicht behaupten. Mit seiner Ansicht „Zwei Frauen! Zwei! Das ist das Schlimmste, was einem passieren konnte“, ist er denn auch ein Bruder im Geiste der Spießbürger von Anno dunnemals. Doch hat er noch etwas mit den warnenden Stimmen aus dem Song der Kinks gemein. Denn der Herr mit dem sprechenden Namen ist selbst eine fiktive Figur – und zwar aus Karen Duves neuem Roman „Macht“.

Die Handlung des Romans ist in Wellingstedt, einem fiktiven Vorort von Hamburg, angesiedelt, einer „erstklassige[n] Wohngegend“ mit „geringer Kriminalitätsrate“ und „nur zwei – noch dazu bestens integrierten – Asylantenheimen“. Er spielt zwar 15 Jahre in der Zukunft, aber im Grunde ist alles noch genau so wie heute in jedem beliebigen Vorort irgendeiner deutschen Stadt. Die Einkaufszeilen werden nach wie vor von zweierlei Geschäften beherrscht. Auf den feinen Buffets der einen ist alles „absurd teuer“, während die Waren in den Regalen der anderen „kaum begreifbar billig“ sind. Die Massen stürmen trotz „Fleisch- und Heizölzuteilung nach CO2-Punkten“ noch immer in die Metzgerläden und an die Zapfsäulen der Tankstellen und somit sehenden Auges in die Klimakatastrophe. Männer – sowohl die bekennenden Maskulinisten als auch sich weichgespült gebende Umweltschützer –  jammern ebenso verlogen wie lauthals darüber, dass ein Feminat, ein „verordneter Staatsfeminismus“, herrsche. Dabei sind die Frauen im Parlament und in der Regierung noch immer in der Minderheit, die gesetzlich vorgeschriebene Frauenquote beträgt grade einmal 40 Prozent, und was die Wirtschaft betrifft, so sind nicht einmal „zehn Prozent aller Aktien in Frauenhand“. Allerdings betrachten die Herren der Geschichte das bereits als „radikal-feministischen Angriff“ auf ihre „Werte“ und stürmen eine Tagung, auf der über eine Frauenquote von 50 Prozent auch nur diskutiert werden soll. Und noch immer moderiert im Jahr 2031 „ein ewig vierzigjähriger Günther Jauch“ Quizshows.

Ermöglicht wird ihm dies durch Ephebo, ein Mittelchen, das zwar höchst karzinogen ist, aber nicht nur den Alterungsprozess anhält, sondern sogar verjüngend wirkt, sofern man es täglich einnimmt. Es ist also eben dieses Präparat – Medikament möchte man es nicht nennen –, das den Unterschied der zukünftigen Romanwelt gegenüber der gegenwärtigen und vor allem ihrer fiktiven BewohnerInnen zu uns Heutigen ausmacht, die wir dem Ende unserer Tage zunehmend gebrechlicher entgegenzudämmern pflegen. Ein wenig angenehmer und dabei teurer Spaß für uns Patienten wie auch für die Krankenkassen. Ebendarum wird Ephebo in Duves Roman von diesen auch kostenlos abgegeben, vorausgesetzt, man unterzeichnet, dass man sie von der Übernahme der über kurz oder lang fälligen Krebstherapie entbindet. Für die Kassen ist das ein glänzendes Geschäft. Denn „Demenz, Osteoporose, Diabetes 2, Rheuma und Parkinson“ und andere Infirmitäten sind mit Einnahme des Mittels perdu. Je stärker jemand das Mittel dosiert, desto niedriger wird sein „Bio-Alter“. Während die meisten Männer eines um die 30 Jahre wählen, manche etwas älter, bevorzugen Frauen oft eines von 20, nicht selten etwas jünger. Das trifft auch auf die zentralen Figuren des Romans zu, deren dort „Chrono-Alter“ genanntes tatsächliches Alter meist zwischen 65 und 70 Jahren liegt. Duve fabuliert nicht weiter aus, wie sich die Verjüngung psychisch auf die Menschen auswirkt, und so wird dieses interessante Thema bedauerlicherweise verschenkt. Zwar meint Bürger, der Ich-Erzähler des Romans, einmal: „schön zu sein, wenn man bereits hässlich war, wieder jung werden, wenn man das Alter bereits kennen gelernt hat, das macht einen weise und demütig. Vielleicht macht es einen sogar zu einem besseren Menschen“. Aber das sind allgemeine Phrasen und gerade er selbst ist das beste Beispiel dafür, dass dem mitnichten so ist. Überhaupt scheinen nicht wenige, zumal der Männer, psychisch zu jenen postpubertären Knaben der Antike zu regredieren, die dem Medikament seinen Namen liehen. Vielleicht sind die künstlich verjüngten alten Herren aber auch nie wirklich erwachsen gewesen.

Noch ein Zweites unterscheidet die Zukunftsgesellschaft des Jahres 2031 von der heutigen. Es hat sich eine Art gelenkter Demokratie etabliert, die im Roman als „kontrollierte Demokratie“ bezeichnet wird und durch eine „Beschränkung des passiven Wahlrechts“ geprägt ist. Bevor sie sich zur Wahl stellen dürfen, müssen sich alle KandidatInnen auf ihre charakterliche Eignung hin prüfen lassen, wobei es keineswegs immer mit rechten Dingen zugeht. Sebastian Bürger kennt sich da aus, ist der Ich-Erzähler doch als „Pressesprecher der Demokratiezentrale“ tätig, zu deren Aufgabe gehört, den Leuten nahezubringen, wie demokratisch es doch sei, wenn alle Kandidierenden vor ihrer Zulassung den Charaktercheck durchlaufen müssen.

Ein augenfälliges Unterscheidungsmerkmal gegenüber zahlreichen anderen Romanen, ja fast schon ein Alleinstellungsmerkmal von Duves Werk liegt darin, dass es keine Identifikationsfigur zu besitzen scheint. Überhaupt handelt es sich bei den Figuren eher um klischeehafte Personifikationen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, menschlicher Eigenschaften, religiöser Verblendungen, bedenkenlosen Karnivorentums und dergleichen, als um individuell gestaltete Charaktere mit Persönlichkeit. So treten etwa die beiden Kinder des Protagonisten – ein Junge und ein Mädchen – als wandelnde Geschlechterklischees auf. Bürgers Bruder wiederum verkörpert maskulinistische Religiosität, in der sich Fundamentalismus und Bigotterie vereinen, und der vom Ich-Erzähler seit seiner Kindheit gefürchtete Ingo Dresen das ebenso maskulinistische Subproletariat. Überhaupt bevölkern mehr (und soweit zu sehen ist, ausnahmslos misogyne) Männer als Frauen den Roman. Die Herren der Geschichte sind denn auch die Herren des Geschehens. Sie sind es, die die Handlung vorantreiben und die Initiativen ergreifen. Die Frauen bleiben hingegen meist passiv und blass. Sie „applaudieren“ allenfalls einmal, wenn „ein praktischer Mann“ das Kunststück fertig bringt, eine schwingende Deckenlampe zu fixieren. Selten, dass einmal eine weibliche Figuren überhaupt auch nur ein Widerwort erhebt wie Elisabeth Westphal auf einem Klassentreffen. Ob all diese Befunde allerdings bis zum Ende des Romans Bestand halten, soll – zumindest zunächst einmal – offen bleiben.

Aber zurück zu Bürger. Er ist ein ehemaliger Ökoaktivist und Vegetarier, aber auch ein misogyner Psychopath und letztlich nichts weiter als ein Westentaschen-Ausgabe Friedrich Nietzsches, der bekanntlich selbst nicht viel mehr als ein unerträgliches Großmaul war. Wie der philosophisch dilettierende Altphilologe, so neigt auch Bürger zu frauenverachtenden Sentenzen voller Misanthropie. Sie lauten etwa: „Manchmal muss man eine Frau zerstören, wenn man nicht von ihr zerstört werden will“, oder: „Es gibt keine Gleichheit zwischen Männern und Frauen, es gibt nur Sieger und Besiegte“. Und ebenso wie der argumentationsscheue Aphoristiker des 19. Jahrhunderts ist auch Bürger ein selbstmitleidiger und weinerlicher Megalomane, der noch in seiner Jämmerlichkeit an seine Einzigartigkeit glaubt: „Ich muss verflucht sein. Niemand hat so viel Pech wie ich.“ Immer sind ihm die anderen schuld – im Großen wie im Kleinen, im Politischen wie im Privaten –, nie hat er irgendetwas selbst zu verantworten. Kurzum: Bürger ist die wandelnde Negativ-Folie. Und das – es sei vorweggenommen – wird sich auch bis zum Ende des Romans nicht ändern.

Zwar ist Bürgers Selbst- und Weltwahrnehmung völlig verzerrt, doch ungeachtet dessen sind seine Mitbürger ebenso mies, wie er sie sich denkt. Selbst im Angesicht der Apokalypse haben sich die Menschen nicht geändert. „Jahrzehnte lang haben sich die Leute eingeredet, dass es so schlimm schon nicht kommen wird, und jetzt, wo alles eintrifft, was man ihnen vorhergesagt hat, sind sie weder überrascht noch erschrocken, sondern behaupten einfach, es wäre alles wie immer, und machen es sich in der Katastrophe gemütlich.“ Noch immer „mampfen“ sie „gequältes Schwein und aussterbenden Fisch“.

Vor allem kennt der Ich-Erzähler seine Geschlechtsgenossen bestens. Als einer von ihnen weiß er ganz genau, was Männer von Frauen „wirklich wollen“. Elli Westphal, die sich angesichts seiner frauenverachtenden Brutalität daran erinnert, dass er in seinem Blog doch früher „Solidarität, Gleichberechtigung, Respekt“ propagiert habe, belehrt er erzürnt: „Kein Mann will das.“ Er habe das nur vorgegeben, „weil man so etwas sagen muss. Und weil das bei euch Frauen gut ankommt“. Wenn sie wissen wolle, „was Männer wirklich wollen“, solle sie sich Pornos anschauen, „wenn Männer auf Solidarität, Respekt und Beziehungen auf Augenhöhe stehen würden, wären Pornos voll davon.“ Aber das würden die „Weiber“ eben nie begreifen, „dass für uns nicht Gerechtigkeit oder Freiheit oder Reichtum, ja nicht einmal Sex das Wichtigste ist, sondern Bedeutung – in den Augen anderer Bedeutung zu haben.“

Bürgers Menschenfeindlichkeit wird nur noch von seiner Misogynie übertroffen. So hält er seine geschiedene Ehefrau Christine Semmelrogge, die damalige „Ministerin für Umwelt, Naturschutz, Kraftwerkstilllegung und Atommüllentsorgung“, seit zwei Jahren in seinem Keller gefangen, weil sie ihn verlassen wollte. Sie muss ein 1950er-Jahre Outfit tragen, das in den Augen des Resopal-Nostalgikers von „schönste[r] Natürlichkeit“ zu sein scheint. Betritt er der den Raum, legt er ihr vorsichtshalber ein Halseisen um und kettet sie an die Wand, wenn er sie nicht gerade brutal schlägt oder vergewaltigt. Gelegentlich vergisst er sie auch mal für ein paar Tage nackt angekettet, sodass er sie halb verhungert in ihrem Urin liegend vorfindet. Was er aber nur halb so schlimm findet. Er hätte ja ganz andere Sachen mit ihr anstellen können. Überhaupt war sie es ja, die ihn zu all dem gezwungen hat. Warum hatte sie ihn auch verlassen wollen? Zwar „hakt“ er „die Kette, die an Christines Halsband befestigt ist“, gerne „so straff wie möglich“ an einen der Ringe in der Mauer. Doch versichert er, er sei „kein Perverser, bloß ein Mann mit seinen ganz normalen Bedürfnissen“. Denn „eine Frau ganz und gar zu beherrschen“, sei „etwas völlig Normales – ein gesundes männliches Bedürfnis“. Zudem versuche er, ihr „den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen“. Er wolle „sie ja nicht quälen“. Denn schließlich besitze er „ein überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen, auch wenn Christine das nie wahrhaben will“. Alles, was er verlange, sei nichts weiter als „Respekt“.

Bürger selbst erlebt weder glückliche Momente noch kennt er sympathische Eigenschaften anderer. Jedenfalls so lange nicht, bis er auf dem besagten Klassentreffen seinen heimlichen Jugendschwarm Elli Westphal nach nicht weniger als 50 Jahren wiedersieht, die – Ephebo sei Dank – ausschaut, „als wäre sie gerade aus einer Zeitmaschine gestiegen“, was er durchaus nicht negativ meint. Auch gefällt ihm, dass die Lehrerin „so empfänglich für männliche Belehrungen“ ist, zumal für die seinigen. Ihre ‚sympathischste Eigenschaft‘ aber besteht darin, dass sie mit ihm schläft. Das macht ihn ganz unerwartet glücklich und seine ‚Liebe‘ zu ihr lässt den passionierten Welt- und Menschenverachter fast der ruchlosen optimistischen Denkungsart erliegen, die das ja schließlich zweifellos anstehende Weltende verdrängen möchte. Er überhöht Elli Westphal und seine Gefühle für sie gnadenlos klischeehaft: „Das was zwischen uns entsteht, ist etwas Reines und Heiliges, etwas, das nicht beschmutzt werden darf“. Natürlich will er Christine für sie „aufgeben“. Doch es dauert nicht lange und seine neue ‚Heilige‘ landet ebenfalls im Keller.

Es heißt, das Leben sei eine Tragödie, die nur als Komödie zu ertragen ist. Und wie jeder bessere Pessimist weiß, ist das so falsch nicht. Daher zeichnet sich Duves Dystopie auch durch einen unnachahmlichen Humor aus, der durchaus nicht immer so schwarz ist, wie man glaubt, von einer Dystopie erwarten zu dürfen. Tatsächlich aber täuscht der Roman die Lesenden in so manchem, ohne sie darum zu enttäuschen. So stellt er sich keineswegs als ganz so dystopisch heraus, wie es lange den Anschein hat. Das heißt selbstverständlich nicht, dass am Ende alles gut sein würde. Ganz zuletzt zeigt sich ungeachtet eines sich als Sackgasse erweisenden dunklen Tunnels für die eine oder andere doch ein heller Hoffnungsstrahl. Auch hier blickt die Autorin dem Ich-Erzähler augenzwinkernd über die Schulter.

Und auch die Figuren sind nicht alle so leblos, wie es lange scheint. Spätestens während Christines Befreiungsversuch wird deutlich, dass zumindest sie – als vielleicht einzige der Figuren – tatsächlich ein Wesen aus Fleisch und Blut ist und nicht bloß ein literarisches Konzept. Selbst durch die verzerrte Wahrnehmung Bürgers, der in ihr – wie in allen Menschen – nichts weiter als Klischees sehen kann, leuchtet noch ihre Individualität und Menschlichkeit hindurch, die es den Lesenden ermöglichen, sie als klug, stark, intelligent, verzweifelt und schwach zu erkennen, so wie wir selbst es alle mal mehr, mal weniger sind. Christine ist sogar noch in ihrer Schwäche kämpferisch. Das aber sind die wenigsten von uns, die wir Bücher in Händen halten, die von Menschen wie ihr handeln. Eben darum ist sie uns nicht nur eine literarische Figur, sondern ein Vorbild, das, wie man schließlich gewahr wird, doch zur Identifikationsfigur taugt. Fristet sie ihr Leben auch im Kerker ihres Peinigers, so ist sie keineswegs auf die Figur und das Klischee des Opfers reduziert. Erwacht sie uns doch gerade in ihrem Todeskampf zum Leben. Mag Bürger es auch ganz anders sehen, seine Gefangene ist das Subjekt in ihrer Beziehung; er, der Herr, das Objekt – zwar nicht das ihrige, aber doch das seiner Begierden und seines Wahns. Zwar ist er von einer Gewalttätigkeit, wie sie sich brutaler kaum denken lässt. Dies ist er aber eben gerade darum, weil er keinerlei Macht über diejenigen besitzt, die er so sadistisch misshandelt, wie Hannah Arendt messerscharf analysieren würde. Während sich auch Elli Westphal, die zweite Gefangene, als ebenso findig wie tatkräftig erweist.

Der krankhaft misstrauische Psychopath Bürger wiederum vertraut nur ein einziges Mal jemandem – einem Geschlechtsgenossen natürlich – und wird prompt verraten. Dabei ist er einer jener Männer, die von einer Frau vor sich selbst gerettet werden möchten. Der Wunsch bleibt zur Befriedigung der Lesenden unerfüllt. Sollte es aber umgekehrt wirklich eines Mannes bedürfen, um Frauen zu befreien? Männer vom Schlage Bürgers jedenfalls sind und bleiben hoffnungslose Fälle – bis zum für sie bitteren Ende.

Titelbild

Karen Duve: Macht. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2016.
414 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710082

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