Der Logos des Kreuzes in der offenen Gesellschaft

Zu Christoph Böhrs „Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes“

Von Günther RütherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Rüther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem von Christoph Böhr herausgegebenen Sammelband „Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes“ thematisiert der Kieler Historiker und ehemalige Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Washington, Hartmut Lehmann, wie sich noch bis in die 1940er-, ja 1950er-Jahre hinein die evangelische und katholische Lebenswelt in Deutschland voneinander abgrenzten. Eheschließungen zwischen den beiden christlichen Religionen gehörten der Seltenheit an und wurden diskriminierend als „Mischehen“ bezeichnet. Als in Reutlingen, Lehmanns Geburtsstadt, 1880 die erste katholische Kirche gebaut werden sollte, kam es zu einem heftigen Protest der einheimischen evangelischen Christen, obwohl beide Religionen unter dem Kreuz als Zeichen des Glaubens standen. Dieses Beispiel veranschaulicht, wie schwer es Gesellschaften offensichtlich fällt, religiösen Pluralismus selbst dann mit einer Haltung des wechselseitigen Respekts, der Neugierde und der Anerkennung zu leben und mit Leben zu erfüllen, wenn sie sich so nahe stehen, wie es die beiden christlichen Religionen tun. Schließlich haben sie in der Kreuzigung von Jesus Christus und in der Bibel einen gemeinsamen, über 2000 Jahre gelebten Ursprung, auch wenn ihre Wege mit der Reformation auseinandergingen.

Von daher überrascht es nicht, dass der französische Philosoph Jacques Derrida (1930-2004) schon vor 20 Jahren in der Kompatibilität des westlichen  Demokratiemodells mit der islamischen Kultur eines der zentralen Zukunftsprobleme Europas sah. Der Islam mit seiner wachsenden politischen Dimension und das westliche Demokratiemodell mit seiner Trennung von Staat und Religion, dem säkularen Staatsverständnis und der Gleichstellung von Frau und Mann fügen sich nicht ohne Weiteres in einen gemeinsamen Werterahmen ein. Dies will bedacht sein. Die sich aus den  Religionen ergebenden kulturellen und religiösen Unterschiede stellen die über Jahrhunderte gewachsene politische Kultur der westlichen Demokratien auf die Probe – und zwar in einem viel größeren Ausmaß als dies mit der auch nicht einfachen Begegnung der christlichen Religionen vor gut 100 Jahren einsetzte. Jacques Derrida verweist nicht zuletzt aufgrund seiner französischen Erfahrungen auf diese Begegnung unterschiedlicher Kulturen. Als Jude spielte die Denkfigur des Ankommens in seinem Werk eine zentrale Rolle. Er deutete damit die Dimension der Herausforderung an, die sich jedem Einzelnen, aber auch staatlich und gesellschaftlich aus einem religiösen Pluralismus ergeben. Dies gilt umso mehr, wenn sie kulturell und theologisch aus sehr unterschiedlichen Wurzeln erwachsen sind und das Zeichen des Kreuzes weder kulturell noch religiös als Zeichen der Verständigung von beiden Seiten gleichermaßen empfunden wird. Schließlich ist nicht zu leugnen, dass das Kreuz viele Jahrhunderte nicht als Logos der Versöhnung, sondern als Abgrenzung verstanden wurde.

„Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes“ ist nicht vor dem Hintergrund der uns heute bewegenden Flüchtlingskrise in Deutschland und Europa geschrieben worden. Darauf wird im Einzelnen nicht näher eingegangen. Doch dazu weiß es uns dennoch eine Menge mitzuteilen. In seinem geistigen Zentrum steht Derridas Frage nach den jüdisch-christlichen Werten im säkularen Staat. Konkretisiert wird dieses Thema an der Debatte über das Kreuz in öffentlichen Einrichtungen. Von hier aus vermag es einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung und Verständigung in einer zunehmenden Verständigungs- und Orientierungskrise der postmodernen Gesellschaft zu leisten. Dies erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich, ist es aber nicht. Denn die Autoren sehen ihre Aufgabe darin, das Kreuz als religiöses und kulturelles Symbol zu erklären. Böhr schreibt in seiner grundlegenden, die zwölf vorangehenden Beiträge des Buches zusammenführenden Studie:

Die kulturell-säkulare Symbolik des Kreuzes zielt also mitnichten auf einen religiösen Herrschaftsanspruch des Christentums. Im Gegenteil. Sie verweist auf ein Menschenbild, das dem Recht des Menschen einen höheren Rang zuweist als jedem anderen Recht. Sie fordert dazu auf, den Menschen als Menschen – unabhängig von seinem Denken, seinem Glauben und seinem Handeln – zu bezeugen.

Dieses Bekenntnis zur Toleranz mündet aber nicht in einer weltanschaulichen Beliebigkeit der Autoren. Vielmehr verbindet sie mit den Worten von Eugen Biser die Vorstellung, dass das Christentum eine „Religion der Angstüberwindung“ sei. Denn erst mit „Jesus brach sich die Erkenntnis Bahn, dass Freiheit kein Privileg Einzelner oder einzelner Gruppen, sondern das Anrecht eines jeden ist, der Menschenantlitz trägt“.

Damit rückt der zentrale Gedanke des modernen, demokratischen Verfassungsstaates in einer offenen Gesellschaft in den Mittelpunkt der Betrachtung: die Würde des Menschen. Hier treffen die christliche Glaubens- und die moderne Lebenswelt unmittelbar zusammen. Der demokratische, von diesem Grundverständnis geleitete Staat darf grundsätzlich keine Glaubensbekenntnisse bevorzugen oder gar diskriminieren, aber das Neutralitätsgebot endet dort, wo dieser Grundwert infrage gestellt wird. Deshalb birgt die Ablösung des modernen Rechtsstaats von seinem religiös-kulturellen Bezugsrahmen die  Gefahr der Selbstzerstörung in sich. „Neutralität im engen Sinne bloßer Indifferenz kann es demnach für den Staat sowohl wegen der Differenzierung zwischen wie auch wegen der engen Verknüpfung von Staat, Gesellschaft und Religion nicht geben“, schreiben die Rechtswissenschaftler Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsburg. In eben diesem Sinne plädiert der Herausgeber dafür, das Kreuz nicht nur als religiöses Symbol zu deuten, sondern ebenso als ein kulturelles Zeichen, eine „epistologische Signatur einer liberalen Demokratie“. Wer in diesem Sinne das Christentum als ein Geschenk an unsere moderne liberale politische Kultur deutet, wie es Eugen Biser nahelegt, der fühlt sich aufgefordert, dem Fremden mit Respekt zu begegnen, gleich welcher Religion er angehört. Aber er steht auch in der Pflicht, das Kreuz als Zeichen der Freiheit, Toleranz, Solidarität und der Menschenwürde zu verteidigen.

Der Sammelband richtet sich an Philosophen, Theologen, Juristen, Historiker, Kultur- und Politikwissenschaftler sowie Publizisten. Er ist aber nicht nur etwas für die „gelehrte Welt“, sondern auch ein Gewinn für den ambitionierten Leser, dem das Freiheitsverständnis und die gewachsene liberale politische Kultur unserer westlichen Zivilisation nicht gleichgültig sind. Bei der Lektüre trifft er auf ganz unterschiedliche Sichtweisen aus religiöser, philosophischer und juristischer Perspektive. Dies bedeutet aber nicht, dass es den Autoren an einem eindeutigen Standpunkt mangelt: es ist der Standpunkt des sich zu unserer jüdisch-christlichen Kultur bekennenden Menschen in unserer Zeit. Offenheit und Toleranz ersetzen nicht Überzeugungen. Dieses Buch vermittelt den Eindruck, als seien sie ihre Grundvoraussetzung.

Titelbild

Christoph Böhr (Hg.): Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes. Das Symbol, seine Anthropologie und die Kultur des säkulären Staates.
Springer Verlag, Wiesbaden 2015.
357 Seiten, 59,99 EUR.
ISBN-13: 9783658111977

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