Neues zu Heinrich Heine?

Lydia Fritzlars Studie vermag nicht zu überzeugen

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Heine zählt heute zu einem der wichtigsten deutsch-jüdischen Autoren der Moderne und – anders als früher – unbestritten zum Kanon. Bereits seit 1962 erscheint das Heine-Jahrbuch. An ihn erinnert seit 1970 ein gleichnamiges Institut in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt, die zugleich sein Geburtsort war. Der Streit um seine Denkmalwürdigkeit ist ebenso Geschichte wie der Streit um die Namensgebung staatlicher Bildungseinrichtungen, denn im Jahr 1988 wurde die Düsseldorfer Universität nach ihm benannt. Neben einer internationalen gibt es inzwischen eine ansehnliche deutsche Heine-Forschung, auch wenn, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Forscher hierzulande erst in den 1980er-Jahren begannen, sich mit Traditionen jüdischer Kultur in Heines Denken zu befassen.

Jetzt hat sich eine im Jahr 2010 am Fachbereich Germanistik der Universität Potsdam angenommene und 2013 in Buchform publizierte Doktorarbeit den Spuren jüdischer Kultur in Heines Texten erneut zugewandt. Lydia Fritzlar, die Autorin von „Heinrich Heine und die Diaspora. Der Zeitschriftsteller im kulturellen Raum der jüdischen Minderheit“, konzentriert sich ganz auf Heine. So recht erschließt sich allerdings nicht, weshalb sie ihn einen „Zeitschriftsteller“ nennt. Auch was der „kulturelle Raum der Minderheit“ genau bezeichnet, lässt sich nur mutmaßen. Selbst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die jüdische Minderheit politisch und sozial zu heterogen, um einen gemeinsamen „Raum“ – und sei es auch nur metaphorisch – ausbilden zu können, denn die juristische und daraus folgende gesellschaftliche Diskriminierung, die Verfolgungen, selbst gemeinsame kulturelle Traditionen können nur gemeinsame Interessen und Praktiken begründen. Jedenfalls soll offenkundig gezeigt werden, dass und wie Heine den vom religiösen zum kulturellen gewandelten Diaspora-Begriff in seinen Texten literarisch verarbeitet hat. Leider gibt es in dieser Doktorarbeit weder Fragestellungen noch Thesen.

Schon beim flüchtigen Blick ins Literaturverzeichnis vermisst man Standardwerke wie Manfred Windfuhrs ein wenig in die Jahre gekommene, aber lesenswerte Heine-Biografie oder aber Jeffrey L. Sammons vorzügliche Studienbiografie mit ihren zahlreichen bibliografischen Hinweisen sowie ferner das im Jahr 2000 erstmals von Andreas B. Kilcher herausgegebene „Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“. Exzellent dagegen ist die Auswahl der Bücher von Shulamit Volkov, Michael A. Meyer und Christoph Schulte für den kulturhistorischen Kontext. Doch werden alle drei Autoren auf den ersten 70 Seiten sehr ausführlich referiert, obwohl ihre Arbeiten, anders als schwer zugängliche Schriften, für jedermann leicht verfügbar sind. Und sie werden bei Fritzlar behandelt, als handelte es sich um die historischen Prozesse selbst – als noch dazu gewissermaßen ‚fixer‘ Hintergrund – und nicht um ihre Darstellungen, vorzügliche zwar, aber eben Deutungen und Wahrnehmungen von Historikern und Kulturwissenschaftlern. Dagegen erstaunt das Fehlen von Standardwerken zum Antijudaismus und zum Frühantisemitismus, besonders zur antijüdischen Gewalt zu Heines Lebzeiten. Dabei gibt es gerade zu diesem Thema mit den Arbeiten von Jakob Katz und Stefan Rohrbacher lesenswerte Standardwerke. Rohrbacher hat daneben gemeinsam mit Michael Schmidt eine überaus informative Studie zur europäischen Kulturgeschichte von „Judenbildern“ verfasst. Immerhin hatten die berüchtigten Hepp-Hepp-Unruhen von 1819 die Gründung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ orchestriert, in dem Heine sich zeitweise engagierte.

Heines Fragment „Der Rabbi von Bacherach“ entstand im Kontext seiner Mitarbeit im Kulturverein. Für Fritzlar ist das einer der zentralen Bezugspunkte. Doch zum „Rabbi“-Fragment (1824/1840) – wie im Übrigen bei allen anderen Heine-Arbeiten – referiert sie mit irrelevanten Abweichungen und ohne eigene Einsichten erneut nur ausführlich die Forschungsliteratur (unter anderem Bernd Witte, Regina Grundmann, Anne-Maximiliane Jäger). Dabei wären gerade hier Fragen nach der spezifisch literarischen Verarbeitungsweise der historischen antijüdischen Ritualmordlegende um Werner von Oberwesel, der in der Karwoche des Jahres 1287 verschwand, angeblich als Leiche in ein Boot verfrachtet und rheinaufwärts nach Bacharach befördert worden sein soll, das dann zum Wallfahrtsort wurde.    

Darum „Bacharach“ – Heine buchstabiert konsequent „Bacherach“ und hält sich auch sonst nicht an die historische Vorlage –, darum der Sederabend – seit Jahrhunderten nutzen Judenfeinde mit Vorliebe wichtige jüdische Feiertage, um Juden zu attackieren, zuletzt Günter Grass an Pessach 2012, und zu Heines Zeit lebten die alten Ritualmordlegenden im Rheinland wieder auf wie etwa in Dormagen 1819, dem Gründungsjahr des Kulturvereins in Berlin, als die jüdische Gemeinde gerade das Laubhüttenfest feierte. Darum ist auch die Publikation des „Rabbi“-Fragments 1840 auffällig, als die Ritualmordlegende in der Damaskusaffäre reaktiviert wurde, über die Heine ausführlich in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ berichtete, und die auch die jüdischen Gemeinschaften in Europa beunruhigte. Lokal spielten judenfeindliche Ritualmordlegenden in Europa bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert eine Rolle (Anderl-Kult); in der arabischen Welt und im Iran haben sie bis heute Hochkonjunktur (Israel als „Kindermörder“).

Doch auch an Fragen der Analyse ästhetischer und feuilletonistischer Texte hat Fritzlar nicht das geringste Interesse, obwohl oder vielleicht gerade weil das Wort „Schreibweise“ auffällig oft vorkommt. Das zeigt auch Fritzlars merkwürdiger, jedenfalls alles andere als literaturwissenschaftlicher Umgang mit Versen aus Heines „Lyrischem Intermezzo“ im „Buch der Lieder“ (1827), die Bezeichnungen wie den „Norden“ und das „Morgenland“, eine „Fichte“ und eine „Palme“ enthalten. Fritzlar liest diese Zeilen als „Gleichnis für den Zwiespalt des noch immer in der Peripherie der Mehrheitsgesellschaft lebenden akkulturierten Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts“, als „literarische Verbildlichung jüdischer Diaspora“ und „Morgenland“ wie „Palme“ als das „verheißene Ursprungsland der Juden, Erez Israel“. Hier gerät Heine geographisch-kulturell ebenso essentialistisch wie homogenisierend zum angeblichen Sprachrohr der jüdischen Diaspora und Minderheit mit einem „Morgenland“ als faktischem Herkunfts- und erträumten Zielort. Sowohl die verzerrte Deutung und ihre Implikationen als auch die Willkür und die methodische Schwäche treten hier besonders zutage: Bei Fritzlar soll auf Biegen und Brechen ein deutsch-jüdischer Autor am Beginn des 19. Jahrhunderts rückwirkend auf eine Agenda und eine Programmatik mit einem Vokabular verpflichtet werden, die beziehungsweise das seit den 1990er-Jahren die Minderheiten- und Identitätspolitik in Deutschland auszeichnen. Es ist das Vokabular der sozialen Bewegungen und postkolonialen Studien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückprojiziert auf die erste Hälfte des 19. Jahrhundert. Heines (kultur-)historischem Kontext und seinen Texten bleibt dergleichen äußerlich. Allein schon mit Begriffen wie „Mehrheitsgesellschaft“, „marginalisierte Stimme“  oder „Minderheitendiskurs“ lassen sich die gesellschaftlichen, juristischen, politischen und sozialen. Bedingungen nicht angemessen erfassen und beschreiben.

Zu Heines Zeiten waren der Alphabetisierungs- und Literarisierungsgrad im Vergleich zu heute denkbar gering, gab es keinen Nationalstaat – man registriert bei Fritzlar mehrfach verwundert die Wendung „der Staat“ –, keine allgemeine Gesetzgebung, keine allgemeine und vor allem keine konfessionslose Schulbildung, überwiegend agrarische und feudale Strukturen et cetera. Wer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bücher schrieb, gehörte in der deutschsprachigen Gesellschaft zu einer Minderheit innerhalb einer akademisch gebildeten Minderheit. Wenn sich Heine gelegentlich unterschiedslos für die Emanzipation verschiedener Minderheiten und ‚Unterdrückter‘ einsetzte, dann war das eine politische Forderung und keine deskriptive Aussage. Zudem scheint sich Fritzlar „Mehrheit“ und „Minderheit“ recht monolithisch vorzustellen, wie Blöcke, die aufeinanderprallen und für die jeweils einzelne Autoren als Repräsentanten zu sprechen scheinen.                          

Auch die heute geläufige Diaspora-Diskussion, die Fritzlar gut referiert und durch Zitate belegt, ist nicht auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts applizierbar. Zudem ist seit der Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstandes durch die Römer im Jahr 135 unserer Zeitrechnung und bis zur Staatsgründung Israels im Jahr 1948 so ziemlich alles, was Juden hervorgebracht haben, unter den Bedingungen der Diaspora entstanden, weshalb nicht einleuchtet, wieso gerade Heinrich Heine „exemplarisch“ für eine angeblich „diasporische Schreibweise“ sein soll und worin genau deren Spezifika besteht. Dass Heine im „Rabbi“-Fragment einen Sederabend – zu den Gründen siehe oben – gestaltet und mit ihm einen „Ursprungstext“ ‚kommentiert‘, ist eine These von Bernd Witte, den Fritzlar zitiert, um ihn anschließend zu überbieten. Doch das ist erstens ein inhaltliches Argument und zweitens ‚kommentiert‘ seit der Intertextualitätstheorie so gut wie jeder literarische Text ‚Ursprungstexte‘. Goethe etwa in der Rahmenhandlung des „Faust“ das Buch Hiob. Und so wie bei Fritzlar die Arbeiten heutiger Historiker und Kulturwissenschaftler die (kultur-)historischen Prozesse nicht etwa darstellen, sondern eins zu eins gleichsam abzubilden scheinen, die Heines Texte dann nur noch „exemplarisch“ – ein viel gebrauchtes Lieblingswort Fritzlars – bestätigen, liest sie auch Heines „Memoiren“ wie die Angaben in einer Personalakte und nicht wie die für alle Egodokumente typischen Darstellungen mit Zuspitzungen, Stilisierungen und gelegentlichen Fiktionalisierungen. Wenigstens darauf hätten ihre Betreuer die Doktorandin hinweisen können.

Neues bietet Lydia Fritzlar indes nicht. In ihrer Arbeit verfährt sie eher kompilatorisch. Man vermisst überdies schlichtes literatur- und kulturwissenschaftliches Handwerk. Es hilft wenig, bekenntnishaft viel Wind um neuere Ansätze zu machen oder Begriffe zu strapazieren, die man nicht zu praktizieren vermag oder die schlicht nicht anwendbar sind. 

Titelbild

Lydia Fritzlar: Heinrich Heine und die Diaspora. Der Zeitschriftsteller im kulturellen Raum der jüdischen Minderheit.
De Gruyter, Berlin 2012.
300 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110271737

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