Wie man sich in den Olymp schreibt: Ein neuer Sammelband zum Thema „Arno Schmidt und der Kanon“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nachkriegsliteratur ist in die Jahre gekommen. Ihre Protagonisten haben, wie Günter Eich und Hilde Domin, ihren 100. Geburtstag schon hinter sich, er steht kurz bevor, wie bei Heinrich Böll (geb. 1917) und Ilse Aichinger (geb. 1921), oder sie sind zumindest hochbetagt, wie Martin Walser (geb. 1926) und Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929). Zu den runden Jubiläen ziehen Forschung und Feuilletons Bilanz. So auch bei Arno Schmidt, dessen Geburt sich 2014 zum 100. Mal jährte. Im Unterschied zu Böll, Walser, Siegfried Lenz, Ingeborg Bachmann oder Günther Grass gilt Schmidt allerdings als Außenseiter, der sich vom Literaturbetrieb der Gruppe 47 und ihres Umfelds bewusst distanzierte.

Der Sammelband Arno Schmidt und der Kanon, den Axel Dunker und Sabine Kyora nun herausgegeben haben, trifft den Kern von Schmidts Œuvre, und er fasst seinen eigenen Titel doppelt auf: Zum einen fragt er nach Schmidts Umgang mit dem Kanon. In der Zeit einer bewusst apolitischen Goethe- und Schiller-Verehrung, die das kulturelle Leben der Bundesrepublik bis etwa 1965 prägte, versuchte Schmidt in seinen Dialogen, ihnen andere, aus seiner Sicht rebellischere Autoren wie Christoph Martin Wieland und Karl Philipp Moritz an die Seite zu stellen, das öffentliche Bild von anderen wie Friedrich Gottlob Klopstock, Ludwig Tieck oder Karl May zu korrigieren, oder vergessene oder verkannte Autoren wie Johann Karl Wezel und Friedrich de la Motte-Fouqué zu popularisieren. Was war eigentlich Schmidts eigene Auffassung des literarischen Kanons? Und welche Rolle spielen seine literaturtheoretischen und -historischen Arbeiten bei seinem Unternehmen, sich selbst an die Spitze des Kanons zu schreiben? Wie sah Schmidt seine eigene Rolle in der Nachkriegsliteratur und warum beschäftigten sich seine essayistischen Arbeiten nur selten mit der Literatur seiner eigenen Zeit?

Zum anderen bedeutet die Frage nach Arno Schmidt und dem Kanon, was von diesem Autor in der heutigen Literatur geblieben ist – wer hat ihn rezipiert und für seine eigene Arbeit produktiv gemacht? Spuren der Rezeption sind bei Uwe Timm, Walter Kempowski und Elfriede Jelinek ebenso nachweisbar wie bei nord- und südamerikanischen Autoren, zum Beispiel dem „House of Leaves“-Autor Mark Z. Danielewski oder dem auch in Deutschland geschätzten Roberto Bolaño. Wie sind diese Autoren mit Schmidts Erbe umgegangen, ohne seinen Stil zu imitieren? Wo liegen Anschlüsse an die Arbeitstechniken des Autors?

Diese und andere, mit ihnen verwandte Fragen stellen die 17 Beiträge des Bandes. Sie gehen auf eine Tagung zurück, die die beiden Herausgeber im September 2014 in Bremen veranstalteten. Dabei waren viele führende Köpfe der Schmidt-Forschung aus der universitären Germanistik vertreten, einige von ihnen in Personalunion Mitarbeiter von literaturkritik.de, weshalb hier nicht der Ort für eine detaillierte Rezension ist. Nur so viel: Wichtig an diesem Band bleibt, dass Schmidt nicht als unvergleichbarer Solitär gesehen und damit der Kritik entzogen, sondern in einen breiten Kontext der Nachkriegsliteratur und der literarischen Avantgarde von Marcel Proust und James Joyce bis hin zu David Foster Wallace betrachtet wird.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeitern der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Axel Dunker / Sabine Kyora (Hg.): Arno Schmidt und der Kanon.
edition text & kritik, München 2015.
290 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783869164410

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