Untertauchen in Japan

Über Thomas Reverdys Reisekrimi „Die Verflüchtigten“

Von Wolfgang HerbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Herbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein als „japanischer Roman“ bezeichnetes Werk, das schon in seinen ersten Zeilen mit einer Anspielung auf Samurai und Selbstmord aufwartet, lässt nichts Gutes ahnen. Die weitere Lektüre hingegen belehrt eines Besseren – und fesselnd ist sie obendrein.

Das Personal besteht im Wesentlichen aus (in der Reihenfolge ihres Auftretens): Kazehiro, aka „Kaze“, ein gestrandeter Banker, der wegen faulen Investments Probleme mit der japanischen Spielart der Mafia, der Yakuza, hat und untertaucht. Richard B., ein vorgeblicher Dichter-Detektiv, der leicht traumwandelnd durchs Leben schwebt. Yukiko, die Tochter von Kaze, die seit 15 Jahren in San Francisco lebt, gerne Schauspielerin wäre und kellnert. Sie bleibt seltsam transparent bis auf ihr Haar, das exzessiv beschrieben wird und bei Richard B., ihrem Ex-Freund, zur Obsession wird. Zu erwähnen ist noch Akainu, ein pfiffiger Teenager, der nach dem Super-GAU von Fukushima seine Eltern aus den Augen verloren hat und nach Tokyo gedriftet ist. Er verdingt sich dort im Tagelöhnerviertel San’ya mit Gelegenheitsjobs. Dort begegnet er später Kaze, mit dem er nach Fukushima zurückkehrt. Damit sind auch gleichzeitig die wichtigsten Schauplätze vorgestellt. Mit den vier Protagonisten ergeben sich vier Erzählstränge, die kunst- und trickreich ineinander verwoben werden. Und um die Verstrickungen und Lösungen der Verbindungen dieser Viererbande dreht sich Reverdys Roman, der einiges offen lässt. Es geht ja schließlich um das Verduften, das titelgebende Sich-Verflüchtigen (jap. jôhatsu), das heißt das inszenierte Verschwinden von Menschen.

Bei seinem ersten Auftritt spricht Richard über seine fast zwanghaften Routinen und wie diese durchbrochen werden können vom „unwahrscheinlichsten Zufall, und das war für ihn eine Art Definition des Wunders“. Viel später heißt es von ihm, er „müsse das Wunder lieben. Den magischen Moment, in dem eine Möglichkeit Wirklichkeit wird, deren Verwirklichung ihrer statistischen Wahrscheinlichkeit massiv widerspricht“. Das kann fast als Motto dieses Romans gelten. Unglaubwürdigkeiten können so zum magischen Zufall umkonstruiert werden. Wie etwa eine Pistole, die Kaze von seinem Vater samt Patronenschachtel geerbt hat und aus der unglücklicherweise ein Schuss so abgefeuert wird, dass ein Rechtsanwalt stirbt. Normalerweise tragen Privatpersonen in Japan keine Pistolen mit sich herum. Aber wir befinden uns ja in einem Krimi mit einem geschickt gestrickten Plot. Und in einer tragikomischen Liebesgeschichte zwischen Richard B. und Yukiko.

Yukiko macht sich auf die Suche nach ihrem Vater und zu diesem Behufe auf nach Japan. Dorthin nimmt sie ausgerechnet Richard mit, mit dem sie nur noch freundschaftlich verbunden sein will und stellt ihn als Privatdetektiv an. Doch was für eine Hilfe soll dieser ihr nun sein – des Japanischen nicht mächtig und zum ersten Mal auf den japanischen Inseln? Aber Richard B. – in Anspielung auf Richard Brautigan, einen nahezu vergessenen Poeten aus der Hippie-Zeit – eignet sich grandios dazu, der Verstörtheit und dem Verlorensein eines weißen Fremden in Japan Ausdruck zu verleihen. Seine Lage charakterisiert er damit, „auf sozialem Terrain blind und taubstumm zu sein, blind, weil man kein einziges Zeichen lesen kann, und taubstumm in der Kommunikation mit Menschen“.

Außerdem darf diese Romanfigur straffrei etlichen Klischees ausgesetzt werden und diese auch ohne Haftung verbreiten: „Alle Klischees über Japan stimmen, sogar die, die einander widersprechen” deklariert der Autor und scheut sich folgerichtig nicht, uns mit solchen und exotistischen Seltsamkeiten zu konfrontieren. Dies beginnt bereits kurz nach der Ankunft Richards mit dem Verspeisen von lebendigen Fischlein, die noch munter im Munde zucken und quirlig die Speiseröhre hinunterzappeln – als ob man das in Japan täglich zum Frühstück äße! Unumgänglich scheint der Hinweis, dass die Japaner seinen Namen nur zu einem „Lichaado“ verfremden könnten. Freilich haben sie Probleme mit der Unterscheidung der R-L-Opposition, können aber ein „R“ sehr wohl artikulieren, wenngleich nicht nach französischer Façon. Im Roman kommt auch der bereits reiseführerstereotype Hinweis auf die Vielzahl der Zahlwörter im Japanischen, die Richard zur Verzweiflung bringen und ihn seinen Sprachkurs abbrechen lassen.

An der Sprache ist aber nicht nur die Romanfigur, sondern auch der Autor selbst gescheitert, trotz ausführlichem Glossar, in dem jedoch viele im Text auftretende Termini nicht zu finden sind. Das eklatanteste Beispiel eines linguistischen Lapsus ist shittagate, das andernorts orthographisch als shitagatte zu finden ist und „So ist es eben“ heißen soll (wenn schon, dann hieße es „folglich“). Gemeint ist gewiss shikata ga nai, zu übersetzen mit „Da kann man nichts machen“. Eine Formel übrigens, die zur Selbstbeschwichtigung und gegenseitiger Tröstung nach Desastern wie dem von Fukushima allerorts vernehmbar war. Verschonen können hätte Reverdy seine Leser außerdem mit dem Hinweis auf den bushidô, den „Weg des Kriegers“, einem Ehrenkodex, an den sich bis heute das Individuum und die Gesellschaft halte. Dabei handelt es sich jedoch um eine erfundene Tradition par excellence, deren Idealisierung indes den Japanern selbst so sehr imponiert wie den unbedarften Ausländern. Zum exotischen Dekor gehört auch eine Szene, in der mit einer kräftigen Prise karikaturesker Komik beschrieben wird, wie man den Verbeugungsreflex der Japaner auslösen und überstrapazieren kann.

Wie bei vielen Japan-Romanen spürt man auch diesem an, dass der Autor seine Reisenotizen und vor Ort erworbenes Wissen über Land und Leute darin unterbringen will. Das wirkt dann oft konstruiert und gekünstelt. Und ist wohl der Grund dafür, dass sich die Bösewichte im Gion-Viertel von Kyôto treffen, der berühmtesten Geisha-Enklave Japans – kleine, mit hohen Stimmen flötende geiko (Geisha-Azubis) mit gepuderten Gesichtern und blumig duftenden Kimonos dürfen daher nicht fehlen. Ein Freund von Yukikos Vater muss hinwiederum ausgerechnet im Tempel des heiligen Zen-Narren Ikkyû Mönch geworden sein, um dem Leser etwas über diesen Ort, diesen Exzentriker und die Teezeremonie erzählen zu können – was Reverdy indes bravourös tut. Auch verläuft sich Richard in Tokyo unfehlbar nach Ueno, damit der Autor seine Journalaufzeichnungen über die Obdachlosen abliefern kann. Und die Art und Weise, wie die ehemaligen Schulkameradinnen Yukikos über die diversen Spielarten des Sich-Verflüchtigens diskutieren, vermittelt den Eindruck, hier würden soziologische Recherchenotizen dialogisch ausgewertet. Um über die Soft-Porno-Industrie und die Yakuza berichten zu können, tritt „Pinky“, ein ehemaliger Regisseur aus dieser Branche auf. Eines muss hier zur Verteidigung des Autors aber angefügt werden: Die Beschreibungen von Stadtansichten, Landschaften, Tempeln, Bars und sonstiger Örtlichkeiten sind immer dicht und von hoher poetischer Kraft.

Alles Klischeehafte verflüchtigt sich bei der Darstellung des Tagelöhnerviertels und seiner Bewohner, und auch bei der Beschreibung Fukushimas nach der Havarie. Diese ist in einer Weise authentisch, wie es nur nach genauem Augenschein möglich ist. Auch die Bilder aus dem Sperrgebiet und dem Reaktor-Umfeld sind gespenstisch, beklemmend und erschreckend akkurat gezeichnet. Hinzu kommt, dass der Autor es beherrscht, Fakten, die er uns vermitteln will, in den Mund von Leuten aus dem entsprechenden Milieu zu legen. So erzählt ein ehemaliger Ingenieur der Betreiberfirma Tepco seine Erlebnisse direkt nach der Dreifach-Katastrophe Erdbeben, Tsunami und Reaktoren-Meltdown. Nach allem, was wir heute wissen, ist dabei nichts erfunden oder übertrieben. Die Inkompetenz, das Dilettantenhafte, die Lügen und Informationsmanipulation, die Vertuschungsversuche und Klüngelei der Regierung mit Atombehörde und Tepco, die ganze Panik und Gelähmtheit werden faktenhart geschildert.

Was hingegen die Fantasien Reverdys in Bezug auf die Allmacht der Yakuza und einen Schatten-Schogun angeht, der hinter den Kulissen alle Fäden zwischen Politik und Wirtschaft ziehe, das klingt schon sehr nach Verschwörungstheorie. Den greisen Schatten-Schogun lässt er die kryptische Aussage machen: „Japan verzeichnet seit der Katastrophe ein Wachstum von vierhundert Prozent.“ Wo bitte soll das sein – in der Wirtschaft, bei den Krebsraten? Über die Yakuza schwadronieren darf „der alte Franzose“ (realiter wohl der Journalist Philippe Pons), der schon ewig in Japan lebt und ein wackerer Trinker ist. So deklariert er, dass das ganze Land von den Politikern an die Yakuza („das Syndikat“) verkauft sei und sie überall ihre Finger drin habe. Solche und ähnliche Überschätzungen ihrer Macht und ihres Einflusses mögen der schriftstellerischen Imagination (oder dem Alkohol) geschuldet sein.

Einen Roman an der Realität zu messen, mag ungerecht sein. Der Autor hingegen nennt sein Buch in einer eigens angehängten Anmerkung eine „Dokumentation“. Und weiter: „Alles, was hier erzählt wird, ist wahr.“ Somit erlaube ich mir noch ein Detail am Rande aufzugreifen: Yakuza in schwarzen Rollkragenpullovern. Und die sollen wieder dazu dienen, ihre Tätowierungen zu verdecken. Wo hat der Autor nur diesen drolligen Unfug her? Zum Verdecken genügt ein Hemd. Bei Reverdy sind ausnahmslos alle Yakuza tätowiert und als Rollkragenpulloverträger erkennbar. Und das wird penetrant betont. Mit der Gleichsetzung Yakuza = Hautbilder sitzt er dem gängigen Vorurteil auf, das in Japan grassiert. Großflächig hautverziert waren historisch besehen niemals nur die Yakuza. Und das gilt heute mit der Tattoo-Mode in gewissen jungen Szenen umso mehr. Im Übrigen sind und waren laut Polizeidaten stets rund ein Drittel der Yakuza nicht hautdekoriert. Apropos Gangster: Auch wenn die Story hart an einem B-Movie-Szenario vorbeischrammt und sich mit Mord und Totschlag an die Krimi-Mode andient, ist dieser Roman dennoch hohe Literatur.

Es gibt da die Kapitel der „Träume“: das sind bunte Tapisserien, Schwaden von Bildern, als wären sie durch die Inhalation halluzinogener Kräuterdämpfe evoziert, Rhapsodien über Landschaften, die Natur und die Leute, die sich darin tummeln, Schilderungen von enormer dichterischer Wucht. Und eine erotische Szene stellt er dar, hautnah, körperwarm. Sie wird mit brodelnder Intensität heraufbeschworen, nirgends vulgär, vielmehr zärtlich und behutsam und schlicht schön. In solchen Szenen zeigt der Autor, dass er sein schriftstellerisches Handwerk auf exquisite Weise beherrscht. Er hat einen Weg gefunden, die Post-Fukushima-Zustände und die Lebensumstände der von der Katastrophe am meisten Betroffenen zu schildern – ohne Schaulust, ohne Lamento, ohne Pathos, dafür mit scharfer Linse, viel Hingabe und Einfühlungsvermögen. Das ist geglückt. Allein dafür lohnt es sich, „Die Verflüchtigten“ zu lesen.

Titelbild

Thomas Reverdy: Die Verflüchtigten. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
Berlin Verlag, Berlin 2016.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827012227

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