Jahrhundertgenie, Bürgerschreck, Chaot und ewiges Kleinkind

Henning Albrecht legt mit „Horst Janssen. Ein Leben“ eine großartige Biografie des Hamburger Zeichners und Grafikers vor

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Zu zweit bin ich eine Katastrophe – ich kann nicht allein sein.“ Mit diesem Satz brachte Horst Janssen einmal sein Lebensdilemma auf den Punkt. Er war eine Zumutung. Ein wandelndes Desaster. Eine tickende Zeitbombe. Und er war ein Ausnahmekünstler, in seinem Metier einzigartig und in seiner Produktivität unerreicht. Der Historiker Henning Albrecht legt nun bei Rowohlt die erste umfassende Biografie des Zeichners und Grafikers vor. Das Buch ist ein Glücksfall.

Auf 700 gut lesbaren Seiten widmet sich Albrecht dem Leben Janssens. Die Herkunft als uneheliches und ungewolltes Kind in Oldenburger Kleinbürgerarmut, zwischen kalter Mutter und überforderten Großeltern wechselnd, dann nach Haselünne in ein Napola-Internat ausgelagert. Der Vater ist lebenslang eine Leerstelle. Die Mutter stirbt, als Janssen 13 Jahre alt ist; fortan sorgt deren Schwester für ihn, und zwar bis an ihr Lebensende. Horst Janssen bleibt innerlich ein traumatisiertes, unentwickeltes Kind: verantwortungslos, unsicher, verängstigt, ungeregelt, maßlos, endlos verspielt, theatralisch, dabei auch wach und einfühlsam. Ein Egozentriker, ein klassischer Borderliner, der früh schon seine inneren Ängste mit Alkohol zu dämpfen versucht oder durch Aggressionen auslebt.

Nach dem Krieg gerät er durch glückliche Fügung an die Hamburger Kunsthochschule, Alfred Mehlau wird sein Lehrer und Förderer, Paul Wunderlich und Reinhard Drenkhahn seine Freunde und Konkurrenten. Er ist von Anfang an Zeichner, stets gegenständlich. Die frühen 1950er-Jahre werden seine wildeste Zeit – bis hin zu einem Messerangriff auf eine Geliebte aus Eifersucht, wofür er für einige Wochen ins Gefängnis geht.

Sein Durchbruch als Künstler gelingt 1965 mit einer Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft Hannover. In Hamburg („Scheißstadt“) bekommt er noch Jahre später keine große Einzelausstellung. Man kennt ihn zwar und schätzt ihn auch, fürchtet aber seine Auftritte. Janssens skandalöse Ausfälle sind Stadtklatsch und die Presse giert nach dieser „unterhaltsamen sozialen Devianz“.

Im Suff ist er beleidigend, gewalttätig, unerträglich. Wenn eine Beziehung zu Ende geht, sorgt Janssen mit vehementer Aggression dafür, dass die Frau ihn verlässt. Ebenso grenzenlos ist er, wenn er um eine neue Frau wirbt – Geschenke, Huldigungen, Einladungen, Anrufe, Heiratsanträge. Er hungert sich 20 Kilo herunter, um attraktiver zu wirken, entsagt sogar dem Alkohol (für eine Weile). Ihm ist es egal, ob er Ehen zerrüttet. Doch eine Beziehung führen, das kann er nicht; für seine Frauen ist er stets eher ein Pflegefall.

Seine äußere Erscheinung, in unzähligen Selbstporträts dokumentiert, übergesteigert und verzerrt, wird zu seinem Markenzeichen: wirres Haar, aufgeschwemmte Züge, ovale Brille, tastender Blick. Dazu Pudelmütze, Gummistiefel, Schlossermontur und ein volles Wasserglas Korn in der Hand. So inszeniert er sich selbst, ist laut, ungebärdig, peinlich bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus. Er ist, auch wenn er oft monatelang mit dem Rücken zur Stadt lebt, in seine Arbeit vertieft und nur für wenige Freunde ansprechbar – ein Hamburger Phänomen: der Mann vom Mühlenberger Weg 22.

In seiner Kunst jedoch ist Janssen akribisch, unbestechlich, ernsthaft, ein unermüdlicher Arbeiter. Er erobert sich früh den Holzschnitt, dann über Paul Wunderlich die Radierung, kommt zur Bleistiftkritzelzeichnung, in der er zum unbestrittenen Meister wird. Henning Albrecht gelingt es in seiner Biografie immer wieder, die grafische Arbeitsweise Janssens zu veranschaulichen:

Er erzielt Graustufen nicht durch Verreiben des Graphits, sondern durch tausende penibel gesetzte Striche – so fein, dass sie fast als geschlossene, stoffliche Flächen erscheinen. Das alles ohne jede Korrektur und ohne dass Lebendigkeit und Konzeption darunter leiden würden. Janssen häuft eine Unzahl von Details nebeneinander und erschwert so, das Dargestellte zu erkennen. Übersteigerte Präzision kippt ins Labyrinthische, Irrwitzige; Raum und Fläche fluktuieren. Wirrnis in feinster Ordnung. […] Strichnebel, Strichbündel, Strichwirbel, Strichstrudel – Strichstakkato, Strichelegie.

Auch Janssens schwieriges Verhältnis zum Kunstbetrieb wird nüchtern aufgefächert: Mit dem Beharren auf dem gegenständlichen Zeichnen passt er nicht in die Zeit der 68er, gilt als unpolitisch, als anti-modern. Die Bekanntschaften mit Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler rücken ihn zudem in eine konservative Ecke. Janssen ist das egal, er wendet sich Naturstudien zu und „kopiert“ alte Meister, als der Zeitgeist plakative Kunstaktionen und riesige Formate will. Die Kunstkritiker mögen ihn nicht; er hasst sie. Die Auftritte im Ausland verlaufen unglücklich und Janssen benimmt sich daneben. Es bleibt dabei: Er ist „weltberühmt in Hamburg“.

Fünf Jahre Recherche liegen diesem Buch zugrunde. Das ist spürbar – Henning Albrecht weiß, wovon er spricht. Mehr noch: Er kann erzählen, schreibt plastisch, ausdrucksstark und elegant. Ihm liegt nicht daran, eine Skandalchronik zu schreiben, geschweige denn eine Hagiographie. Er hält die nötige Distanz und verzichtet nie auf eine kritische Haltung zu Janssen. Mit zahlreichen Freunden, Feinden und Bekannten Janssens führte er Gespräche und hat sogar dessen Steuererklärungen ausgewertet. Aber er langweilt nicht, er rafft, wenn es nötig ist, gibt hingegen den Liebesgeschichten und den schöpferischen Phasen das angemessene Gewicht. Kurzum: Er macht neugierig auf diesen Künstler.

Am Schluss des Buches konstatiert der Biograf mit deutlichem Bedauern: „Heute, zwanzig Jahre nach seinem Tod, ist Horst Janssen ein nahezu Unbekannter, der Ruhm verweht, der Gefeierte fast vergessen. Der Szene und der Kunsthistorie gilt er nichts.“ Henning Albrecht und dem Rowohlt Verlag ist zu danken, dass Horst Janssen neu zu entdecken ist, sein Leben ebenso wie sein Werk.

Titelbild

Henning Albrecht: Horst Janssen. Ein Leben.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016.
719 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783498000912

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