Schreiben über das Unbeschreibbare

Der Band „Seit jenem Tag“ (1984) gibt Einblicke in die japanische Atombombenliteratur und beansprucht noch immer Aktualität

Von Christian ChappelowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Chappelow

Das ist ein Mensch (von Hara Tamiki)

Das ist ein Mensch
betrachte die durch die Atombombe bewirkte Veränderung:
der Körper
grauenvoll geschwollen
Mann und Frau
reduziert zu einerlei Gestalt
ach
aus dem schwarzgebrannten zerstörten Gesicht
kommt eine Stimme hervor
„bitte,
hilf mir“
schwache
stille Worte
das ist ein Mensch
das ist
das Gesicht eines Menschen

Der fünfte Jahrestag von „Fukushima“ bietet die Gelegenheit, ein Kapitel der japanischen Nachkriegsliteratur zu reflektieren: Texte, die die Atombombenabwürfe auf die Großstädte Hiroshima und Nagasaki literarisch dokumentieren. Der von Itô Narihiko, Wolfgang Schamoni und Siegfried Schaarschmidt 1984 beim S. Fischer Verlag herausgegebene Band Seit jenem Tag: Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Literatur bleibt die vorerst einzige Möglichkeit, sich diesem wichtigen Bereich der Literaturgeschichte in deutscher Sprache zu nähern.

„Genbaku bungaku“ – Literarische Zeugnisse der Atombombenabwürfe

Im Sommer 2015 war es 70 Jahre her, dass die ersten strategischen Einsätze von Nuklearwaffen am 6. beziehungsweise 9. August 1945 die Welt in eine neue Phase der Kriegsführung und des atomaren Schreckens geführt hatten. Mit Hunderttausenden Opfern und der Kapitulation des kaiserlichen Japans endeten damals auch die militärischen Expansionsbestrebungen des Landes; die Ära der japanischen Nachkriegsdemokratie unter der Ägide US-amerikanischer Besatzung nahm ihren Anfang.

Genbaku bungaku ist ein einzigartiges Genre der Katastrophenliteratur. Es setzt ein mit den Gedichten und Augenzeugenberichten von Überlebenden wie Hara Tamiki (1905–1951) oder Tôge Sankichi (1917–1953) und entwickelt sich in den folgenden Jahrzehnten mit namhaften Werken bekannter Schriftsteller wie Ôe Kenzaburô (*1935) und Ibuse Masuji (1898–1993) bis hin zu zeitgenössischer Atombombenliteratur nach der Jahrtausendwende. Atombombenliteratur stellt eine künstlerische Repräsentation des Atomzeitalters dar. Die ihr zugeordneten Texte vermochten es, die Atomkatastrophen zu veranschaulichen. Nicht selten stießen die Autoren dabei auf heftigen Widerstand seitens der nationalen Literaturelite oder gar der Zensur. Spätestens seit der Havarie am AKW Fukushima Daiichi im März 2011 und der Herausbildung einer „Post-Fukushima-Literatur“ wurde klar, dass die Thematik des Atomaren nicht nur eine historische ist.

Die Atombombenliteratur spiegelt einen größeren zeitgeschichtlichen Kontext im Spannungsfeld von Erinnerungskultur und Verdrängungsbestrebungen in Japan wider. Zentral ist vor allem die Problematik der Strahlenopfer (hibakusha),die jahrelang um gesellschaftliche Anerkennung und eine adäquate medizinische Versorgungslage kämpfen mussten. Dieser Problematik widmete sich an prominentester Front Japans zweiter Literaturnobelpreisträger Ôe Kenzaburô in seiner Essaysammlung Hiroshima nôto (engl. Hiroshima Notes, 1995), die 1965 beim Verlag Iwanami Shoten erschien. Ôe schildert darin seine Erfahrungen während mehrerer Hiroshima-Reisen Anfang der 1960er-Jahre, die er als Journalist unternahm.

Die Atombombenliteratur findet heute in Japan ein Forum unter anderem durch die 2001 gegründete „Society of Genbaku Literature“ (www.genbunken.net). Allerdings steht die Menge der vorhandenen Übersetzungs- und Forschungsarbeiten in keinem Verhältnis zur zeitgeschichtlichen Relevanz des Themas und der weiter steigenden Anzahl an Autoren und einschlägigen Texten in Japan. Der japanische Verlag Coalsack veröffentlichte 2007 eine Anthologie von 181 Verfassern alleine im Bereich Lyrik! Selbst (oder gerade) durch das Auftreten einer „Post-Fukushima-Literatur“ im Zeichen der atomaren Katastrophe beansprucht die Atombombenliteratur also weiterhin Aktualität.

Außerhalb Japans stellt die vom Japanologen John Whittier Treat herausgegebene Monographie Writing Ground Zero: Japanese Literature and the Atomic Bomb (1996) nach wie vor das Standardwerk dar, das zahlreiche Autorenstudien vereint. Im deutschsprachigen Raum fällt trotz der globalen Relevanz des Themas ein Mangel an Kommentaren zur Atombombenliteratur auf. Umso mehr lohnt ein Blick auf jene Texte, die auch dem Leser hierzulande durch Übersetzung verfügbar gemacht worden sind.

Die Anthologie „Seit jenem Tag“

Die Textsammlung Seit jenem Tag: Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Literatur beinhaltet 21 zentrale Texte der genbaku bungaku von 1945 bis in die frühen 1980er-Jahre. Der Fokus liegt dabei auf den früheren Texten dieses Genres. Neben Prosa ist die Vielzahl an Gedichten auffällig, wie das zu Beginn dieses Beitrags abgedruckte, im Kontext der Atombombenliteratur sehr bekannte Gedicht „Das ist ein Mensch“ von Hara Tamiki aus dem Jahr 1948.

Als ein Vertreter der ersten Generation, die über „Hiroshima“ und „Nagasaki“ schrieb, ist Hara Tamiki selbst Opfer: Mit 39 Jahren überlebte er den Atombombenabwurf auf Hiroshima im Haus seiner Eltern. Sein literarisches Schaffen ab 1945 ist als Versuch der sprachlichen Dokumentation und Verarbeitung des Erlebten zu bewerten.

„Das ist ein Mensch“ fragt nach Menschlichkeit im Angesicht der körperlichen Entstellung durch die Kernexplosion. Im japanischen Original wird das autoreflexive Moment einer sprachlichen Überforderung und die grundsätzliche Unbeschreibbarkeit durch die ausschließliche Verwendung der eckig-vereinzelten Katakana-Silbenschrift noch deutlicher; erst eine sprachliche Verfremdung mag annähernd in der Lage sein, das entmenschlichende Moment der nuklearen Ereignisse zu fassen. Zahlreiche der im Band versammelten Texte dieser ersten Generation von Atombombenliteratur, die ebenfalls schreckliche Szenen schildern, zeichnen sich durch eine ähnliche Schreibstrategie aus.

Hara Tamiki war durch den Tod seiner Frau, den Atombombenabwurf und die Angst vor einem neuen atomaren Schlag während des Korea-Krieges gesundheitlich beeinträchtigt und zunehmend mental labil. 1951, noch lange bevor seine Texte eine breitere Leserschaft erreichen konnten, nahm sich Hara Tamiki in Tôkyô das Leben; zunächst hatten der „Press Code“ der amerikanischen Besatzung und die Vorbehalte der japanischen Literaturelite die Publikation seiner Texte verzögert. Sehr eindrücklich ist die ebenfalls im Band enthaltene dokumentarische Erzählung „Sommerblumen“ (1947), in der Hara berichtet, welche Folgen die bislang unbekannte Bombe auf die Bevölkerung hatte.

Im weiteren Verlauf der japanischen Nachkriegsjahrzehnte und der größeren zeitlichen Distanz zu „Hiroshima“ und „Nagasaki“ werden die Texte der Atombombenliteratur zunehmend komplexer, der dokumentarische Charakter der ersten Testimonials wird um literarisch-kunstvolle Facetten erweitert. Auch Schriftsteller ohne persönlichen Bezug zu den Atombombenabwürfen wenden sich nun der Thematik zu, was in wissenschaftlichen Kommentaren wie jenen des amerikanischen Literaturwissenschaftlers John Whittier Treat als zweite und dritte Generation von Atombombenliteratur eingeordnet wird.

Die neuen Paradigmen des Schreibens über die Atombombe kann man anhand der Texte in Seit jenem Tag nachvollziehen. Eine politische Dimension eröffnet sich, um bei der Lyrik zu bleiben, beispielsweise im Gedicht „Blumen“ (1974) von Kondô Azuma; er stellt die Schuldfrage an das „Land, das die Atombombe abwarf“. Im Hinblick auf die von Amerika angestellten medizinischen Untersuchungen der Verstrahlten formuliert der Lyriker die Frage „Wenn ihr Untersuchungen anstellen wollt, wie/ Wär’s, ihr würdet sie im eigenen Land abwerfen?“ Andere Töne schlägt beispielsweise Kurihara Sadako an, die in ihrem 1976 veröffentlichten Gedicht „Wenn wir Hiroshima sagen“ den historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges sucht und „Hiroshima“ untrennbar neben Pearl Harbour oder das Nanking-Massaker stellt, womit sie sich als politisch bewusste Autorin gegen geschichtsrevisionistische Tendenzen wendet:

[…]
Wenn wir „Hiroshima“ sagen:
damit uns darauf
ein ergriffenes „Ah, Hiroshima!“
erwidert wird,
müssen zuerst wir selber
unsere schmutzigen Hände säubern

Ergänzt werden die nuklearen Narrationen in Seit jenem Tag durch biografische Informationen zu den Autoren, Karten von Hiroshima und Nagasaki sowie einem Nachwort von Itô Narihiko, das nach wie vor eine überaus informative Erläuterung der genbaku bungaku bietet.

Zum fünften Jahrestag der „Fukushima“-Katastrophe wären weitere deutsche Übersetzungen japanischer nuklearer Narrationen wünschenswert. Angesichts der Havarie des AKW Fukushima im März 2011 ist auch die „friedliche Nutzung“ von Atomenergie wieder in den Blickpunkt internationaler Aufmerksamkeit gerückt. Einige japanische Kommentare suchen sogar den direkten Bezug von „Fukushima“ zu „Hiroshima“ und „Nagasaki“.  Inwieweit in den kommenden Jahren diese Debatte weitergeführt wird, kann man nicht voraussagen. Zu bestätigen wäre jedenfalls, dass der Band Seit jenem Tag mit den in ihm enthaltenen Zeugnissen, Prosatexten und Gedichten auch heute noch ein lesenswertes Dokument darstellt. Eine Neuauflage wäre zu begrüßen.

Bibliografie: 

Itô Narihiko, Siegfried Schaarschmidt und Wolfgang Schamoni (Hg.): Seit jenem Tag: Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Literatur. Frankfurt a.M.: FISCHER Taschenbuch Verlag, 1984.