Die Fortsetzung der Geschichte

Im vierten Band seines Siebenteilers „Das Büro“ berichtet J.J. Voskuil weiter aus dem trägen Berufsalltag seines Alter Egos Maarten Koning

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was bisher geschah: 1957 tritt Maarten Koning in den Dienst des volkskundlichen Instituts in Amsterdam. Unter dem Direktor Beerta gewöhnt er sich in den Büroalltag ein (Band 1: Direktor Beerta), so dass sich nach und nach eine komische Tragödie etablieren kann. Mit der Zeit steigt er zum Leiter der Abteilung Volkskunde auf (siehe Band 2: Schmutzige Hände). Wegen seiner verbindlichen Art ist Maarten hoch geschätzt, innerlich aber empfindet er ein starkes Unbehagen gegenüber der eigenen Arbeit. Menschliche Kontakte deprimieren ihn zutiefst, genau dafür ist er aber in seiner Abteilung verantwortlich (siehe Band 3 Das Plankton). 1975 erleidet der inzwischen pensionierte Beerta einen Schlaganfall.

Hier setzt Band 4 von Voskuils Romanserie Das Büro ein. In den Jahren 1975–1979 geht alles den gewohnten Gang. Voskuil spinnt die Erzählfäden geduldig weiter und faltet den Büroalltag von Maarten Koning sorgfältig auseinander. Alt gediente Mitarbeiter werden pensioniert und neue Kräfte eingestellt. Mit denen wandelt sich die Stimmung im Büro stets von neuem, mal zum Gehässigen, mal zum Heiteren wie gegen Ende des Jahres 1978.

Das A.P. Beerta-Institut bleibt dem gemächlichen Rhythmus, der hoch auflösenden Präzision und der feinen Ironie treu. Das Prinzip der Serie (oder der „intellektuellen“ Soap-Opera) funktioniert wunderbar und hält die treuen Leser bei guter Laune. Voskuil gelingen weiterhin hochsensible Charakterzeichnungen und lebhafte Dialoge, die haarklein protokolliert werden. Die Mitarbeiter erhalten psychologische Tiefe gerade da, wo sie nerven und nicht nur Maartens Geduld, sondern auch die der Lesenden herausfordern. Die sehr spezielle Symbiose zwischen ungekünstelter schlichter Sprache und geradezu banaler, alltäglicher Handlung erlaubt es aber jederzeit, dieser „Gemeinschaft“ als Neuleser beizutreten oder eine Pause einzulegen.

Nichts Neues also, dennoch pflegt auch der vierte Band seine spezifischen Qualitäten. Subtil entwickelt er das Thema Arbeit weiter. In einem längeren Tagebucheintrag übt Maarten im Spätjahr 1975 Selbstkritik und reflektiert seine inneren Widerstände gegenüber seinem Tun generell und speziell gegenüber seiner Rolle als Abteilungsleiter. Die Logik der Büroarbeit zwingt ihn, Loyalität zu üben und ein verständnisvoller Chef zu sein, zugleich reizt ihn die zwar selbstauferlegte, zugleich entfremdete Arbeit zum Widerspruch – eine ungemütliche Situation, der Maarten mit einer Art „loyalen Widerstand“ zu entkommen sucht.

Das Thema der „demokratischen“ Teamführung wird ihn die ganzen Jahre über beschäftigen, insbesondere in den oft quälenden Diskussionen mit Bart Asjes, der wie immer „ganz anderer Meinung“ ist und sich nie festlegen will. Das Ritual ihres gegenseitigen Missverstehens mündet meist unumkehrbar in furchtbare diskursive Sackgassen. Dieses Ritual ist brisant, weil es die grundlegenden Paradoxien des Arbeitssystems berührt. Maarten möchte niemanden zu harter Arbeit anspornen – und doch muss diese getan werden. So lädt er klaglos sich selbst mehr Arbeit auf, was umgehend den Argwohn der andern weckt, weil sie glauben, Maarten wolle ihnen ein schlechtes Gewissen aufdrängen. Wie viel Loyalität, Verantwortung und Fairness darf gegenüber den Kollegen verlangt werden? Wie viel Freude und Einsatz muss ein Mitarbeiter für seinen (guten) Lohn aufbringen? Man kann es drehen, wie man will, die Rechnung geht nie restlos auf. So vertieft sich Maarten unglückliches Bewusstsein von Tag zu Tag. Ebenso das seines Widersachers Bart, der sich auf stupende Art zwar vor jeder Verantwortung drückt, dies aber dennoch als Belastung erfährt. Voskuil demonstriert auf hintergründige Weise die Widersprüche der Arbeit als Faktor der Selbstbestimmung wie Selbstentfremdung.

Dabei wäre einzuwenden, dass im „Büro“ immerhin wissenschaftliche Forschung geleistet würde. Gerade dieser gegenüber verschärft sich Maartens Skepsis, die sich in wunderbarem Sarkasmus Bahn bricht: „Als anständiger Mensch kann man die Dinge nicht schwarz genug sehen.“ Er wehrt sich mit allen Mitteln gegen eine ’science pour science‘, weil er Wissenschaft ohnehin für Täuschung und (Selbst-)Betrug hält. „Neunzig Prozent dessen, was wir tun, ist doch vollkommen sinnlos“, gibt er sich überzeugt. Er glaubt nicht an den Fortschritt in der Wissenschaft, weil es sich dabei meist bloß um „eine verschleierte Form des Schreibens über die eigene Lebensanschauung“ handelt. Und dennoch vermag sich Maarten in die eigenen Studien zu verbeißen. Kein Widerspruch, wie er selbst bemerkt, denn ein Thema packt ihn sobald und solange er daran arbeitet; legt er es weg, ist sie ihm umgehend egal. In der Arbeit selbst steckt somit ihr Reiz, ob in der wissenschaftlichen oder in der körperlichen. Hin und wieder kokettiert Maarten noch immer mit dem Gedanken, irgendeinen einfachen Job anzunehmen – und bleibt doch dem Büro treu.

Mit Beertas Schlaganfall rückt in diesem Band auch das Themenfeld Krankheit verstärkt in den Fokus. Sie ist genau genommen ebenfalls eine Facette der Arbeit respektive des steigenden Arbeitsdrucks. Halbseitig gelähmt und um seine Ausdrucksfähigkeit beraubt, kämpft Beerta mühselig darum, von neuem sprechen zu lernen. Maarten besucht ihn regelmäßig im Pflegeheim und versucht, aus seinen unverständlichen Zischlauten klug zu werden. „T-taaa Maschjen“ begrüßt ihn Beerta beim ersten Besuch, um ihm “mei Schimmes“ zu zeigen. (Voskuil beziehungsweise sein Übersetzer Gerd Busse entwickeln hierfür eine wunderbare Zweitsprache.)

Verspürt Ad Muller seit je ein feines Reißen im Bauch, sobald er das Büro betritt, weshalb er lieber wochenweise zuhause bleibt und seine Schwäche auskuriert, treten nun auch medizinisch bedeutsame Komplikationen auf. Die Hilfskraft Tjitske muss sich einen Tumor entfernen lassen und Bart erkrankt 1978 an einer schweren Augenentzündung, weshalb er mit der Arbeit aussetzen muss. Im Schatten der Krankheit tritt der Tod auf, der nicht nur die Katzen von Maarten, sondern auch seinen alten Widersacher Pieters ereilt. Die Hinfälligkeit des Menschen, die Maarten tief im Inneren umtreibt, spiegelt sich in seiner Umgebung. Von Autos totgefahrene Tauben säumen seinen Weg.

Krankheit und Abschiede beeinflussen die Stimmung im Büro und setzen Maarten unter erhöhte Anspannung. Er fühlt sich gestresst, schwankend zwischen tief sitzendem innerem Unbehagen und sich häufendem Lob über seine Arbeit. Auch wenn er weiterhin vor jedem „erzwungenen Kontakt mit Menschen“ zurückschreckt, festigt sich sein Ruf als vorbildlicher Chef und origineller Wissenschaftler, der mit interessanten Beiträgen auf sich aufmerksam macht. „I think I want to understand why things change“, hält er den verknöcherten Traditionspflegern entgegen. Den inneren Widerspruch versteht selbst seine überaus skeptische Frau Nicolien nicht: „Nur weil du dich selbst immer wieder schlecht machst, muss es ein anderer doch nicht auch tun?“

Es sind diese menschlich-allzumenschlichen Regungen, die Das Büro zum Faszinosum stempeln. Mit Präzision und zuweilen unschlagbarem Witz entwirft Voskuil ein Epochenbild, das einen zentralen Topos der modernen Gesellschaft näher beleuchtet und das Leben von Millionen von Menschen prägt. Das Büro mit all seinen Stimmungen und Abhängigkeiten hat in der Literaturgeschichte der letzten hundert Jahre im Grunde genommen erstaunlich wenig Niederschlag gefunden. Robert Walser, Siegfried Kracauer, Wilhelm Genazino oder Walter E. Richartz sind eher Ausnahmen, die die Geringschätzung bestätigen. In diesem Sinn leistet Voskuil mit seinem voluminösen Roman tatsächlich auch eine volkskundliche oder ethnologische Pioniertat.

Mit einer Gruppenfoto wird im September 1979, zum 80. Geburtstag von ex-Direktor Beerta, das Büro feierlich in „A.P. Beerta-Institut für Volkssprache, Volkskultur, Volksnamen“ umbenannt. Damit beginnt eine neue Ära, auf die wir gespannt sein dürfen.

Titelbild

J. J. Voskuil: Das Büro. Band 4: Das A. P. Beerta-Institut.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Gerd Busse.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
1071 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320094

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