Die Fotografin in Hitlers Badewanne

Lee Miller begründete die Tradition eines engagierten Fotorealismus – ein Text-Bild-Band

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eine Surrealistin, die ein Kristallisationspunkt ihrer Zeit war“, nannte Andy Grundberg in der „New York Times“ die 1977 gestorbene amerikanische Fotografin Lee Miller. Sie war zugleich Fotomodell, Assistentin und Geliebte des Foto- und Objektkünstlers Man Ray, entwickelte mit ihm die Solarisation, die eine der Standardtechniken surrealistischer Fotografie wurde, und avancierte zur Starfotografin der englischen Zeitschrift „Vogue“. In New York eröffnete sie ein eigenes Fotostudio, heiratete aber bald darauf einen reichen ägyptischen Geschäftsmann, zog mit ihm nach Kairo und erkundete die ägyptische Wüste. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie Frontberichterstatterin der US-Army, drang bis in das von Hitlerdeutschland besetzte Südosteuropa vor und schloss ihre zweite Ehe mit dem Surrealisten Roland Penrose. Ihr Haus, die Farley Farm im südenglischen Sussex, wurde zum Treffpunkt der internationalen künstlerischen Avantgarde, und im Alter traten Kochkunst und klassische Musik an die Stelle der Fotografie. Welch aufregendes, schillerndes, kompromissloses, an Brüchen reiches Leben!

Der vielgesichtigen Miller, einer jener großen Frauen, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt haben, hat die Albertina, Wien, in Zusammenarbeit mit den Lee Miller Archives eine Ausstellung gewidmet, die jetzt auch bis zum 12. Juni 2016 im Martin-Gropius-Bau Berlin gezeigt werden kann. Die Schau, die in 100 Aufnahmen von den glamourösen Modefotos zu den eindringlichsten Kriegsdokumentationen des 20. Jahrhunderts führt, ist chronologisch aufgebaut, doch verweisen die einzelnen Lebens- und Schaffensphasen zwischen Bohème und leidenschaftlichem Engagement auf die jeweils veränderten Einstellungen, Sicht- und Verfahrensweisen. Es soll nicht nur eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen, sondern nach den ästhetischen Leistungen dieser Ausnahmekünstlerin gefragt werden.

Flankierend dazu der von Walter Moser, Kurator der Ausstellung, und Klaus Albrecht Schröder, Direktor der Albertina, herausgegebene Text-Bild-Band „Lee Miller“, in dem der Lebens- und Schaffensweg der Fotokünstlerin verfolgt wird: „Prägende Jahre: Lee Miller und der Surrealismus“ (Astrid Mahler), „Amerikanische Fotojournalistinnen in Europa: Lee Miller, Margaret Bourke-White und Thérèse Bonney“ (Anna Hanreich), „‚Believe It‘: Lee Millers Fotografien der befreiten Konzentrationslager Buchenwald und Dachau für das Modemagazin Vogue“ (Ute Wrocklage), „In der Höhle des Löwen: Lee Millers Berichterstattung aus München“ (Elissa Mailänder) und „‚Report from Vienna‘: Lee Millers Aufnahmen von Wien 1945“ (Walter Moser). Anna Artaker und Tatiana Lecomte haben für das Buch faszinierende visuelle Beiträge gestaltet.

Millers Selbstporträt (New York 1932) zeigt ein edles, klassisch zu nennendes Gesicht mit träumerischen Augen. Miller hat sich in Kleidung und Haltung an den höfischen Bildnissen der Renaissance orientiert. Aber eigentlich macht sie „nur“ Werbung für ein gerade auf den Markt gekommenes Plaste-Haarband, das dem Betrachter kaum ins Auge fällt. Perfekte Schärfe hat Miller stets mit größtmöglicher Genauigkeit verbunden. Ihre Bilder kann man auf den ersten Blick an ihrer Tonalität, ihrer Gefühlsbewegtheit und ihrem grafisch strengen Aufbau erkennen. Das Profil des surrealistischen Künstlers Joseph Cornell lässt sie mit einem seiner Objekte verschmelzen. Sie hat die bedeutendsten Repräsentanten der Moderne – meist zusammen mit ihrem Werk – porträtiert: Jean Cocteau nach der Befreiung von Paris 1944 in der Kolonnade des Palais Royal; Paul Delvaux hinter Gitterstäben im befreiten Brüssel; die 71-jährige Romanautorin Colette, deren „krauses Haar einen Heiligenschein um ihren Kopf“ bildet; René Magritte, der hinter ihm aufgehängte Mantel mit Hut vermag wahre halluzinatorische Angstträume auslösen; Hans Arp mit einem seiner bemalten Reliefs, Oskar Kokoschka bei der Arbeit an einem Triptychon, Joan Miró mit einem Nashornvogel, der seinen gemalten Urbilder-Gärten entsprungen zu sein scheint.

Vor allem aber hat sie immer wieder Picasso konterfeit, der selbst ihr Porträt wenigstens viermal gemalt hat: 1937 etwa, kurz nach Vollendung von „Guernica“, stellt sie ihn vor, wie er gerade mit seiner Werkserie „weinender Frauen“ beschäftigt ist; 1944, nach der Befreiung in seinem Pariser Atelier („wir fielen einander in die Arme, und während wir abwechselnd lachten und weinten und er mir in den Hintern kniff, sahen wir uns seine neuen Bilder an“, schreibt Miller); oder 1960, Picasso einsam in seinem riesigen Chateau de Vauvenargues. Die Fotos zeigen ihn so ungezwungen, als ob ihm die Fotografin gar nicht gegenwärtig ist.

Miller hatte entdeckt, dass Realismus, wenn er bis zum Äußersten detailliert wird, das Wirklichkeitsgefühl geradezu umkehrt. Anstatt das Bild als Fläche mit all den dazugehörigen Spannungen darzustellen, probierte sie das andere Extrem und behandelte das Bild wie ein vollkommen durchsichtiges Fenster.

Im Zweiten Weltkrieg begründete sie die Tradition eines engagierten Fotojournalismus und legte die Grundlagen einer militanten Fotografie, die sich als ästhetische Reflexion über die Macht des Bildes versteht. Sie dokumentierte die Auswirkungen des Blitzkrieges auf London und seine Bewohner, sie fotografierte englische Frauen, die in der Kriegswirtschaft härteste Männerarbeit verrichteten. Den Vormarsch der Alliierten durch Frankreich und Deutschland hat sie festgehalten in Bildern und Kommentaren, die erschütternde menschliche Schicksale aufspüren. Je weiter sie in das von dem NS-Regime besetzte Europa vordrang, traten ihr Hieronymus Boschs phantasmagorische Höllenvisionen und makabre Todesszenerien Pieter Brueghels des Jüngeren vor Augen. In den KZs Dachau und Buchenwald presste sie die psychische Bedrohung und Gewalttätigkeit auf kleinen Raum zusammen – und wandelte die einmal erreichte Intensität in immer wieder anderen Metaphern und Bildern ab. Das fast erotische Porträt der toten Tochter eines ranghohen Leipziger Nazis zeigt Anklänge an Gian Lorenzo Berninis „Verzückung der hl. Theresa“ in Rom. Das Foto eines SS-Mannes, der sich an der Heizung im KZ Buchenwald erhängt hat, erinnert an das Haupt von Matthias Grünewalds gekreuzigtem Christus.

Ein geradezu surrealistisches Bild ging durch die Welt, wie sie am 1. Mai 1945 in München in Hitlers Badewanne sitzt und sich abseift, während ihre mit dem Aschenstaub Dachaus bedeckten Kampfstiefel auf der dreckigen Badematte stehen. Die Besitzergreifung der intimsten Räume Hitlers sollte die endgültige Vernichtung des NS-Regimes augenscheinlich und sinnfällig dokumentieren. Zweifellos eine Inszenierung, die ihr Kollege David E. Scherman da schoss, der kurz darauf selbst in die Badewanne stieg, was nunmehr Miller auf das Bild bannte.

Millers Improvisationstalent und ihre handwerkliche Fähigkeit dominieren gegenüber der Erregung von Mitleid und Schrecken. Ihr Selbstporträt, geschminkt in tadellos sitzender Uniform, entbehrt nicht einer gewissen Koketterie – etwa in der Aneignung der männlichen Pose, die Zigarette in der Hand neben brandgefährlichen Benzinkanistern. Dagegen haben die US-Soldaten, die sich vor die Leichen der KZ-Häftlinge postieren, direkte Zeugenfunktion. Den erbärmlich knienden SS-Aufsehern ist die nackte Angst ins Gesicht geschrieben. Sie steht im Widerspruch zu ihrer adretten Zivilkleidung, in der sie die Flucht antreten wollten. Erst durch den kritischen Blick wird die Dokumentarfotografie des Krieges überhaupt denkbar. Man erschrickt vor sich selbst als Betrachter. Lee Millers Aufnahmen von Vertriebenen, jüdischen KZ-Überlebenden, toten Nazis und verprügelten SS-Männern sind unnachsichtig, brutal und ergreifend zugleich, weil sie den Respekt vor der geschundenen menschlichen Kreatur bewahren.

Man kann zwar von den verschiedenen Leben der Lee Miller sprechen, aber ihre Fotografien sind die eines Lebens und einer Epoche.

Kein Bild

Walter Moser / Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Lee Miller.
Texte von Anna Heidenreich, Astrid Mahler, Elissa Mailänder, Walter Moser, Ute Wrocklage. Visuelle Essays von Anna Artaker, Tatiana Lecomte. 136 Abbildungen.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2015.
160 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783775739559

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