Wider den Authentizitätsterror!

„Gefühlige Zeiten“: Christian Saehrendt will die Welt desromantisieren

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Welt müsse romantisiert werden, forderte einst Novalis – und erklärte in seinen „Fragmenten“ auch gleich wie: nämlich durch „qualit(ative) Potenzierung“, der Identifizierung eines „niedre(n) Selbst … mit einem bessern Selbst“, wodurch „dem Bekannten die Würde des Unbekannten“ oder dem „Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn“ gegeben werde.

Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint Novalis’ geheimnisvolle „Operation“ allgegenwärtig, ob wir in vermeintlich schon jahrelang getragenen Stonewashed-Jeans herumlaufen, Selfies mittels entsprechender App in 1970er-Polaroids mit Gelbstichpatina verwandeln oder uns zuhause im „Shabby Chic“ einrichten mit Sperrmüll-Möbeln – oder solchen im künstlichen „Vintage-Look“.

Für Christian Saehrendt handelt es sich dabei um eine „Sehnsucht nach Geschichtlichkeit“, eine Reaktion auf eine Welt der glatten technischen Oberflächen und glänzenden Displays. Das weit verbreitete Bedürfnis nach Dingen mit Geschichte, mag diese letztlich auch nur eine Illusion sein, ist nach Ansicht des Kunsthistorikers nur einer von vielen Gegentrends, die unsere Gegenwart bestimmen und die er allesamt auf eine neo-romantische „Sehnsucht nach dem Echten“ zurückführt.

In seiner Gegenwartsdiagnose mit dem Titel „Gefühlige Zeiten“ bringt Saehrendt diese verzweifelte Jagd nach Authentizität mit Merkmalen des modernen Lebens in Verbindung. Wer etwa im Alltag ständig seine Emotionen kontrollieren oder Masken tragen müsse, beginne irgendwann von seinem „authentischen Ich“ zu träumen; wer die Welt nur noch medial erfahre, suche spätestens im Urlaub ein anderes „wahres“ Leben, ob auf dem Jakobsweg, beim „Urban Gardening“ oder auf einem Neuseelandtrip zu den Originaldrehorten von „Lord of the Rings“.

Kapitelweise untersucht Saehrendt die wichtigsten dieser „Ausbruchsversuche“ wie Kunst, Unterhaltung und Tourismus, kenntnisreich und mit einem kühlen, desillusionierenden Blick. Die Liebe beispielsweise werde heute immer häufiger mittels ausgewählter Suchkriterien online gefunden, aber dann paradoxerweise trotzdem als „schicksalhaft“ erlebt. Das Bedürfnis nach dem Echten führe heute oft zu regelrechten Hochzeitsexzessen, Inszenierungen, die vor allem das Paar selbst von der „wahren Liebe“ überzeugen sollen. „Ich war Regisseurin und Hauptdarstellerin in einem und sah auf jedem Foto perfekt aus“, zitiert Saehrendt eine junge Schweizerin, die ihren „schönsten Tag im Leben“ einem fünfzehnseitigen Drehbuch folgen ließ, blumengeschmückter Autokorso und Bootsfahrt auf dem Zürichsee inklusive – und die inzwischen längst geschieden ist.

Dass von unserer unstillbaren Sehnsucht nach dem Echten ganze Industriezweige leben, von den Anbietern von „Erlebnisgutscheinen“ („Du bist, was du erlebst“) bis zu den Vermarktern von Sehnsuchtsorten wie Venedig oder Paris, ist zwar nicht gerade eine neue Erkenntnis, dennoch liest man Saehrendts kenntnisreiche Tour d’Horizon mit Gewinn. Geschmälert wird dieser nur durch die Neigung des Autors zu Pauschalurteilen und bloßen Behauptungen wie der, dass im heutigen Theaterbetrieb selbst „mittelmäßige Darbietungen mit inflationärem Applaus bedacht“ würden, weil sich das Publikum mittels Autosuggestion überzeugen wolle, einer großartigen Veranstaltung beigewohnt zu haben.

Am Interessantesten wird Saehrendts kulturkritischer Langessay, wenn er sich eher ungewöhnlichen Aspekten zuwendet, etwa den neuen Formen im Umgang mit Niederlagen. So erblüht heute in einer Welt der Erfolgsanbetung ein regelrechter „Kult des Scheiterns“: von der Glorifizierung gescheiterter politischer Utopien („DDR-Nostalgie“) über die neue Modediagnose Burn-out bis zu den aus den USA inzwischen auch in Deutschland angekommenen „Fuck up Nights“: An solchen Abenden wird das eigene Scheitern nicht mehr schamhaft verschwiegen, sondern Unternehmer bekennen sich vor Publikum zu ihren Misserfolgen und verkaufen sie als notwendigen Zwischenschritt zum Erfolg. Echte Verlierer im Spiel des Lebens, so Saehrendt, suche man an solchen Abenden freilich vergebens.

Kein neues Phänomen ist dagegen, dass gerade junge Menschen den totalen Ausbruch aus einem als unauthentisch empfundenen Leben in Ideologien oder Gewalt suchen, man denke nur an die Kriegsfreiwilligen vom August 1914. Im letzten und stärksten Kapitel seines Buches zieht Saehrendt frappierende Parallelen zwischen Ernst Jünger, der sich 1913 als 18-Jähriger bei der Fremdenlegion verpflichtete, und heutigen westeuropäischen Jugendlichen, die sich für ISIS anwerben lassen.

Wenig überraschend empfiehlt Saehrendt der heutigen Welt zum Schluss eine gründliche Des-Romantisierung. Schließlich treibe die schon bei Novalis und Co. aufgekommene Wissenschafts- und Rationalitätsfeindlichkeit im Internet-Zeitalter immer mehr bizarre, ja gefährliche Blüten in Form grassierender Verschwörungstheorien. Welche „Operation“ wäre also 200 Jahre nach Novalis durchzuführen? Dem „Terror der Authentizität“ könne man nur mit einer „neuen Wurschtigkeit“ begegnen, so Saehrendt: indem man sich dem Kult ums authentische Ich einfach verweigere, das es im Übrigen ohnehin nicht gebe. Lieber fröhlich Masken tragen und Rollen spielen, statt Illusionen, Geschäftemachern, Sektengründern, selbsternannten Motivationscoaches oder politischen Rattenfängern auf den Leim zu gehen.

Wirklich befriedigen kann dieses Resümee natürlich nur knochentrockene Rationalisten – oder Menschen, die im Leben einmal zu oft enttäuscht wurden und sich nun in einen fröhlichen Zynismus flüchten. Etwas Entscheidendes bleibt bei Saehrendt ohnehin ungeklärt: Sind wirklich alle seine Beispiele einfach nur Formen heutiger Neo-Romantik – oder macht es nicht doch einen Unterschied, ob man das „wahre Leben“ als Terrorist oder, sagen wir, Helfer für eine NGO sucht?

Titelbild

Christian Saehrendt: Gefühlige Zeiten. Die zwanghafte Sehnsucht nach dem Echten.
DuMont Buchverlag, Köln 2015.
251 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783832197902

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch