Ihr sollt verstehen, ihr könnt nicht verstehen

Hayashi Kyôkos Erinnerungen an die Atombombe

Von Elena HilgenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Hilgenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es möglich, dass ein einziges Ereignis das Leben für immer vollkommen verändert? Am 9. August 1945 wird die den Decknamen „Fat Man“ tragende Plutoniumbombe auf die japanische Stadt Nagasaki abgeworfen. Die junge Hayashi Kyôko – damals noch Miyazaki Kyôko – hat bald ihren 15. Geburtstag. Obwohl sie zu dem Zeitpunkt in den Mitsubishi-Waffenwerken arbeitet, wofür sie gegen Ende des Pazifikkrieges zwangsverpflichtet wurde, und damit gerade einmal 1,4 km vom Explosionszentrum entfernt ist, überlebt sie nahezu unverletzt. Doch die Erinnerung an diesen Tag lässt sie niemals wieder los. Der ursprünglich im Jahr 2005 in Japan erschienene, aus zwei erstmals in den Jahren 1999 beziehungsweise 2000 in der Literaturzeitschrift „Gunzô“ publizierten Kurzgeschichten bestehende Band „Verstrahltes Leben“, im Original Nagai jikan wo kaketa ningen no keiken (Eines Menschen in langer Zeit gewonnene Erfahrung), stellt dies eindrücklich unter Beweis.

Der Autorin, die in den 1960er-Jahren schriftstellerisch aktiv wurde, war 1975 mit ihrer Erzählung „Der Festplatz“ (Matsuri no ba), für die ihr der renommierte Akutagawa-Preis verliehen wurde, der literarische Durchbruch gelungen. In der Folge bekam die sehr produktive Hayashi Kyôko als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Atombombenliteratur (genbaku bungaku) aus Nagasaki auch außerhalb Japans Aufmerksamkeit von literaturwissenschaftlicher Seite. John Whittier Treat (Yale University) und Stephan Köhn (Universität zu Köln) haben wichtige Vorarbeiten zu einer literaturwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Einordnung von Hayashis Texten geleistet. Nach wie vor liegen aber nur wenige Werke der Autorin in Übersetzung vor. Was die deutsche Sprache anbelangt, so ist „Verstrahltes Leben“ die erste Übertragung überhaupt. Sie erfolgte im Rahmen des von der japanischen Regierung seit dem Jahr 2002 durchgeführten Japanese Literature Publishing Project (JLPP).

Thematisch verbindet eine komplizierte innere Auseinandersetzung der Erzählerin, die in den von ihr angeführten biografischen Angaben keinen Unterschied zur Autorin Hayashi Kyôko erkennen lässt, mit dem erlebten Grauen die beiden im Band enthaltenen Kurzgeschichten. Die erste Geschichte beschreibt eine Pilgerreise der namenlos bleibenden Protagonistin zu den 33 der Göttin des Mitgefühls und des Trosts Kannon geweihten Tempeln der Miura-Halbinsel südlich von Tôkyô. Dieser Handlungsstrang tritt an vielen Stellen in den Hintergrund und wird von Erinnerungen und Überlegungen der Erzählerin, die allesamt um die Atombombe und ihre Auswirkungen kreisen, überlagert. Ihre hier zum Beispiel häufig auf das Leben und Sterben der Freundinnen fokussierten Gedanken können gerade beim ersten Lesen fast schon manisch-obsessiv wirken. Versucht man jedoch, sich in die Gefühlswelt von Atombombenopfern (hibakusha), wie sie die Autorin beschreibt, tiefer hineinzuversetzen, erscheint es ungerechtfertigt, das Leben als hibakusha in der modernen japanischen Gesellschaft, das immer mit den Erinnerungen an die Auswirkungen des Atombombenabwurfs in Verbindung steht, als bloßen „inneren Kampf“ abzutun.

Deutlich wird dieses Spannungsverhältnis in den Reflexionen: Der erklärte Wunsch, den Abwurf der Atombombe und die damit verbundene Angst, nach so vielen Jahren doch noch an den Folgen der Strahlenschäden zu sterben, niemals erlebt zu haben, kollidiert mit dem Zugeständnis an die eigene Empfindung, trotz aller negativen Aspekte als hibakusha etwas Besonderes zu sein. Hayashi beschreibt glaubwürdig ihre innere Zerrissenheit in Bezug auf die Atombombe. Ihren eigenen Status als Atombombenopfer sieht sie zumindest dem Anschein nach infrage gestellt, da sie – abgesehen von einer vergleichsweise kurzen Strahlenerkrankung unmittelbar nach dem Abwurf – offenbar bei guter Gesundheit ist und auch einen gesunden Sohn zur Welt brachte, während zahlreiche Freundinnen starben.

In der zweiten Kurzgeschichte, „Von Trinity zu Trinity“, reist die Erzählerin in die USA, wo sie sich gemeinsam mit einer Freundin auf den Weg macht zum Testgelände für die weltweit erste Zündung einer Atombombe am 16. Juli 1945. Mit gemischten Gefühlen betrachtet sie die dort ausgestellten Memorabilien. Ähnliche Gefühle hegt sie auch gegenüber dem Einsatz der Bomben in Japan, hier präsentiert aus der Perspektive der Sieger, die sich rühmen, durch die Abwürfe einen langen, grausamen Krieg beendet zu haben. Die Reise zum Testgelände ist – wie auch schon die Pilgerreise im ersten Text – ein Versuch, sich endlich von quälenden Erinnerungen an den 9. August zu befreien und loszulassen, eine Art Konfrontationstherapie, um die Bombe zu „überwinden“. Doch er scheitert. In beiden Kurzgeschichten versinkt die Erzählerin zusehends in ihren Erinnerungen, die trotz des langen zeitlichen Abstands nicht schwächer werden wollen und ihr jegliche positive Erwartungen an die Zukunft nehmen.

Selbst wenn man als Leser des Bandes die Legitimität der von der Erzählerin geschilderten zwiespältigen Gefühle in Bezug auf den Atombombenabwurf wohl nicht infrage stellt, so überrascht doch die Beharrlichkeit, mit der ihre Gedanken der Bombe verhaftet bleiben, ganz gleich wo sie sich befindet. Auf kurze, das gegenwärtige Umfeld der Erzählerin darlegende Passagen folgt pessimistisch getöntes Nachdenken über den Tag, seit dem für sie die Zeit still zu stehen scheint. Obwohl das physische Leben weitergeht, haben alle Gedanken ihren Ursprungs- und Endpunkt im 9. August. Von einer Befreiung durch die Pilgerreise kann kaum die Rede sein, denn die Erzählerin findet keinen Ausweg aus ihrer Situation.

Dabei sind trotz der trüben Zukunftsaussichten die Gedanken mit einer erstaunlichen Nüchternheit, die man auch als konsequente Distanziertheit bezeichnen kann, wiedergegeben. Obwohl sie ihren 9. August oder auch Leid und Sterben der Freundinnen aus Schultagen sehr detailliert beschreibt, sind diese Passagen mit nur wenig Emotion gefärbt. So erklärt die Erzählerin zum Beispiel, dass sie sich nicht mehr nach einer Freundin, bei der nach einer Krebsdiagnose mehrere Operationen nicht erfolgreich verliefen, erkundigen möchte, da sie nichts mehr von Leid und Tod hören könne. Ebenso offenbart die Erzählweise den Versuch, das eigene subjektiv Erlebte durch Einschübe aus anderen literarischen oder wissenschaftlichen Quellen zu objektivieren und dadurch zu untermauern. Dies schafft den Eindruck, dass die beiden Texte nicht auf das Mitgefühl ihrer Leser abzielen, sondern vor allen Dingen das Geschehene mitteilen wollen.

Für jemanden, der die Abwürfe der Atombomben nicht selbst erlebt hat, ist ein Einblick in die Gedankenwelt einer hibakusha, wie ihn Hayashi Kyôko mit diesem Band bietet, wohl auch deshalb besonders interessant, weil er die Auseinandersetzung mit dem Erlebten mehr als 50  Jahre später – und nicht nur unmittelbar nach dem Abwurf – beschreibt. Hayashis Texte sind durch eine Zerrissenheit der Erzählerin zwischen dem Versuch, den nicht-hibakusha die Situation der hibakusha zu erklären, und der gleichzeitig geäußerten Überzeugung, dass ein nicht-hibakusha die Lage der hibakusha nicht verstehen könne, gekennzeichnet. Es ist schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die Erzählerin sich eigentlich wünscht, angehört und verstanden zu werden, doch zur gleichen Zeit nicht daran glaubt, dass das möglich sei.

Die unerwartet nüchtern beschriebenen Empfindungen und Gedanken eines Atombombenopfers machen den Band zu einer empfehlenswerten Lektüre. Auf mögliche vorgefasste Meinungen über Atombombenopfer nimmt der Text keine Rücksicht, wenn er eine besondere Art von „Spätfolgen“ des 9. August 1945 beschreibt.

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Kyôko Hayashi: Verstrahltes Leben.
Edition Nippon.
Übersetzt aus dem Japanischen von Peter Raff.
Angkor, Frankfurt a.M. 2011.
155 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783936018813

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