Welches Bild entsteht in der Katastrophe?

Zu Jörg Tremplers Geschichte der Entstehung des Katastrophenbildes im 18. Jahrhundert

Von Regine PrangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regine Prange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Katastrophen nicht schlechthin Ereignisse sind, sondern ihrer Darstellung als solcher bedürfen, um zur Katastrophe zu werden, ist der Gedanke, den Jörg Trempler mit seiner Arbeit „Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild“ vermitteln will. Im Zeitalter der massenhaften Produktion von Bildern im Allgemeinen und von Katastrophenbildern im Besonderen scheint dieser Gedanke anfänglich nicht sehr weit auszugreifen. Längst vermeinen wir dank der Massenmedien über ein Bild der Wirklichkeit zu verfügen, das unsere eigene unmittelbare Anschauung weit übersteigt. Reizvoll und womöglich aufschlussreich scheint hingegen der Ansatz des Autors, der Entstehung dieses Phänomens nachzuspüren, die im Buch auf die zeitgenössischen Darstellungen des Erdbebens von Lissabon 1755 datiert wird.

Im ersten Teil seines Werkes macht uns Trempler mit dem „Vollbild“ der Katastrophe vertraut. Er ist Werken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet, in der Darstellungen von Beben, Schiffbrüchen, Stadtbränden und Vulkanausbrüchen bereits zu einem gängigen und weitverbreiteten Bildthema geworden sind. Der Autor bietet Analysen entsprechender Werke von Francisco de Goya, Anne-Louis Girodet, Théodore Géricault, Jacob More, William Turner und Karl Pawlowitsch Brüllow. An den Werken der beiden letzteren schildert er ausführlich, wie ihre Katastrophenbilder die gegebenen Gattungsgrenzen sprengen – Turner die des Landschaftsbildes, Brüllow jene des Historienbildes. Konstatiert wird ein Paradigmenwechsel gegenüber der voraufgegangenen Bildtradition. War in dieser das einzelne konkrete Ereignis eingebunden in den mythologischen Zusammenhang, auf den die Darstellung zielte, ist es nun die historische Tatsache, die allgemeine Bestimmungen selbst aus sich entbindet. Dieses Allgemeine deutet Trempler als Rückkehr der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Katastrophe, welche den Wendepunkt in der griechischen Tragödie bezeichnete und der sich ihm zufolge von der poetologischen Bestimmung wandelt zur Benennung einer realgeschichtlichen Zäsur.

Nicht sonderlich seriös mutet der folgende zweiseitige Einschub zum 11. September 2001 an, den Trempler gar in der Einleitung den „zweiten Teil“ seines Buches nennt. Zu kühn ist der unvermittelte Sprung über anderthalb Jahrhunderte weg von seinem eigentlichen Gegenstand. Und rätselhaft bleibt der hier eingeführte „Studierende der Bildgeschichte“ des Jahres 2250, der sich dem Problem der Vermischung von Fiktion und Dokument in der Bildproduktion unserer Gegenwart widmet. Ist dies das Jahr, in dem die Bildgeschichte endlich die Kunstgeschichte abgelöst hat und wäre auch dies eine Katastrophe? In jedem Falle wäre es sinnvoller gewesen, wenn Trempler, statt eine Science-Fiction-Figur einzuführen, der Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Dokument selbst an seinem eigenen Material nachgegangen wäre.

Erst im dritten, abschließenden Teil findet sich eine Darstellung zur Genese der Katastrophendarstellungen. An ihren Beginn stellt Trempler eine Folge von Stichen von Jacques-Philippe Lebas aus dem Jahr 1757, die nicht das zwei Jahre zuvor geschehene Erdbeben von Lissabon zeigen, sondern die von ihm hinterlassenen Ruinen. An diesen Stichen und an nachfolgend besprochenen Werken von Pierre-Jacques Volaire, Claude Joseph Vernet, Jakob Philipp Hackert und Hubert Robert schildert der Autor, wie das eigentliche Thema, Rettung aus der Katastrophe und Wendung zum Beginn eines Neuen, jeweils entfaltet wird. Auch hier finden sich Analysen des umfangreichen Materials, die sich wieder, wie schon jene im ersten Abschnitt, als präzise, einfühlsam und intelligent erweisen und den gewinnbringendsten Teil des gesamten Buches darstellen.

Leider werden sie nicht von dem theoretischen Gerüst, das ihm der Autor beigesellt, getragen. Untergang in der Katastrophe und in ihr sich vollziehende Zäsur an der Schwelle zum Neuen im 18. Jahrhundert deutet Trempler in Anlehnung an die sozialhistorische Ikonographie von Jutta Held als Vorschein der Französischen Revolution. Aber wie ist die postrevolutionäre Konjunktur dieses Sujets zu deuten? Soll die Leserin zwischen den Zeilen vermuten, dass sich das Trauma der bürgerlichen Umwälzung bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, ja bis zum 11. September 2001, in dem Postulat immer wieder neuer Zäsuren fortgewälzt hat? Als müsse der Blutgeruch der Guillotine, der immer noch den Errungenschaften des Bürgertums wie der Deklaration der Menschenrechte und der Freiheit der Presse anzuhängen scheint, in einem neurotischen Wiederholungszwang gleich dem der Lady Macbeth stets von neuem abgewaschen werden? Wohl eher nicht.

Stattdessen dient Trempler als übergreifende Klammer der Bezug auf die Theorie des Bildaktes von Horst Bredekamp, aus dessen Forschergruppe die vorgelegte Arbeit entstammt. Die in ihr vorgetragene Einheit von Bild und Ereignis wird leider weniger aus dem Material entwickelt als vielmehr unvermittelt und eher apodiktisch zu Beginn des dritten Abschnitts eingeführt. Zumindest in der Darstellung Tremplers zeigt sich nicht nur die Nähe der Bildakt-Theorie zum Verhältnis von Bild und Tatsache bei Wittgenstein, ohne dass auf diesen explizit Bezug genommen würde. Noch deutlicher ist der Widerschein einer jeden inneren Widerspruch lösenden romantischen Verschmelzungssehnsucht, wie sie die idealistische Kunstphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings in der Identifizierung von Kunst und Natur wirkmächtig eingeführt hat.

Warum aber überhaupt tritt Trempler nicht durch die Tür, die er mit seinen bemerkenswerten Bildanalysen öffnet, sondern ruft den Schlüsseldienst der Bildakt-Theorie zu Hilfe?

Zu eng ist der kunstgeschichtliche Horizont des Buches, führt doch zeitgleich zu den besprochenen Werken ein Caspar David Friedrich Landschafts- und Historienbild, Natur und Geschichte zusammen, ganz ohne Katastrophe. Zu eng ist aber vor allem Tremplers ästhetischer und philosophischer Horizont, der sich in Edmund Burke, Denis Diderot und einer frühen Schrift über Erdbeben von Immanuel Kant erschöpft. Könnte doch gerade letzterer helfen, das Rätsel der Katastrophe zu lösen.

Die Katastrophe, die das Erdbeben von Lissabon nicht ist oder darstellt, sondern vielmehr selbst erleidet, ist, dass sie sich im Zeitalter entwickelnder Aufklärung einer Deutung als göttliches Strafgericht entzieht und zum rätselhaften und schrecklichen Ding an sich wird. Es ist die Krise der Wirklichkeit und zugleich die Krise des sie abbildenden Bildes, die Krise der Repräsentation. Zeigen doch gerade Tremplers zentrale Analysen, die von Turners Bildern und denen von Brüllow, diese Krise deutlich auf, ohne dass sie adäquat theoretisch verarbeitet würde. Durch Tremplers Beschreibungen wird implizit deutlich, wie Turner in Ausbruch des Vesuvs (1817) versucht, einen neuen einheitlichen Bildraum jenseits eines mythologischen Zusammenhangs zu schaffen, indem er die Darstellungsmittel des Bildes, Farbe und Form, selbst zum Thema macht, so dass das Bild sich selbst zu reflektieren beginnt und sich derart dem wissenschaftlichen Begriff im Hegelianischen Sinn nähert. Auch zeigt er, wie Brüllow in Bearbeitung des gleichen Themas, in seinem Gemälde Der letzte Tag von Pompeji (1833), das Bild in divergente narrative Zusammenhänge zersplittert, denen die Katastrophe nur noch als Vorwurf dient; wie also das Bild sich zum Zeichen wandelt, ein von Georg Wilhelm Friedrich Hegel für die Kunst seiner Zeit beschriebener Vorgang. Ebenso wird deutlich, wie Brüllow bereits, hier wäre der Bogen zur Gegenwart richtig geschlagen, eine trivialästhetische Strategie entwickelt, die noch für den heutigen Katastrophenfilm, exemplarisch Earthquake (1974), gültig ist. In ihm ist lediglich der christliche Geistliche, den Brüllow, wie von Trempler schön herausgearbeitet, als Hilfe zur ideologischen Orientierung einführte, durch die Verkörperung des amerikanischen Pioniergeistes in Charlton Heston ersetzt.

Aber in der Summe: Nein! Zwischen 1750 und 1850 entsteht im Bild keine Katastrophe, weder als Ereignis noch als Bildakt, der selbst Ereignishaftes generiert. Das Bild selbst erleidet eine Katastrophe, genau wie die Wirklichkeit, die es repräsentiert. Nur in diesem Sinne ist die Katastrophe im Bild.

Titelbild

Jörg Trempler: Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
157 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783803151858

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch