Der Chor der Engelsmörderinnen

Sophia Jungmann und Karen Nölle versammeln Frauenstimmen zum weiblichen Schreiben

Von Nils GelkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Gelker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stellt sie sich schüchtern gebeugt vor, diese große Frau mit dem schmalen Gesicht, wie sie am 21. Januar 1931 hinter das Rednerpult tritt. Demütig gibt sie zu, eigentlich keine arbeitende Frau zu sein, im Gegensatz zu ihren Zuhörerinnen. Kleinlaut gesteht sie, ihr erstes selbstverdientes Geld für eine Katze, einen Luxusartikel, ausgegeben zu haben. Denn ein eigenes Zimmer hatte sie schon und auch die 500 Pfund im Jahr, die sie zwei Jahre zuvor in einem Aufsatz zur Grundlage weiblichen Literaturschaffens erklärt hatte. Virginia Woolf stellt sich bei ihrer Rede vor der Vereinigung arbeitender Frauen dar als eine Frau, die eigentlich nicht arbeitet. Nur eine Sache habe sie tun müssen, um schreiben zu können – oder besser gesagt, um als Frau schreiben zu können: Einen Engel töten. „Den Hausengel“, wie sie ihn nennt, den gütigen, liebevollen Daimon der Hausfrau des viktorianischen Englands. Eigentlich ist dieser Engel nicht böse, immerhin ist er ja ein Engel. Aber damit Woolf schreiben kann, muss der Engel sterben. Nicht mit heimtückischem Gift wird sie den Engel los, sondern im ständigen Ringen und kräftezehrenden Zweikampf.

Dass es sich bei Woolf um die zentrale Stimme der feministischen Literatur im 20. Jahrhundert handelt, ist kein Geheimnis und doch wird dieser Umstand selten so augenscheinlich, wie in der Anthologie Ein Haus mit vielen Zimmern. Fast alle der von Sophia Jungmann und Karen Nölle versammelten Texte handeln auf die eine oder andere Weise von dem Engelsmord, den Woolf in ihrer Rede Berufe für Frauen thematisiert. Nicht zufällig steht dieser Text deswegen als Herzstück in der Mitte der Anthologie. Um ihn herum gruppieren sich Texte des 20. und vor allem des 21. Jahrhunderts von ganz verschiedenen Autorinnen. Internationale Erfolgsschriftstellerinnen wie Margaret Atwood stehen neben hiesigen Größen wie Judith Schalansky, Annette Pehnt und Antje Rávic Strubel sowie ‚modernen Klassikerinnen‘ wie Anna Seghers. Weniges wurde überarbeitet oder neu übersetzt, Erstpublikationen finden sich keine.

Bevor Leserinnen und Leser in dieser interessanten Kompilation von Texten schmökern dürfen, werden sie allerdings von dem flachen Vorwort enttäuscht. Dass man den versammelten Texten viel Raum lassen will und die einleitenden Worte deswegen äußerst knapp gestaltet, mag ja richtig sein. Die bloße Aneinanderreihung der Autorinnennamen ist jedoch nicht nur ein paraphrasiertes Inhaltsverzeichnis und somit schlicht überflüssig, sondern wirkt darüber hinaus noch lächerlich zufällig. Etwa wenn es heißt: „Die Liebe zum Handwerk, die aus Judith Schalanskys Essay über das Büchermachen spricht, lässt sich auch bei Anna Seghers finden. Ihr gelingt es in einer Erzählung aus dem Exil […] die Liebe zur deutschen Heimat zu retten“. Mit Verlaub: Anna Seghersʼ geisterhafte Erzählung vom Ausflug der toten Mädchen hat mit Schalanskys typografischer Kenner- und Leidenschaft genauso wenig zu tun wie der Serviertipp auf einer Müslipackung.

Diese einleitende Bruchlandung ist umso erstaunlicher, da Jungmann und Nölle ein meisterhaftes Gespür für die Zusammenstellung und Anordnung der Texte beweisen. Die dreizehn Prosatexte der Anthologie lassen sich in Blöcke aufteilen, die teilweise durch Gedichte von Nora Gomringer konturiert werden, allerdings niemals hermetisch abgeriegelt sind.

So stellen die meisten Texte des ersten Blocks eine Reflexion der Gattung Erzählung dar. Wirklich Neues liest man dort zwar nicht: Tania Blixen (Die leere Seite) entfaltet das Potenzial des Ungesagten, Sylvia Plath (Ein Vergleich) das der Verknappung in Kurzprosa. Interessant ist aber, wie diese Reflexionen häufig vor einem genuin weiblichen Hintergrund vonstattengehen. Bei Blixen etwa stehen die blutbefleckten Laken nach der Defloration in der mittelalterlich-höfischen Hochzeitsnacht für iterative Geschichten, denen ein singuläres und tabuisiertes weißes Laken entgegensteht. Bei Ali Smith (Die wahre Kurzgeschichte) wird die Gattung von der Erzählerin und ihrer an Brustkrebs erkrankten Freundin mit der Nymphe Echo verglichen. Abgelöst werden diese theoretisch-reflexiv aufgeladenen Texte durch Blaubarts Ei, eine längere Erzählung Atwoods. Hier gelingt es der Protagonistin nicht, im Milieu der Neureichen eine eigene Identität zu erschaffen, sie bleibt fixiert auf ihren Ehemann. Erst die literarische Tätigkeit erlaubt es ihr, diese Abhängigkeitsstruktur zumindest zu erahnen. Im eigenen Schreiben plötzlich blockiert, erblickt sie in sich selbst einen traurigen Engel, der ihren Mann umsorgt. Dass der intertextuelle Verweis auf Woolf nicht direkt im Anschluss, sondern erst fünfzig Seiten später entdeckt werden kann, gehört zu den besonderen Reizen der Anthologie.

Der mittlere Teil versammelt eine Reihe von Essays und Reden. Neben Woolf sticht vor allem Strubels Mädchen in Betriebnahme hervor. Kenntnisreich und intelligent führt Strubel ihre kritische Sicht auf den Umgang des Literaturbetriebs mit Autorinnen vor. Mal überblendet sie witzig die Perspektivierung auf das „Mädchen“ mit dem gleichnamigen 90er-Jahre-Hit von Lucilectric. Das Lachen vergeht einem aber schnell, wenn es um die Schriftstellerin als Zierrat auf dem Interviewsofa geht, die dann auch noch subtil von den „Herren“ in eine bestimmte Mädchenrolle gedrängt wird. Also alles nur Körperlichkeit, wenn es um Frauen im Literaturbetrieb geht? Das sicherlich nicht. Strubels These, dass die Rückführung auf die Körperlichkeit von Autorinnen allerdings zu castingähnlichen Inszenierungen führt und letzten Endes tiefgehende literaturgeschichtliche Konsequenzen hat – so ein Körper hält immerhin nicht ewig, der große Gedanke eines männlichen Schriftstellers angeblich schon –, ist bestechend.

Wäre übrigens nicht Strubels Bemerkung über den marketingorientierten Para-Text – also die Buchaufmachung, die das Bild vom weiblichen Schreiben entscheidend vorpräge –, dann wäre der persönliche Einblick, den Judith Schalansky wenige Seiten später in ihre typografische und buchgestalterische Werkstatt gibt, geradezu banal. Das Veto, das der Schriftstellerin nach  Strubel zustehe, wenn es um die Aufmachung ihrer Bücher gehe und das sie auch nutzen solle, erhebt Schalansky zur literarischen Hauptsache. Dadurch erscheint ihr individueller Arbeitsstil in der Wechselwirkung mit Strubels Essay als Maßnahme gegen die Vereinnahmung des Buchmarkts. Auch hier geht das Konzept der Anthologie also auf, auch wenn der Text der eigentlich so großartigen Schalansky sicherlich zu den schwächsten der Sammlung gehört.

Das letzte Drittel von Ein Haus mit vielen Zimmern weitet die Thematik deutlich aus. In den Erzählungen von Tove Jansson (Die Hauptrolle) und Anna Seghers (Der Ausflug der toten Mädchen) spielt das Schreiben zwar eine Rolle, tritt auf der Handlungsebene aber in den Hintergrund. Dafür inszeniert Jansson nochmal den Weg einer Schauspielerin, die den woolfschen Engel zunächst noch finden muss. Seghers’ Erzählung über eine Klasse von Schulmädchen, deren Freundschaften im Dritten Reich zerbrechen, gehört zu einer Meisterleistung der Gattung, die gleichermaßen zu Recht und zu selten Schullektüre ist. Schriftstellerei kommt hier dem Bau eines Mahnmals gleich.

Insgesamt lädt das – wie bei editionfünf nicht anders zu erwarten – schön aufgemachte Buch zum Blättern und Lesen ein. Jeder Text hat eine typografisch variierte Überschrift und die Liebe zum Detail findet sich selbst auf dem Umschlag wieder: Wer genau hinsieht, entdeckt hier eine Kakerlake, die dem Essay von Clarice Lispector entkommen ist. Der Variantenreichtum der Autorinnen, Textlängen und -genres macht aber auch die Komplettlektüre zu einem abwechslungsreichen Vergnügen. Ein Lehrbuch zum weiblichen Schreiben ist hier nicht zu erwarten, viel mehr handelt es sich um ein Lesebuch im besten Sinne: Es ist gleichermaßen unterhaltend wie anregend.

Titelbild

Sophia Jungmann / Karen Nölle (Hg.): Ein Haus mit vielen Zimmern. Autorinnen erzählen vom Schreiben. Erzählungen, Essays und Gedichte.
Edition Nautilus, Gräfelfing 2015.
226 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783942374712

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