Eine deutsche Perspektive auf die Katastrophe

Roland Schimmelpfennigs „Fukushima“-Stück „An und aus“

Von Lisa MundtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Mundt

Unmittelbar auf „Fukushima“ folgten sowohl in Japan als auch in Europa viele künstlerische Reaktionen, die die Geschehnisse in den betroffenen Gebieten im Nordosten Japans thematisierten. So lagen bereits im Frühjahr 2011 einige atomkritische Arbeiten japanischer Dramatiker vor, die auch international auf große Resonanz stießen. In Tôkyô ansässige Gruppen zeigten sich auch jenseits der Bühne solidarisch, sammelten Spenden und organisierten in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Art Revival Connection Tôhoku (ARC>T) Gastspiele in den Katastrophengebieten.

Für die europäische Perspektive sind exemplarisch vor allem die Stücke Kein Licht (2011) und der Folgetext Fukushima – Epilog (2012) der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zu nennen, die auch in Japan Beachtung fanden: Das renommierte internationale Theaterfestival Festival/Tokyo zeigte im November 2012 Kein Licht im Rahmen eines Jelinek-Schwerpunktes in der Regie von Miura Motoi (*1973, Theatergruppe Chiten), und der Theatermacher und Performancekünstler Takayama Akira (*1969) zeigte in Auseinandersetzung mit Fukushima – Epilog Interventionen im öffentlichen Raum.

Wie in der japanischen wurde es jedoch auch in der hiesigen Kunst- und Theaterszene bald ruhiger um „Fukushima“. Doch gegenwärtig, im fünften Jahr danach, finden sich in den Spielplänen verschiedener deutscher Schauspielhäuser wieder vermehrt Arbeiten, die sich mit der sogenannten Dreifachkatastrophe befassen – darunter sowohl neue Stücke als auch Produktionen, die bereits kurz nach dem 11. März 2011 entstanden waren. Die Staatsoper Hamburg etwa zeigt die Auftragsarbeit „Stilles Meer“ von Hosokawa Toshio (*1955), inszeniert von Hirata Oriza (*1962, Theatergruppe Seinendan), für das Theater Krefeld und Mönchengladbach verfasste Tanino Kurô (*1976) das Stück „Käfig aus Wasser“, die Hamburger costa compagnie eröffnet das diesjährige 150% made in Hamburg, Festival of Performing Arts des Thalia Theaters mit der Tanzperformance Fukushima, my love, und das deutsch-japanische Theaterkollektiv EnGawa aus München veranstaltet mit Künstlern aus Japan und Deutschland im März 2016 die Reihe Kioku no mirai („Die Zukunft der Erinnerungen“), in die unter anderem das Stück Kiruannya to U-ko san (2011) von Ônobu Pelican (Theatergruppe Manrui Toriking Ichiza) aufgenommen wurde.

Das Nationaltheater Mannheim reiht sich hier mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Roland Schimmelpfennigs Stück „An und aus“ (japanischer Titel: Tsuku kieru) in der Regie von Intendant Burkhard C. Kosminski ein. Interessant ist dabei zunächst der Entstehungskontext: Es handelt sich um eine Auftragsarbeit des Tôkyôter Shin Kokuritsu Gekijô (New National Theatre). An dieser Stelle wird der Japanologe hellhörig, denn eine aktuelle Auftragsarbeit eines renommierten öffentlichen Schauspielhauses in Japan zum Thema „Fukushima“ würde vor dem Hintergrund aktueller politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen ein starkes Signal setzen: Die trauen sich noch was! Doch „An und aus“ ist eine Arbeit aus dem Jahr 2013, die japanischsprachige Uraufführung in der Regie von Miyata Keiko fand am 4. Juni am New National Theatre in Tôkyô statt. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Schimmelpfennig unternimmt nun also im Auftrag den Versuch, das Unbeschreibbare beschreibbar und das Unvorstellbare vorstellbar zu machen. Die Figurenkonstellation erinnert dabei eher an das Setting einer Verwicklungskomödie: Jeden Montag zur gleichen Zeit betrügen sich drei Ehepaare untereinander in einem etwas heruntergekommenen Hotel am Hafen, ohne sich gegenseitig zu bemerken: Frau Z. schläft mit Herrn A., Frau A. mit Herrn Y. und Frau Y. mit Herrn Z.

Im Hotel arbeitet der Junge mit der Brille (der Walfisch), der sich nach dem Mädchen mit dem Fahrrad (die Biene) verzehrt. Das Mädchen wiederum muss oben auf dem Berg Wache halten, und so bleibt ihnen nur die sehnsüchtige Kommunikation via Mobiltelefon.

„Die Erinnerung, befeuert von Bildern, ist die Rakete der Utopie“, sagt der Dramatiker im Programmheft über sein Stück. Aus entsprechend drastischen Bildern und grotesk überzeichneten Szenen, die unterteilt sind in ein „Davor“ und ein „Danach“, ist „An und aus“ denn auch zusammengesetzt: Einer Figur wächst ein zweiter Kopf, eine andere verwandelt sich in einen toten Fisch, und das Mädchen sinkt auf den Meeresgrund, wo es ertrinkt, ohne den Jungen getroffen zu haben.

„Als das Licht wieder anging, hatte ich zwei Köpfe“: die alptraumhafte Katastrophenerfahrung

Leitthema des Stücks ist das Zerbrechen der Illusion von Normalität, in der sich die Figuren eingerichtet haben. Das abrupte Ende des ersten Teils („An“) wird durch unheilvoll flackernde Glühbirnen angekündigt, die wohl auch auf Blackouts und Stromausfälle infolge des Erdbebens und der Reaktorkatastrophe hindeuten sollen. Der Name „Fukushima“ fällt jedoch nicht, auch nicht die Worte Tsunami oder Atomkraftwerk. Den einzigen Hinweis auf den zeitgeschichtlichen Kontext der Natur- und Atomkatastrophe gibt der berühmte Holzschnitt „Unter der Welle im Meer vor Kanagawa“ (Kanagawa okinami ura, 1830–32) des Künstlers Hokusai, der im Foyer des Hotels hängt, sowie ein Radiosender namens „Radio Iwaki“.

Als nach dem Stromausfall das Licht wieder funktioniert, bemerken die Figuren mit Entsetzen körperliche Veränderungen an sich selbst: Frau Z. hat nun zwei Köpfe, Herr A. hat keinen Mund mehr, Frau Y. hat sich in eine Motte und Herr Z. in einen toten Fisch verwandelt, dessen schuppige Haut Blasen wirft und schließlich aufplatzt. Diese Veränderungen sind zunächst als verbildlichte Folgen radioaktiver Verstrahlung wie beispielsweise Mutationen (Herr Z.) oder Missbildungen (Frau Z., Herr A.) zu deuten: „Man denkt an den Janus-Kopf, an die Hydra, an das Bild des Babys mit zwei Köpfen, das nach der Atombombe in Hiroshima geboren wurde“, so Schimmelpfennig.

Im zweiten Teil („Aus“) sitzen die Ehepaare im Dunkeln in ihren verwüsteten Wohnungen und Häusern. Sie sind nicht im Stande, ihr Entsetzen über ihre Verwandlungen in Worte zu fassen, was Schimmelpfennig in alptraumhafte Bilder von Tod und Sterben kleidet: Herr Z. hat das Gefühl zu ersticken und sieht eine Katze seinen toten Fischkörper auffressen. Die beiden Köpfe seiner Frau beginnen sich gegenseitig in Stücke zu reißen. Frau A. versteinert und kann nichts mehr hören, während Herr A. sich mit einer Scherbe den Mund und das Gesicht zerschneidet.

Da die Monstrositäten jedoch für andere – Figuren und Publikum – unsichtbar sind, verweisen sie zudem auf die Unfassbarkeit der Ereignisse: Das Geschehene lässt sich kaum in Worte fassen, und so ringen alle Figuren um Worte, wenn sie ihre Geschichte erzählen. Es ist jedoch überhaupt nicht nötig, die Geschehnisse im Einzelnen via Theatertext zu rekonstruieren. Die Abbildung des Schreckens auf der Bühne kann deshalb so kontextlos funktionieren, weil die Geschichte der Katastrophe bereits erzählt und ihre Bilder schon durch die hiesigen Medien vermittelt wurden.

Diese Erzählart ist als eine Parallele zur Mehrzahl der japanischen Theaterstücke zu identifizieren, die nach dem 11. März entstanden sind: Da ein umfangreiches Vorwissen des Publikums über „Fukushima“ vorausgesetzt wird, wird weder ein expliziter Bezug zum zeitgeschichtlichen Kontext hergestellt, noch das Thema Atomenergie aus einer kritischen Perspektive diskutiert.

Der Schwarze Regen als historischer Fluchtpunkt

Die zur Motte gewordene Frau Y. hat nach dem Stromausfall das Gefühl, als würde schwarzer Regen auf sie herabfallen, was als Anspielung auf den 1965 erschienenen Roman „Schwarzer Regen“ (Kuroi ame) des Schriftstellers Ibuse Masuji (*1965) intendiert sein könnte.

Ob Schimmelpfennig hier tatsächlich auf einen der bekanntesten Texte der sogenannten Atombombenliteratur (genbaku bungaku) abhebt, der semi-dokumentarisch die Auswirkungen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima aufarbeitet, geht aus dem Programmheft nicht hervor. Der Autor eröffnet hier aber in jedem Fall eine historisch bedeutsame Perspektive auf die Geschichte der Atomenergie in Japan, indem er eine Linie der nuklearen Katastrophen des Landes von Hiroshima bis in die Gegenwart zieht.

Eine ähnliche Intention verfolgte im Frühjahr 2011 eine Guerilla-Aktion des Künstlerkollektivs Chim Pom an dem im Bahnhof Shibuya ausgestellten Wandgemälde mit dem Titel Asu no shinwa (Der Mythos vom Morgen) des Avantgardekünstlers Okamoto Tarô (1911–1996), das die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki sowie das Fischerboot „Glücklicher Drache 5“ (Daigo Fukuryū Maru) darstellt. Chim↑Pom ergänzten das Bild um ein Element, das den Stil von Okamotos Gemälde adaptiert und die zerstörten und beschädigten Reaktorgebäude des Atomkraftwerks in Fukushima zeigt. Auf einer kleinformatigen Leinwand, die in der rechten unteren Ecke des Gemäldes angebracht wurde – da das Gemälde für eine bestimmte Wand in dem nie erbauten mexikanischen Hotel vorgesehen war, befindet sich an dieser Stelle eine Aussparung –, waren nun vier Ruinen zu sehen, aus zweien steigt dunkler Rauch in Gestalt einer geisterhaften Erscheinung mit rot glühenden Augen auf. Bevor das von Chim↑Pom hinzugefügte Bildelement nach einem Tag wieder entfernt wurde, löste es im Online-Nachrichtendienst Twitter eine Diskussion darüber aus, ob Okamoto den Atomunfall von Fukushima möglicherweise bereits in seinem Gemälde vorweggenommen habe.

Das Bild vom schwarzen Regen wird auch im Bühnenbild aufgegriffen: Schwarze Papierschnipsel schweben hinab und überziehen die gesamte Szenerie. Das Bühnenbild besteht in der Hauptsache aus an der Wand befestigten Papierbahnen, auf die die Schauspieler mit schwarzem Filzstift Requisiten malen. Das Papier fällt schließlich zu Boden und erinnert, wenn das Ensemble zwischen den Bahnen herumwühlt, tatsächlich an ein alles verschluckendes rauschendes Meer. In der Fragilität des zusammenfallenden Bühnenbildes findet sich damit auch das Leitthema der Zerbrechlichkeit einer Normalität wieder, die auf Technikgläubigkeit und Konsum gründete.

Fazit

„An und aus“ kreist um die Zäsur, um das Unfassbare, das Bröckeln der Wirklichkeit, das Gefühl, dass nichts mehr ist wie zuvor. Dies thematisiert ein Diskurs über Aufgabe und Selbstverständnis des Theaters nach „Fukushima“, der die Auswirkungen der Dreifachkatastrophe auf das Theater und die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers als zentrale Fragen intensiv reflektiert.

Nach dieser anfänglich beschworenen Solidarität unter den Theaterleuten und dem erhofften Neuanfang scheinen derzeit jedoch eher Ratlosigkeit und Resignation vorzuherrschen. So sahen sich verschiedene Akteure vom Journalisten bis zum Kunstschaffenden nach öffentlich geäußerter Atomkritik von japanischen Autoritäten unter Druck gesetzt.

Der Schriftsteller Takahashi Gen’ichirô (*1951) kritisierte sogar bereits im Jahr 2012 in einem Kommentar zu „Fukushima“ die japanische Neigung, Unerfreuliches einfach zu verdrängen: „Wir Japaner sind Experten im Vergessen unerfreulicher Dinge wie Schrecken des Kriegs oder Umweltverschmutzung – so können wir unser alltägliches Leben weiterführen“.

Vor diesem Hintergrund ist die Aufnahme von Schimmelpfennigs „An und aus“ in den Spielplan zwar insofern eine wichtige Entscheidung, als sie nicht nur an „Fukushima“ selbst erinnert, sondern auch an die allzu große Bereitschaft, zu vergessen – in Japan wie auch hierzulande. Wünschenswert wäre allerdings eine deutlichere Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen Gegebenheiten in Japan im Rahmen der deutschsprachigen Erstaufführung gewesen. Eine Aufführung an einem deutschen Schauspielhaus, das keine Repressionen von staatlicher Seite zu befürchten hat, hätte dies sicherlich leisten können. So bleiben von Schimmelpfennigs Nuklear-Horror vor allem die wortgewaltig gezeichneten Bilder im Gedächtnis, die aber leider nicht in ein als politisch zu wertendes Statement überführt wurden.