Tagebücher von und nach Fukushima

Ein Blick auf die Katastrophe en miniature

Von Jiré Emine GözenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jiré Emine Gözen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „3/11 – Tagebuch nach Fukushima“ von Yuko Ichimura und Tim Rittmann sowie „Reaktor 1F“ von Kazuto Tatsuta sind zum fünften Jahrestag des Tōhoku-Erdbebens beim Carlsen Verlag zwei Bücher erschienen, die von der nuklearen Katastrophe von Fukushima berichten.

Lesern der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung wird die Werberegisseurin Yuko Ichimura aus Tokio bereits bekannt sein, denn dort erschienen ab dem 15. März 2011 – also nur vier Tage nach dem verheerenden Erdbeben in Sendai – Niederschriften und Zeichnungen von der Autorin, in denen sie von ihrem veränderten Alltag, ihren Erfahrungen und ihren Ängsten in der von der Zäsur Fukushima geprägten Metropole berichtete. Aus dem Englischen von dem Journalisten Tim Rittmann übersetzt und zum Blog aufbereitet, wurde das Ganze zu einem sechsmonatigen Projekt, einem Potpourri der Gefühle und Erschütterungen eines zur Normalität gewordenen Ausnahmezustandes. Nun liegt das illustrierte Tagebuch auch in Buchform vor und straft das Stereotyp des demütig lächelnden und alles stoisch erduldenden Japaners lügen.

„Ich dachte, ich muss sterben“ lautet der erste Eintrag vom 11. März 2011 aus Yukos Tagebuch. Diesem voran gestellt sind mehrseitige Illustrationen von jenem traumatischen Ereignis, das sich einer sprachlichen Strukturierung und Verbalisierung zu entziehen scheint. Skizzenhafte Zeichnungen müssen hier das Sprechen übernehmen.

Die darauf folgenden täglichen Einträge geben einen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Yuko. Vermeintlich alltägliche Dinge wie die Vermeidung des Duschens aufgrund der Angst vor den ständigen Nachbeben zeigen, wie wenig Normalität nach der Katastrophe geblieben ist. Erdbebenalarm, Stromsparen, Überlebensrucksäcke, Fernsehnachrichten, wie eine Highschool zur Leichenhalle umfunktioniert wird, und immer wieder das manisches Checken von Twitter, um die neusten Entwicklungen im Auge zu haben, sind zur neuen Realität geworden.

Ebenso wie die äußere kommt auch die innere, private Welt nicht mehr zur Ruhe: Menschen heiraten, verlassen mit ihren Kindern die Stadt, harren aus, streiten, wollen weg, aber können nicht; sie begegnen der Situation mit schwarzem Humor, mit Nervosität und unendlicher Traurigkeit. Eine Reise raus aus Tokio in die Natur führt für Yuko schließlich zu einer ‚emotionalen Kernschmelze‘, in der sich hysterisches Lachen und Weinen abwechseln und an deren Ende die Frage nach einer Trennung von ihrem Partner Yudai steht, der ihr plötzlich egoistisch und kalt erscheint – denn er reagiert auf die Katastrophe ganz anders als sie selbst. Das sind kleine Dramen, die sich in dieser oder ähnlicher Form überall in Japan abgespielt haben. Yuko fasst für sich zusammen: „Manchmal frage ich mich ernsthaft, was nun eigentlich bebt: ich oder der Boden unter mir?“

Und dennoch gibt es fast von Anfang an Momente der Schönheit, die Yuko beschreibt: Die Altstadt, die nicht mehr so grell erleuchtet ist und wie verzaubert an längst vergangene Zeiten erinnert, das Zusammensitzen mit Freunden, der Geschmack von Yakiniku. „Fukinshin“ – ein unangemessenes Verhalten, um psychisch überleben zu können. Ausgehen und Spaß haben, obwohl man ausgerechnet jetzt in Japan lebt. Denn in der Krise wird spürbar, dass jeder Tag der letzte sein könnte.

Nach dem ersten Monat der akuten Krise werden die Abstände der Einträge etwas größer und auch größere Themen kommen zur Sprache wie die Spaltung der Gesellschaft, die Unterkünfte der Flüchtlinge, verstrahltes Essen oder eigene soziale Projekte. Aber die persönliche Erfahrungen – Staub vor dem Hauseingang wegschrubben, weil das die Kontaminierung verringert oder in Fukuoka nach Gurken suchen, weil es in Tokio keine gibt, die aus nicht-verstrahlten Regionen kommen – bleiben im Mittelpunkt. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass es keine Rückkehr in die alte, liebgewonnene Normalität geben kann.

Yuko Ichimura hat mit der Unterstützung von Tim Rittmann einen Text vorgelegt, der keine Fragen beantwortet, nicht moralisiert, keine Vorwürfe erhebt, keinen strukturierten Überblick liefert und auch nicht durch herausragende Illustrationen hervorsticht. Doch genau darin liegt die unglaubliche Stärke dieses Buches. Die Autorin entblößt sich vor dem Leser geradezu und nimmt ihn mit hinein in ihre Verunsicherung und lässt ihn an ihrer Traurigkeit, den Ängsten und Hoffnungen teilhaben. Dabei verweigert sie sich jedweder Form der Abstraktion. Fast schon assoziativ notiert die Autorin Erfahrungen ihres veränderten Alltags und schafft so einen Raum der Intimität, in dem es tatsächlich möglich wird, nachzufühlen, wie es gewesen ist, die Fukushima-Krise in Tokio zu erleben. Als Allegorie dafür, dass sie dennoch nur eine kleine Facette des Mosaiks der kollektiven und privaten Erfahrungen seit Fukushima aufzeigen kann, darf man den Prolog von Yuko Ichimuras Tagebuch verstehen: „In Japan ist Fukushima ein Ort, eine Präfektur, eine Stadt mit Menschen und Häusern und Vögeln auf den Dächern.“

Ein gutes Jahr nach der nuklearen Katastrophe setzt die Handlung von „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima. Teil 1“ ein, dem ersten von insgesamt drei Mangas des Zeichners Kazuto Tatsuta. In diesen erzählt er von seinen Erfahrungen als Arbeiter im Areal des Reaktors F1, wo er ein Jahr mithalf, die Schäden zu beseitigen. Die Zeichnungen entstanden direkt in Fukushima während der Arbeitspausen und erfuhren in Japan große Aufmerksamkeit. Tatsächlich hat die Katastrophe eine neue Manga-Sparte zum Thema Fukushima hervorgebracht und vor allem Geschichten von und über die Arbeiter im Kraftwerk erfreuen sich großer Beliebtheit.

Der deutschen Ausgabe von „Reaktor 1F“ ist ein Vorwort vorangestellt, das erklärt, warum der Autor keine Position zu Tepco oder der japanischen Regierung bezieht: Er möchte lediglich erzählen, was er wahrgenommen und durchlebt hat – wie ein Soldat, der aus dem Krieg heimkehrt. Zu bemerken, dass dies ein schwieriges und kritikwürdiges Unterfangen ist, erscheint beinahe überflüssig und ist sowohl dem Autor als auch dem Verlag zumindest bewusst.

Der Leser wird gleich auf den ersten Seiten in das geisterhaft anmutende Sperrgebiet, zu den sich monströs auftürmenden Ruinen des zerstörten Kraftwerks geführt. Die Bilder sind klar strukturiert, kaum realitätsentfremdend und muten stellenweise fast wie technische Zeichnungen an. Lagepläne der Anlage und Legenden der einzelnen Räume führen dem Leser das Areal minutiös vor Augen.

Im Anschluss daran erzählt Tatsuta rückblendend, wie schwer es war, eine Stelle in Fukushima zu bekommen, wie verwundert und teils auch feindselig das private Umfeld reagierte und welche Steine ihm von Seiten der Bürokratie in den Weg gelegt wurden.

Als es dann endlich so weit ist und er nach Fukushima reisen kann, tun sind vor Ort neue Hürden auf: ein korruptes, mehrstufiges Leihfirmensystem, das Tepco unterstellt ist, zehn Quadratmeter kleine Zimmer mit Hochbetten für sechs Männer und schlechte Mahlzeiten für die der Großteil des spärlichen Gehaltes draufgeht. Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass die Machenschaften vor Ort nicht weit weg von der organisierten Kriminalität sind. Dies ist auch den Arbeitern vor Ort bewusst, doch sie haben ein anderes Problem: Nachdem sie in Fukushima angekommen sind, müssen sie wochenlang ausharren, bis sie endlich beginnen können, zu arbeiten. So beginnt die Zeit am Ort des Unglücks mit zermürbender Langweile, der lediglich Pachinko-Spiel und Wetten entgegengestellt werden können. In den engen Räumen entsteht schnell eine Gemeinschaft, die sich mit genau denselben Dingen und Problemen herumplagt, wie sie jede andere Arbeitsgemeinschaft sonst auch hat. In Fukushima beginnt die Normalität.

Ein einziges Mal können sich Tatsuta und seine Mitstreiter dazu aufraffen, sich das vom Tsunami zerstörte Gebiet anzuschauen. Was sie dort sehen, ist erschütternd und auf merkwürdige Weise viel realer als die unsichtbare Strahlengefahr. Die Verzweiflung darüber, noch immer nichts Sinnvolles tun zu können, vergeht erst nach über der Hälfte des Mangas: Endlich werden Tatsuta und seine Kollegen als Arbeiter eingesetzt. Ihre Aufgabe ist es, die Pausenräume für die anderen Arbeiter herzurichten und sich um deren Wohlergehen zu kümmern. Immer wieder wird dabei davon berichtet, dass Arbeiter – ebenso wie Tatsuta selbst – kurz vorm Hitzeschlag stehen, denn der japanische Sommer ist selbst im Norden ungnädig heiß; unter den Schutzanzügen und -masken wird die Hitze nahezu unerträglich.

So steht bei Tatsuta auch weniger die Radioaktivität im Fokus, sondern vielmehr die Beschwerlichkeiten, die der Hitze und der Schutzkleidung geschuldet sind. Die Erfahrungen, die der Autor vor Ort macht, sind vor allem körperlich – für Angst ist dabei kaum Platz. Denn schlimmer als diese ist, dass es im Schutzanzug während der Arbeit nicht möglich ist, etwas zu trinken, dass der Schweiß, der unter der Maske die Sicht beeinträchtigt, und das Jucken auf der Haut die Arbeiter nahezu in den Wahnsinn treibt. So geht es dann in den Gesprächen auch niemals um die Strahlung, sondern vielmehr um die Aufrechterhaltung des Mineralhaushalts und um verdreckte Toiletten, weil nicht genug Wasser da ist, um zu spülen.

Natürlich müssen trotzdem die ganze Zeit Schutzmaßnahmen gegen die Strahlung getroffen werden. Durch die stetige Wiederholung der gleichen Abläufe stellt sich ein eigener Rhythmus ein, der bizarr wie auch lähmend ist: Socken, Masken, Anzüge anziehen, Strahlenwerte messen, ausziehen, Pause machen, wieder anziehen, ausziehen, Strahlenwerte messen. Es entsteht eine Banalität, die  sich nicht zuletzt darin widerspiegelt, dass die Arbeiter ihre Messgeräte manipulieren, um länger arbeiten zu können. Die Omnipräsenz der Strahlung führt dazu, dass nicht über sie gesprochen wird. Hitze, Schweiß und Langeweile sind dringender und irgendwie auch wahrhaftiger als die Katastrophe selbst. Am Hitzeschlag zu sterben liegt näher als an Radioaktivität.

Tatsutas Manga kommt emotionslos und beinahe technokratisch daher. Der Mangel einer Kritik oder zumindest Positionierung gegenüber Tepco mag Leser ärgerlich erscheinen, doch letztlich muss dem Autor zugutegehalten werden, dass er so sehr an die Kontrollierbarkeit der Radioaktivität glaubt, dass er sich bis zu dem Ort vorwagt, an dem sie außer Kontrolle geraten ist. In diesem Sinne ist der Manga eine geradezu hermeneutische Lektüre, in der man etwas über die Abläufe und Zustände vor Ort lernen kann. Interessant ist er allemal. Ob man Tatsutas Sichtweise jedoch teilen möchte, bleibt jedem selbst überlassen.

Titelbild

Tim Rittmann / Yuko Ichimura: 3/11. Tagebuch nach Fukushima.
Carlsen Verlag, Hamburg 2012.
172 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783551791887

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Kazuto Tatsuta: Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima. Teil 1.
Carlsen Verlag, Hamburg 2016.
190 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783551761071

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch