Kunst und Drittes Reich?

Eine Reihe von Studien widmet sich der Literatur und Kunst der Jahre nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft, die sich intensiv und prominent besetzt mit der NS-Zeit beschäftigt hat, hat die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der Literaturwissenschaft nur eine marginale Bedeutung. Und das aus gutem Grund: Kann die Thematisierung der Exil-Literatur sich immerhin als moralisch und politisch legitimiert betrachten und auf große Texte zurückgreifen (etwa Anna Seghers’ „Transit“ und „Das siebte Kreuz“, Heinrich Manns „Henri IV“ oder Bertolt Brechts Stücke oder seinen „Dreigroschenroman“), gilt die Literatur unter dem NS-Regime weder als literarisch hochwertig noch als politisch akzeptabel. Das umfasst insbesondere die Texte von Autoren, die sich dem Nationalsozialismus verschrieben haben. Eine NS-Dichtung von Rang ist bis heute nicht zu sehen. Das Verdikt trifft im Allgemeinen jedoch auch Texte, die dem Nationalsozialismus fern standen, obwohl ihre Autoren in Deutschland geblieben waren. Bedingte Ausnahmen wie die sogenannte Innere Emigration spielten zwar insbesondere in den 1950er- und 1960er-Jahren in der deutschsprachigen Literatur noch eine prominente Rolle, sind aber mittlerweile gleichfalls an den Rand des Interesses gerückt.

Dennoch lässt sich die Literatur in Deutschland unter dem NS-Regime aus dem Kontinuum der literarischen Entwicklung ebenso wenig tilgen wie die Exilliteratur. Und ebenso wenig wie die Exilliteratur ist sie ein Phänomen, das sich auf die Jahre 1933 bis 1945 reduzieren lässt. Wie bereits Uwe K. Ketelsen in seiner großen Studie zur NS-Literatur feststellte („Literatur und Drittes Reich“, 2. Aufl. 1992), entstand ein großer Teil der dem Nationalsozialismus zuzurechnenden Literatur bereits vor 1933. Und die Verbreitung von dem Nationalsozialismus nahestehenden Autoren wie Hans Grimm, Edwin Erich Dwinger oder Heinz Friedrich Blunck hörte 1945 nicht auf. Ganz im Gegenteil, bis zu Beginn der 1960er-Jahre fanden diese Autoren vor allem im kulturkonservativen Milieu Verbreitung, das viele Schnittstellen mit dem bürgerlichen Geschmacks- und Ideologiekosmos hatte. Karl Heinrich Waggerl oder Ernst Wiechert mögen etwa für solche Übergänge stehen. Erst die radikale (zweite) Modernisierung von Literatur und Kultur im Laufe der 1960er-Jahre machte dem – weitgehend – ein Ende.

Notwendig ist die Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst nach 1933 aber noch aus einem anderen Grund: Zwar ist es zweifellos richtig, dass mit dem Beginn der NS-Herrschaft der Großteil der modernen bis avantgardistischen Autoren, Künstler und Kulturschaffenden aus Deutschland vertrieben wurde und den Betrieb der kulturkonservativen bis nationalsozialistischen Repräsentanten überlassen hat. Eine spezifisch nationalsozialistische Moderne, wie sie sich als Engführung von Futurismus und Faschismus in Italien Jahre bewährt hat, gab es nicht. Gottfried Benns Vorstoß in diese Richtung wurde schnell und hart – quasi per Führerentscheid – abgebrochen. Und korrekt ist auch, dass eine ganze Reihe von Autoren und Künstlern, die der Partei nahestanden, sich in den Vordergrund drängte.

Dennoch wurde die literarische Entwicklung in Deutschland nicht abrupt gestoppt. Die Modernisierung von Kunst und Literatur wurde unter Beachtung spezifischer Grenzen weiter vorangetrieben, allerdings eher im Unterhaltungsgenre und von Autoren, die nicht mit dem „System“, also der Weimarer Republik, verbunden wurden. Die Literatur des Dritten Reiches im Ganzen fiel nicht auf einen vormodernen Stand zurück. Ganz im Gegenteil, es gab auch weiterhin eine urbane, moderne Literatur, wenngleich die Extreme – politisch gewollt – sanktioniert und unterdrückt wurden und es zahlreiche Autorinnen und Autoren gab, die im Sinne des Regimes schrieben oder zu schreiben meinten. Der stilistischen Weiterentwicklung konnte sich auch die Literatur im Dritten Reich nicht entziehen. Und auch thematisch ist die Moderne in der Literatur – im Übrigen wie im Film – präsent.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass das nationalsozialistische Regime zwar schnell eine Reihe von Operationen vornahm, mit denen der Kulturbetrieb unter Kuratel gestellt werden konnte. Aber wie unter anderem Dominik Frank in seiner Skizze der Reichstheaterkammer (in dem von Wolfgang Benz und anderen herausgegebenen Band „Kunst im Dritten Reich“) bemerkt, ist das gesamte kulturelle Lenkungs- und Überwachungssystem von „überschneidenden und widersprechenden Kompetenzen“ geprägt. Zwar definierte das System relativ klar erkennbare Grenzen, diese wurden aber nicht von der völkischen Fraktion in der NSDAP gezogen, sondern rekurrierten auf einen kulturellen Minimalkonsens im Nationalsozialismus und waren – noch viel mehr – von persönlichen Entscheidungen bis hin zum Führerentscheid selbst abhängig, mit dem alle anderen möglichen Entscheidungen und Regulierungen hinfällig wurden.

Damit kein Zweifel aufkommt: Der Nationalsozialismus ist eine politisch wie moralisch diskreditierte totalitäre und rassistische Ideologie. Der Literatur in Deutschland in jenen Jahren haftet in der Tat ein „Geruch von Blut und Schande“ an, wie Thomas Mann in seiner Abrechnung mit der Literatur im Nationalsozialismus 1945 schrieb. Denn es ist zweifelslos keines der Ruhmesblätter der deutschen Literatur, dass es sie auch im Dritten Reich gegeben hat. Der „Schuld“, Teil des NS-Systems gewesen zu sein, entkommt niemand, erst recht niemand, der öffentlich gewirkt hat, und dann auch noch in einem derart aufgeladenen Bereich, wie es Kunst und Literatur sind. Aber selbst wenn es sich beim NS-Regime um ein Extrem handelt, in welchem System würde sich die Mehrzahl der Autoren nicht anpassen? Und es steht einer Literaturwissenschaft nicht gut zu Gesicht, wenn sie bei diesem Attest stehen bleibt.

Hier gilt ähnliches wie bei der kritischen Edition von Hitlers „Mein Kampf“, um die jüngst noch eine heftige Debatte entbrannt ist: Wer den Nationalsozialismus verstehen will, muss auch dieses Buch verstehen, und zwar nicht, weil es die Blaupause des NS-Regimes abgeben würde, sondern weil es – Stand 1925/26 – das Weltbild Hitlers vor der Machtübernahme erschließbar macht. Dieses Buch kommentiert zu edieren ist mithin eine überfällige Notwendigkeit gewesen, kein aufmerksamkeitsheischender Missgriff oder ein gefährlicher Zeitvertreib. Wer Regime wie den Nationalsozialismus verhindern will, muss sie verstehen – und wer verstehen will, wie eine Literatur in einem totalitären Regime geschrieben wird und welches Profil und welche Rolle der Literaturbetrieb dabei einnimmt, muss sich den konkreten historischen Beispielen widmen. Ästhetische Wahrnehmung funktioniert auch in einem rassistischen und totalitären Regime. Die Differenz zu den offenen zeitgenössischen Gesellschaften ist geringer als vermutet, und das trotz extremer Texte wie die etwa Hans Zöberleins, Konrad Bestes oder anderer.

Dass die Beschäftigung mit solchen literarischen Phänomenen keinen Spaß macht, dass diese Literatur nicht genossen werden kann, sondern Mühen auferlegt, mehr noch, dass hier Texte extrem geringen stilistischen Niveaus und politisch inakzeptablen Inhalts betrachtet werden müssen, bei denen auch Wissenschaftler – bei aller professionellen Distanz – an ihre Grenzen kommen, versteht sich fast von selbst. Daneben aber wimmelt es im Literaturbetrieb in NS-Deutschland auch von aufschlussreichen, ja gar guten und stilistisch anspruchsvollen Texten. Dass es diese Texte im Nationalsozialismus geben konnte und musste, ist ein ebenso wichtiges Faktum wie die Frage nach der Qualität von Anpassungsleistungen von Autoren, die im Regime publizieren wollten und mussten. Hans Fallada, Günter Eich, Erich Kästner, ja sogar Thomas Mann sind, was das angeht, aufschlussreiche Fälle, und eben nicht nur Bruno Brehm, Edwin Erich Dwinger oder Frank Thiess.

Eine Einführung in die Literatur von 1933 bis 1945

Deutlich geringer als für die kommentierte Edition von Hitlers „Mein Kampf“ wird die Aufmerksamkeit für die Einführung in die deutschsprachige Literatur sein, die Gregor Streim soeben beim Erich Schmidt Verlag in den „Grundlagen der Germanistik“ publiziert hat. Das Projekt war ursprünglich für die Lehrbuchreihe konzipiert worden, die vor einigen Jahren beim Akademie-Verlag mit großem Aufwand begonnen wurde. Die Reihe wird derzeit aber nicht gepflegt, so dass der Verlagswechsel wohl notwendig wurde. Dennoch ist die ursprüngliche Struktur, die allen Akademie-Bänden gemeinsam ist, dem Band noch anzusehen.

In dreizehn Kapiteln unternimmt Streim den Versuch, die Literatur der Jahre 1933 bis 1945 vorzustellen, und sieht sich dabei dem Problem ausgesetzt, den Spagat zwischen der deutschsprachigen Exilliteratur und der Literatur in NS-Deutschland zu ermöglichen. Gegensätzlichere Literaturen kann man sich auf den ersten Blick kaum vorstellen, und dennoch sind selbst zwischen diesen beiden literarischen Gruppen Verbindungen erkennbar: die Neigung zum historischen Roman oder die Reflexion der von den Nazis als „Systemzeit“ diskreditierten Jahre der ersten deutschen Republik. Auffallend ist, dass Streim die Texte der Zeit vor 1933 ausklammert. Was das Weiterwirken von Exil und NS-Zeit angeht, zieht er hingegen die Grenze keineswegs derart entschieden, aber das mag dem ursprünglichen Konzept der Lehrbuchreihe geschuldet sein, die im abschließenden Kapitel solche Ausblicke wünscht.

Der Aufbau der Einführung ist hinreichend geschlossen: Der Band beginnt mit einem Abschnitt über die „Spaltung der deutschen Literatur“, um sich anschließend der literarischen Arbeitsbedingungen im Exil und in NS-Deutschland, insbesondere der politischen Inanspruchnahme von Literatur zu widmen. Die Situation in Österreich bis 1938 und in der Schweiz wird in einem anschließenden gesonderten Kapitel behandelt. Darauf folgt das „Schicksal der Avantgarde“ nach 1933, dargestellt an den Beispielen Gottfried Benn, Expressionismusdebatte und Brechts Weiterentwicklung des epischen Theaters im Exil. Die Literatur und die inszenierte Volksgemeinschaft wird in den beiden folgenden Kapiteln skizziert, wobei Streim auffallenderweise in den Schlussabschnitten der beiden Kapitel in den Film ausweicht. Angesichts des massiven Antisemitismus des NS-Staats erklärt sich das Kapitel über die „jüdische Erfahrung“. Innere und äußere Emigration werden ebenso in eigenen Kapiteln behandelt wie die Epochendeutung im Exil-Roman, für die sich Streim auf Brochs „Tod des Vergil“ und Thomas Manns „Doktor Faustus“ stützt, die beide während der späten Exiljahre entstanden. Seit Jahrzehnten spielt die Sprachkritik in der Behandlung von Exil und NS-Zeit eine zentrale Rolle, die Inanspruchnahme von Sprache für den politischen Totalitarismus, die durch Klemperers „LTI“ prominent behandelt wurde, einerseits und die Furcht vor dem Verlust des eigenen Sprachraums andererseits, die bei vielen Autoren einen zentralen Platz einnimmt. Das schwierige Verhältnis des Exils zur Literatur in Deutschland und umgekehrt, die vergeblichen Versuche zahlreicher Autoren, sich nach 1945 erneut in Deutschland zu etablieren, bilden den Abschluss.

Streim stützt sich in den einzelnen Kapiteln nach einigen einleitenden Überlegungen auf die Lektüre einzelner literarischer Texte, was legitim und notwendig ist, aber naheliegend den Ruf nach einer breiteren Textgrundlage provoziert, zumal dann, wenn ganze Textgruppen unbehandelt bleiben. Und in der Tat ist die Zahl der behandelten zeitgenössischen Quellen eher klein, Streim fokussiert sehr stark auf die Präsentation weniger Quellen, die er in eine sinnvolle Ordnung zu bringen versucht. Er entwickelt ein Muster, mit dem er seinen Zeitraum erschließt, und dieses Muster ist nachvollziehbar: Streim skizziert das Bild einer Literatur, die sich – soweit sie in Deutschland entsteht – in die Abhängigkeit einer populistischen, führerzentrierten Diktatur begibt und von ihr vollständig unterworfen wurde. Er stellt die Produktionsbedingungen von Literatur in den Vordergrund und integriert darin die jeweiligen exemplarischen Analysen einzelner Texte, die ihm jeweils besonders aussagekräftig zu sein scheinen.

Dass er in diesem Kontext die Begrifflichkeiten Exil und Emigration ähnlich unscharf verwendet wie die Zeitgenossen, nämlich synonym, wird man ihm nicht vorwerfen können, auch wenn er damit die Möglichkeit aufgibt, die besonderen Bedingungen der Vertreibung zu kennzeichnen, die, wie er schreibt, 500.000 Menschen betraf, von denen möglicherweise etwa 10.000 als „Schriftsteller, Journalisten und andere Kulturschaffende“ tätig waren – was allerdings eine Formulierung ist, die zu korrigieren wäre.

Streim deutet damit immerhin an, dass in etwa die Hälfte der Autoren NS-Deutschland verlassen hätte, meint man doch die Majorität dieser 10.000 in den schreibenden Berufen verorten zu können. Das ist aber nicht korrekt.

Nun verzeichnete die Reichsschrifttumskammer im Jahre 1941 rund 10.000 Schriftsteller. Jan-Pieter Barbian gibt in seinem Standardwerk zur Literaturpolitik im Dritten Reich die Zahl von 12.000 Schriftstellern an (Jan-Pieter Barbian: „Literaturpolitik im ‚Dritten Reich‘. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder“. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe. München 1995). Alexander Stephan ging in den späten siebziger Jahren von rund 2.000 exilierten Autoren aus („Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945. Eine Einführung“. München 1979). Ein Blick in die Quelle Streims klärt das Missverständnis: Dort wird die Zahl der Schriftsteller auf etwa 2.500 geschätzt. Hinzu kommen 600 Rundfunkleute, 4.000 Künstler aus dem Bereich Theater, 2.000 vom Film, 200 aus der Fotografie und 120 aus dem Bereich Tanz. Hinzu kommen circa 2.000 Hochschulmitarbeiter. Wie der Verfasser des Artikels zur „intellektuellen, literarischen und künstlerischen Emigration“, wiederum Alexander Stephan, schreibt, „dürften somit weit über 10.000 Angehörige wissenschaftlicher, technischer, publizistisch-literarischer sowie künstlerischer Berufe den Machtbereich der NS-Diktatur wegen politischer und/oder ‚rassischer‘ Verfolgung sowie aus Gründen der kulturellen Dissenz verlassen haben“ („Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945“. Hrsg. von Claus Dieter Krohn et al. Darmstadt 2008). Das aber ist etwas anders als die „10.000 Schriftsteller, Journalisten und anderen Kulturschaffenden“, von denen Streim schreibt.

Streim folgend ist die Literatur in den Jahren 1933 bis 1945 deutlich in zwei Bereiche zu trennen, von denen der eine unter die Diktatur der Partei geraten war und sich damit nicht nur abfand, sondern dort auch weitgehend einfand. Während der andere Teil – ideologisch tief gespalten – ins Exil gedrängt wurde und dort unter extremen Bedingungen arbeiten musste.

Die zögernde Haltung Thomas Manns, der später zu einem entschiedenen Gegner des NS-Regimes wurde, ist ebenso geschildert wie Gottfried Benns persönliches Bekenntnis zum NS-Regime und Klaus Manns enttäuschte Antwort darauf. Die Expressionismusdebatte findet ebenso Platz wie die deutsch-jüdische Literatur. Die Innere Emigration ist ebenso Thema wie der Ausweg aus den Wirren der Moderne in den Mythen des historischen Romans, die in beiden deutschen Literaturen stattfand. Streim ist zunächst im Wesentlichen nicht zu widersprechen, da dieses Bild ja durchaus konsensfähig ist. Zumal eine Einführung in die Literatur dieses Zeitraums gut daran tut, auf ein gesichertes Muster zu rekurrieren, statt auf neue Forschungsperspektiven zu verweisen und Ungesichertes vorzustellen. Allerdings hätte ein bisschen weniger Konvention dem Band durchaus gut getan. Und hin und wieder ist ihm zu widersprechen oder sind Korrekturen vorzunehmen. Mit anderen Worten: Das Bild, das Streim zeichnet, ist nicht falsch, wie einzuräumen, aber eben auch nicht richtig, wie dagegenzuhalten ist.

Insbesondere die Brüche des Systems treten zuweilen doch etwas zu sehr in den Hintergrund. Die junge, nicht nationalsozialistische Literatur, die seit einigen Jahren die Forschung, und hier insbesondere den lange an der FU Berlin lehrenden Literaturwissenschaftler Horst Denkler, intensiver beschäftigte, gerät dabei ebenso aus dem Blick wie jene urbanen Texte und Plattformen, die ihre Entsprechung im Unterhaltungsfilm der Jahre 1933 bis 1945 hatten. Ein Blick auf Zeitschriften wie „Die neue Linie“ oder „Die Dame“ zeigt das. An den Feuilletonseiten von „Frankfurter Zeitung“, „Krakauer Zeitung“ und „Kölnische Zeitung“ lässt sich das gleichfalls bestätigen. Der Verweis auf Autoren wie Hans Fallada, Horst Lange und Marie Luise Kaschnitz ergänzt das Bild. Möglicherweise waren eben doch größere Teile der Literatur in Deutschland nicht nationalsozialistisch affiziert, sondern einer urbanen und modernen Kultur zuzuordnen, deren Übergänge zur spezifischen NS-Kultur fließend waren und die eben keineswegs deckungsgleich mit einer völkischen Kultur war.

Auch die Re-Ethnisierung des jüdischen Bekenntnisses (Walther Rathenau), die bis weit in die Nachkriegszeit reichte und die wohl eine der fatalsten Folgen des NS-Antisemitismus ist, wird von Streim übernommen. Dabei ist durchaus fraglich, ob Autoren wie Nelly Sachs und Paul Celan sich derart klar zu ihrer jüdischen Herkunft bekannt hätten, wären sie vom NS-Regime nicht dazu gezwungen worden. Und ebenso fraglich ist, ob die zahlreichen Revisionen der jüdischen Integration wie etwa Wilhelm Speyers „Das Glück der Andernachs“ (1947) überhaupt entstanden wären, hätte das Regime nicht die als jüdisch deklarierten Teile der deutschen und europäischen Bevölkerung vertrieben oder vernichtet. Darauf verweist Streim sogar, allerdings greift seine Argumentation die Aufgabe der jüdischen Integration in die Mehrheitsgesellschaft nicht an.

Die Exilliteratur ist bei näherem Hinsehen deutlich kritischer zu sehen, als dies angesichts der vorgestellten Großtexte erscheint. Fraglos gehören Romane wie Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“, Thomas Manns „Doktor Faustus“, Anna Seghers „Transit“ und Klaus Manns „Der Vulkan“ bis heute zu den bedeutenden Texten nicht nur jener Jahre. Und Texte von Feuchtwanger, Brecht, Heinrich Mann und anderen wären hinzuzufügen. Zugleich ist die Exilliteratur von einer Vielzahl marginaler Texte bestimmt. Gerade für die Lyrik kam ein Band mit Analysen vor einigen Jahren zu einem eher negativen Ergebnis. Die Lyrik des Exils sei mithin – mit Ausnahme von Brecht – mehr von Stagnation und formaler Resignation bestimmt als von Aufbruch und dem Interesse am Experiment („Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit“. Hrsg. von Jörg Thunecke. Amsterdam, Atlanta 1998). Das ist erklärbar und plausibel, aber diese Bewertung findet bei Streim keinen Platz.

Bleiben noch kleinere Missgriffe, die allerdings bei einem solch umstrittenen Thema nicht ausbleiben können: So spricht Streim vom arisierten S. Fischer-Verlag Ende 1933, was so nicht korrekt ist. Auch scheint eine Formulierung wie von „einem der wenigen modernen Autoren, die im Dritten Reich blieben“, darauf zu deuten, dass Erich Kästner, der so charakterisiert wird, damit allein steht. Aber denkt man an Hans Fallada, Axel Eggebrecht, Ernst Glaeser, Wolfgang Koeppen, Marieluise Fleißer oder auch die wie Koeppen nach Deutschland zurückgekehrte Irmgard Keun, dann vermehrt sich deren Zahl deutlich, auch wenn sie zum Teil nicht publizierten. Keine Frage, diese Namen tauchen auch bei Streim auf – aber eben an anderer Stelle und in anderen Zusammenhängen.

Es liegt vielleicht nahe, das Thing-Spiel als spezifische NS-Form von Literatur aufzunehmen und vorzustellen. Dass es aber nach kurzer Zeit wieder fast völlig verschwand, lässt sich nur in einer Nachbemerkung und an unscheinbarer Stelle finden: Was aber ist von der vorgeblichen Vorzeige-Gattung der NS-Literatur zu halten, wenn sie nach knapp zwei Jahren bereits wieder demontiert wird? Wenig. Ein anderes Bild zeigt sich hingegen, wenn das Thing-Spiel, wie Evelyn Annuß im Band über die „Kunst im NS-Staat“ klarstellt, in den Kontext der Propaganda-Strategien des Nationalsozialismus und der Nutzung von Medien gestellt würde. Dass statt kollektiver Repräsentationen eher das Führerprinzip durchgesetzt, statt der sperrigen Deklamationen eher die Unterhaltungsliteratur gefördert wurde, lässt sich aus den spezifischen Bedingungen der NS-Zeit direkt ableiten.

Zudem weicht Streim an zwei Stellen auf den Film aus, um die Besonderheiten der NS-Literatur und -Kultur vorzustellen – und vergibt damit die Chance, sich intensiver mit literarischen Phänomenen zu beschäftigen – naheliegenderweise auch deshalb, weil eben Leni Riefenstahls Parteitagsfilme und Heit Varlans „Jud Süß“ auf bequeme Weise dem Stereotyp der NS-Kultur entsprechen. In der Literatur sind Antisemitismus und Führerverherrlichung gleichfalls zu finden, aber mit ungleich größerer Anstrengung. Insbesondere dann, wenn es in den Roman geht, werden die Lektüren aufwendiger (und unappetilicher) und ist der Distanzierungsbedarf größer.

Immerhin beschäftigt sich Streim mit der sogenannten heroischen Dramatik und der Lyrik der ‚jungen Mannschaft‘. Viel weiter reicht seine direkte Beschäftigung mit der Literatur im NS-Deutschland aber nicht. Der gesamte essayistische Vorlauf unter Einschluss von Hitlers „Kampf“-Buch fehlt, die großen Romane von NS-Autoren (vor und nach 1933) fehlen. Die Konjunktur der Kriegsromane vermisst man, auch die Thematisierung der Weimarer Republik in den verschiedenen Gattungen wird nicht behandelt. Selbst Romane wie Hans Falladas „Wolf unter Wölfen“, die nicht einfach unter das Unterwerfungsverdikt fallen, oder Horst Langes „Schwarze Weide“, die jenseits davon stehen, werden ignoriert, obwohl dafür weiterführende Studien zur Verfügung gestanden hätten (etwa: „Erfahrung Nazi-Deutschland. Romane in Deutschland 1933 – 1945. Analysen“. Hrsg. von Sigrid Bock und Manfred Hahn. Berlin, Weimar 1987 – ein zentraler Titel, der bei Streim fehlt).

Die Innere Emigration wird mit Ernst Jüngers „Marmorklippen“ und Ernst Wiecherts „Der weiße Büffel“ abgehandelt – dass die großen erzählerischen Abhandlungen zur gerechten Herrschaft zwar Erwähnung finden, aber nicht gewürdigt werden, hat fast programmatischen Charakter, ebenso wie der Verweis auf den durchaus kritisch zu sehenden Band von Heidrun Ehrke-Rotermund und  Erwin Rotermund („Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ‚Verdeckten Schreibweise‘ im Dritten Reich“. München 1999), auf den sich Streim stark stützt.

Kunst im NS-Staat

Die Lücken, die Streims Band lässt, und das Profil der NS-Literatur, das dann doch ein wenig Schlagseite bekommt, sind umso genauer beim Blick auf die Beiträge des Bandes „Kunst im NS-Staat“ zu erkennen, der von Wolfgang Benz, Peter Eckel und Andreas Nachama herausgegeben worden ist. Im Band finden sich Übersichtsdarstellungen und Untersuchungen zur Bildenden Kunst, zur Literatur, zum Theater, zum Film, zur Architektur und zur Musik. Auffallenderweise sind die Beiträge zum Film noch die knappsten – was der Neigung Streims widerspricht, sich auf den Film zu verlegen, wo die Literatur nicht einschlägig genug zu sein scheint.

Aber nicht nur daran sind Unterschiede zwischen Streims Darstellung und dem generellen Zugriff der Beiträge im Band von Benz et al. zu sehen. Gerade die Beiträge zur organisatorischen und institutionellen Zurichtung der Kultur im Nationalsozialismus machen deutlich, dass die Nazis keine Mühen scheuten, sich die Kultur in all ihren Sparten untertan zu machen. Mit Ausnahme der Beiträge zur Bildenden Kunst und zur Architektur wird aber zugleich erkennbar, dass eine einsträngig auf die NS-Emblematik ausgerichtete Kunst zum einen nicht durchsetzbar war und auf große Gleichgültigkeit stieß, zum anderen die Grenzen des Lächerlichen schnell überschritt. Bildende Kunst und Architektur sind allerdings deutlich stärker als Repräsentationskünste in Anspruch genommen worden als andere künstlerische Formen.

Das früh ergangene Verbot der Banalisierung von NS-Emblemen zeigt, dass die NS-Funktionäre diese Gefahr schnell sahen und gegensteuerten. Die rasche Ablösung von NS-Funktionären als Theaterintendanten, auf die Dominik Frank hinweist, die mangelnde Unterstützung der Parteibarden im offiziellen Theaterbetrieb und die große Rolle auch der Unterhaltungskunst zeigen, dass ein allzu grobschlächtiges Bild von der NS-Kultur in die Irre führt. Das Regime musste auf der Basis eines minimalen Konsenses völkische, antisemitische und nationalistische Strömungen ausbalancieren – und hatte nicht nur das Selbstverständnis einer modernen Bewegung, sondern auch einer politischen Kraft, deren revolutionärer Charakter bis weit in die Kultur hineinreichte. Die nationale Revolution sollte auch eine kulturelle Revolution sein – was übersetzt nichts anderes heißt, als dass das Regime sich selbst zu erhalten suchte. Und dafür benötigte es eben auch internationale Anerkennung und kulturelle Produkte, die internationalem Standard entsprachen und denen die Zuschauer und Leser nicht davonliefen. Im Theater und im Film, die ihm beide aus unterschiedlichen Gründe nahestanden, ist ihm dies gelungen. In der Bildenden Kunst und Architektur ist das nicht anders, wenn man die heroisierenden und antikisierenden Tendenzen der internationalen Kunst und insbesondere Architektur zum Vergleich heranzieht. Gerade die Architektur gehört zudem zu den repräsentativen Künsten. Ihre großformatigen Planungen gehen deshalb auch nicht auf den „Größenwahn“ ihrer Urheber zurück, sondern hatten die Funktion, die Überlegenheit des nationalsozialistischen Deutschland augenfällig zu machen, wie Winfried Nerdinger betont.

In der Literatur sind die Schnittstellen zu dem, was Sebastian Graeb-Könneker „autochthone Moderne“ genannt hat, gleichfalls vorhanden (Sebastian Graeb-Könneker: „Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vom Nationalsozialismus geförderten Literatur“. Opladen 1996). Mit anderen Worten, je näher man sich die Kunst im NS-Staat anschaut, desto mehr NS-Künstler finden sich eben auch, und zugleich desto mehr Künstler, die mit dem Nationalsozialismus wenig gemein hatten, auch wenn sie in seinem Herrschaftsbereich lebten und arbeiteten.

Das bedeutet eben nicht, dass das Bild der zugleich technisierten wie heroisierten Oberfläche, die das Regime zu kreieren versuchte, falsch ist. Wolfgang Ruppert betont zudem, dass der Kernbereich dessen, was als neue deutsche Kunst verstanden wurde, nationalsozialistisch dominiert war. Auch sind die institutionellen Eingriffe ab 1933 massiv. Die flächendeckende Erfassung von professionellen Künstlern und Autoren in der Reichskulturkammer hatte vor allem die Funktion, die Kultur vollkommen dem Regime zu unterstellen, wobei die Intensität der Auseinandersetzung stark differierte. Auffallend ist die Fokussierung des Regimes auf Theater, Film und Architektur, zu denen als Medium noch – nach anfänglichen Misserfolgen – der Rundfunk stieß. Im Vergleich dazu war die Literatur nachrangig, auch wenn sie immer noch vom Renommee des hohen Kulturgutes zehrte.

Dass Hitler als zentrales Instrument der Reorganisation der NSDAP nach dem misslungen Putsch von 1923 die Buchform wählte, hat nicht nur mit der Verfügbarkeit von Medien zu tun, sondern auch damit, dass das Buch einen hohen symbolischen Wert besaß. Oder, wie Erhard Schütz in seinem Beitrag formuliert: „Viele der Nazi-‚Führer‘ hielten sich ja für Autoren.“

Von Joseph Goebbels stammen nicht nur Theaterstücke und Tagebuchaufzeichnungen, er war zudem Autor eines Romans („Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“, 1929). Seine Tagebücher aus der Kampfzeit ließ er in bearbeiteter Form veröffentlichen, die späteren diktierte er mit der Absicht, sie gleichfalls öffentlich zugänglich zu machen. Sogar Göring publizierte seinen ganz persönlichen Beitrag zur NS-Revolution. Hitler, der anscheinend auf sein Gehalt als Reichskanzler verzichtet hatte (und dem Führer hätte ein „Gehalt“ ja wohl nicht gut zu Gesichte gestanden), bezog und versteuerte seine Einkünfte als „Schriftsteller“, mithin als Autor von „Mein Kampf“, was lukrativ genug war, bei einer Auflage von mehr als 12 Millionen allein in deutscher Sprache. Allerdings war sein Selbstverständnis mehr das eines Politikers, wovon nicht allein das Bekenntnis zeugt, das Hitler an das Ende seiner Kriegserfahrungen setzt: „Ich aber beschloß, Politiker zu werden.“

Ob also die Nazi-Führer, so Schütz, „auf die Literatur fixiert“ waren, ist zu hinterfragen. Obwohl Hinweise wie die zahlreichen Leseveranstaltungen und Literaturpreise, die den Autoren Verbreitung und Auskommen sicherten, genug vorhanden sind. Die Aufmerksamkeit selbst des Propagandaministers, der sich von Amts wegen auch mit der Kultur zu beschäftigen hatte, lag doch mehr auf den populäreren Medien wie dem Film. Und Hitler hat die Rede, nicht ganz ohne Sinn, zur eigentlichen propagandistischen Hauptwaffe erklärt, nicht die Schrift.

Die Beiträge des Bandes, die auf eine Veranstaltungsreihe der Stiftung Topographie des Terrors zurückgehen, geben mithin nicht nur einen Überblick über die institutionellen Maßnahmen des Regimes und die jeweiligen Repräsentanten und Formen, die dem Nationalsozialismus genehm bis angemessen schienen. Sie zeigen auch die Anpassungsfähigkeit des Regimes, das seine strategischen Anstrengungen immer dann änderte, wenn ihm seine Gefolgschaft wegzubrechen drohte. Hinzu kommt, dass das völkische und nationalbolschewistische Erbe, zu dem man auch das Thing-Spiel rechnen kann, mit der Ausrichtung auf den Führer-Staat in Teilen obsolet wurde. Auffallend ist jedoch – und darauf weisen gleichfalls beinahe alle Beiträge unisono hin –, dass das Regime nicht einen sich straff gebenden Apparat aufbaute, sondern zugleich von institutionellen Widersprüchen und persönlichen Auseinandersetzungen geprägt war, zu denen vor allem die Auseinandersetzungen zwischen dem „Modernisten“ Goebbels und dem „Völkischen“ Rosenberg zu zählen haben. Für das gesamte kulturelle System bedeutet das, dass den Protagonisten zwar Grenzen gesetzt wurden (etwa bei der Nutzung avantgardistischer Formen, die Hitler selbst abgelehnt hatte, oder bei der Freizügigkeit in der Darstellung), dass aber zugleich recht große Freiräume bestanden, solange sie nicht von einem der Entscheidungsträger direkt beschnitten wurden. Das führte dazu, dass zahlreiche Repräsentanten der Weimarer Kultur auch in der NS-Zeit aktiv waren, darunter finden sich so renommierte Namen wie Erich Kästner, Hans Fallada, Heinz Hilpert, Herbert Ihering, Caspar Neher, Erich Engel oder sogar Gottfried Benn, der sich nach seiner kurzen exponierten Phase im Dienste des Regimes schließlich wieder in die Wehrmacht zurückziehen musste.

Das Regime setzte eher auf populäre Formen und Überformung als auf ideologische Überanpassung, auf Beherrschung statt Ausrichtung, auf Steuerung statt Beschneidung – allerdings hatte das in der Literatur andere Konsequenzen als in den anderen Medien, wenn man die Beiträge des Bandes Revue passieren lässt. Aber auch hier sind die einschlägigen NS-Texte eher selten in den Bestsellerlisten zu finden, wie Schütz konstatiert. Die „ideologisch prononcierten Autoren“ waren, wie er an anderer Stelle feststellt, „eher in der Minderzahl“. Mehr noch: „Wer damals Feuilleton, literarische Zeitschriften las oder Buchhandlungen aufsuchte“, konnte „stramme Propaganda und Panegyrik“, „wenn er denn wollte, zwar wohl nicht gänzlich, aber doch weitgehend ignorieren.“

Es gab zahlreiche Texte, die auf Linie waren, dennoch hat es den großen, repräsentativen NS-Roman nicht gegeben. Allzu vorschnell auf eine vermeintliche NS-Ideologie ausgerichtete Texte wurden eher vom Theater ferngehalten als gefördert, wie den Beiträgen zum Theater im Nationalsozialismus zu entnehmen ist. Das verhält sich in der Bildenden Kunst und der Architektur anscheinend etwas anders, wenn man an Repräsentanten wie Adolf Ziegler, Arno Breker oder Albert Speer denkt, die in der Tat ein konsistentes Bild einer vom Nationalsozialismus geprägten Kunst ermöglichen. Aber selbst für den Film gilt das nur bedingt. Zwar präsentieren die Parteitagsfilme und der Olympia-Film Leni Riefenstahls die Glanzfolien des NS-Films und ist Veit Harlans „Jud Süß“ wohl das Paradeexempel des antisemitischen Films – das Gros jedoch schließt an internationale Themen und Formen an, die sie auf die spezifischen Bedingungen der NS-Kultur anzupassen versuchten. Auffallend ist dies insbesondere deshalb, weil die Filmindustrie fast vollständig verstaatlicht worden war, während etwa die Literatur im Dritten Reich – trotz der Dominanz des Eher Verlags, zu dem unter anderem der arisierte Ullstein-Verlag und auch der als widerständig geltende Rowohlt Verlag gehörten – immer noch eine relativ große Vielfalt aufwies.

Der Selbstanspruch von Autoren, als ‚geistige Führer‘ neben dem ‚politischen Führer‘ bestehen zu können, führte schließlich zu einigen repressiven Maßnahmen, die anstelle des wenig angreifbaren Hans Grimm (dem Verfasser von „Volk ohne Raum“) den schwächeren Ernst Wiechert trafen, der schließlich für einigen Monate in Haft, davon zwei Monate im KZ Buchenwald verschwand, bis er – hinreichend diszipliniert – wieder entlassen wurde und seine Ergebenheitsschrift „Das einfache Leben“ recht erfolgreich publizierte. Dass Wiechert sich nach dem Krieg als Gegner des Regimes und Repräsentant der Inneren Emigration gerierte und anerkannt wurde, gehört wohl zu den größeren Missverständnissen, die aus jenen Jahren herrühren. Dass er sich erst im Angesicht der nahenden Bundesrepublik entschied, ins Exil zu gehen, während er 1933 noch das NS-Regime begrüßt und in Vorträgen gefördert hatte, gehört zu den Widersprüchen, von denen gerade in der Literatur viele zu finden sind. Und nebenbei: Der derzeitige Wikipedia-Beitrag, der Wiechert ungeschmälert zur Inneren Emigration und zu den Verfolgten des NS-Regimes zählt, ist wohl als Geschichtsklitterung anzusehen und wird weder dem Autor noch seiner Stellung und Wirkung in der Literaturgeschichte gerecht.

Problematisch an diesem Band ist allerdings die von Wolfgang Benz verantwortete Einleitung, in der der Widerwillen des Verfassers gegen die Kunst und Kultur im Dritten Reich sich vielfältig, eben auch stilistisch Bahn bricht. Dies ist – aus persönlicher Sicht – durchaus nachvollziehbar und geht möglicherweise auf die Absicht zurück, dieser Kunst und deren Repräsentanten keinen Raum zu gewähren. Gerade aber weil dieses Thema in der deutschen Geschichte wie Kunst- und Kulturgeschichte notwendig diskreditiert ist, bedarf es größter Sorgfalt und Ernsthaftigkeit, eben auch in der Beschreibung. Indem Benz dies alles mehr oder weniger in Bausch und Bogen abtut, leistet er seinem eigenen Anliegen einen Bärendienst. Und das obwohl er mit dem an der TU Berlin angesiedelten Institut für Antisemitismusforschung, das er von 1990 bis 2011 leitete, über Jahrzehnte hinweg wichtige Forschungen vorangetrieben und verdienstvolle Publikationsprojekte auf die Beine gestellt hat, die heute zum Teil als Standardwerke dienen.

Contre Avantgarde

Dass das NS-Regime sich entschieden gegen die Kunst-Avantgarden ab 1910 gestellt hat, geht nicht zuletzt auf die Grundsatzentscheidung zurück, die Auflösung von Formen und die entschiedene Trennung von Kunst und Leben auszuhebeln: „Kubismus, Dadaismus, Futurismus, Impressionismus usw. haben mit unserem Volk nichts zu tun“, erklärte Hitler in seiner „Programmatischen Kulturrede“ zu Eröffnung der Großen deutschen Kunstausstellung in München (zu finden in: „Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933 – 1939“. Hrsg. und kommentiert von Robert Eikmeyer mit einer Einführung von Boris Groys. Frankfurt am Main 2004). Der Nationalsozialismus nahm für sich in Anspruch, Anwalt „des positiv behaupteten Lebens“ zu sein, wie einer einschlägigen Monografie zur „Neuen deutschen Kunst“ aus dem Jahr 1941 zu entnehmen ist. Das wurde gegen den Destruktivismus und Defätismus der Avantgarden gesetzt, deren experimenteller Umgang mit Farben, Formen und Inhalten als Irrweg gebrandmarkt wurde. Der Rekurs auf den vorgeblich provinziellen Kunstgeschmack Hitlers, der in der Tat jeden Versuch, eine eigenständige, avantgardistisch beeinflusste Moderne zu ermöglichen, nach kurzer Zeit unterbunden hatte, geht dabei fehl. Denn auch Hitlers Geschmacksurteil rekurriert auf eine vorgeblich rassisch grundierte Sicht auf Kunst, deren Ausformung und deren Funktion:

„Wer die Bilder und Skulpturen […] unserer Dadaisten, Kubisten und Futuristen oder eingebildeten Impressionisten mit dem Hinweis auf eine primitive Ausdrucksgestaltung entschuldigen will, der hat wohl keine Ahnung, daß es nicht Aufgabe der Kunst ist, den Menschen an seine Degenerationserscheinungen zu erinnern, als vielmehr den Degenerationserscheinungen durch den Hinweis auf das ewig Gesunde und Schöne zu begegnen.“

Alle Versuche also, wenigstens einige Formen der Moderne mit dem Nationalsozialismus verbinden zu können, mussten fehlschlagen. Bildende Künstler wie Emil Nolde scheiterten mit ihren Bemühungen. Sie konnten spätestens mit Hitlers entschiedenem Urteil zur modernen Kunst auch nicht mehr mit der Unterstützung Joseph Goebbels’ rechnen, der bereits vor der Machtübernahme die Nähe zu Repräsentanten der modernen Kunst gesucht hatte.

Einen analogen Fall schildert Laura Lauzemis im bereits 2007 erschienenen Band „Angriff auf die Avantgarde“ mit dem Versuch des Bauhaus-Künstlers Oskar Schlemmer, sich seinen Platz im sich konstituierenden NS-System zu sichern. Zur Attraktivität des Bandes, der im Antiquariat heute mit Preisen von mehreren hundert Euro gehandelt wird, wird beigetragen haben, dass er eine umfassende Rekonstruktion der Ausstellung „Entartete Kunst“ in der Berliner Variante 1938 enthält.

Der Beitrag von Katrin Engelhardt zur Berliner Ausstellung versucht sich an eine detaillierte Beschreibung von Konzept, Struktur und Funktion der Ausstellung, zu deren Vorbereitung den Ausstellungsmachern deutlich mehr Zeit zur Verfügung stand als in München. Berlin war die erste Station der nunmehr als Wanderausstellung angelegten Ausstellung, was unter anderem daran zu erkennen ist, dass die Bildkommentare nicht mehr direkt auf die Wand, sondern auf Tafeln geschrieben worden waren. Im Unterschied zur Münchener Ausstellung, deren detaillierte Rekonstruktion im Katalog „Entartete Kunst“ („Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-Deutschland“. Hrsg. von Stephanie Baron. München 1992) zu finden ist, war die Berliner Ausstellung strukturierter; sie war propagandistisch besser vorbereitet und wurde von einem breiten Echo getragen. Ungefähr 500.000 Besucher soll die Ausstellung gehabt haben, gegenüber 2 Millionen, die von offizieller Seite für München genannt wurden. Beide Zahlen hält Engelhardt nicht für belastbar, sondern für deutlich aufgerundet.

Ob die Ausstellung ihren Zweck erfüllte, nämlich vor den Abgründen der Verfallskunst derart nachdrücklich zu warnen, dass ihr bis auf Weiteres der Boden entzogen werden würde, muss dahingestellt bleiben. Zwar zeigen die von Engelhardt zitierten Originalstimmen, selbst wenn sie von unverdächtigen Verfassern stammen, dass die Ausstellung vieles bot, was auch Verfechtern der Moderne nicht behagte. Die große Zahl der Exponate und die enge Hängung werden ihr Übriges dazu beigetragen haben, dass der Eindruck nachhaltig erhalten blieb. Dennoch ist auch aus den von Engelhardt zitierten Quellen erkennbar, dass diese Kunst auch faszinierte, kehrten Besucher doch immer wieder zu denselben Exponaten zurück. Unabhängig davon bildeten diese Ausstellungen den Höhepunkt der Kampagne gegen die Avantgarden, deren Repräsentanten daran gehindert werden sollten, sich unversehens auf die Siegerseite zu schlagen, auch weil sie sich als Kontrapunkt derart gut eigneten, um das eigene Kunstverständnis ohne Konkurrenz durchzusetzen. Künstlerische Konjunkturritter und „Märzgefallene“ wollte man nicht, was eben auch dazu führte, dass selbst avantgardistische Künstler, die Gesinnungsgenossen waren oder dem sehr nahe kamen, abgewiesen wurden.

Der Fall Schlemmer verweist nämlich darauf, dass die Identifizierung der künstlerischen Avantgarde mit einer antifaschistischen Haltung nicht funktioniert, nicht funktionieren kann, denn die Verbindungen etwa zwischen künstlerischer Avantgarde und der Heimatkunstbewegung vor 1900 sind bereits irritierend genug. Dass etwa ein Künstler wie Franz Marc, den Isgard Kracht gleichfalls im vorliegenden Band porträtiert, im Dritten Reich diffamiert, aber eben auch verehrt wurde, zeigt, dass es immerhin Nischen und Bewegungsspielraum gab. Dazu beigetragen haben wird, dass Marc 1933 bereits lange tot war und dass er als Offizier eine große Reputation genoss. Auf Betreiben des Deutschen Offiziersbundes wurde etwa der „Turm der blauen Pferde“, der in der Münchener Ausstellung einen zentralen Platz eingenommen hatte, aus der Ausstellung genommen. Eine Konzession, mit der sonst kaum jemand rechnen konnte.

Hinzu kommen jene ideologischen Bewegungen, in denen der Versuch unternommen wurde, die vermeintlich zersplitterten und destruierten Gemeinschaftsformen der modernen Gesellschaft wieder zu vereinen, in denen, um eine einschlägige Begrifflichkeit zu verwenden, ein „ganzheitlicher Blick“ auf Gesellschaft und Kultur geworfen wurde, mit dem deren Verletzungen geheilt und aufgehoben werden sollten. Schlemmer suchte, wie Laura Lauzemis betont, „durch seine kompositorische Arbeit aus dem Chaos und dem Widerstreit der Meinungen Leitbilder einer höheren Ordnung zu schaffen“, was bis heute ein ebenso faszinierendes wie hartnäckig verfolgtes Unterfangen ist, dessen Vergeblichkeit freilich unübersehbar ist.

Dass bildende Künstler wie Oskar Schlemmer trotz ihres Bauhaus-Engagements einem mythischen Denken sehr nahe standen, ist kein Geheimnis. Schlemmers Gegensatz zum Nationalsozialismus entstand mithin auch nicht, weil seine Positionen sich von diesem grundsätzlich unterschieden, sondern weil sein Werk vom Nationalsozialismus nach einer Phase der Orientierung als „entartete Kunst“ gebrandmarkt und er aus dem öffentlichen Kunstbetrieb verbannt wurde. Das Fazit, das Lauzemis aus der bisherigen Forschung zieht, ist deshalb auch auffallend unscharf. Denn die Praxis des Nationalsozialismus, die Schlemmer angeblich die Augen geöffnet hatte, bestand vor allem in der Ausgrenzung aller avantgardistischen Kunstformen und von deren Repräsentanten – nicht im Antisemitismus, im Chauvinismus und in der zynischen Machtpolitik der Nazis. Was im Umkehrschluss wenigstens die Vermutung zulässt, dass sich eine Reihe von deutschen Avantgardisten – ähnlich wie lange Zeit die Futuristen im italienischen Faschismus – mit dem Nationalsozialismus arrangiert hätte, wenn der ihnen wenigstens einen geringen Bewegungspielraum im Kunstbetrieb zugestanden hätte.

Im Briefwechsel zwischen Oskar Schlemmer und dem Anfang 1934 berufenen Leiter des Essener Folkwang Museums, Klaus Graf von Baudissin, lassen sich die Strategien nachvollziehen, mit denen Schlemmer seine Position im Nationalsozialismus bestimmen wollte. Dabei bestehen die Hindernisse nicht auf politischer Ebene. Schlemmer hat keine erkennbaren Probleme mit dem auch von Baudissin offensiv vertretenen Antisemitismus.

Der neue Museumsleiter Baudissin, der immerhin eine bedeutende Serie Schlemmers in seinem Bestand hatte, und der Künstler diskutierten intensiv die jeweiligen Kunstauffassungen, wobei vor allem Schlemmer nach Möglichkeiten suchte, sein Kunst- und eben Weltverständnis an die NS-Ideologie anzuschließen. Schlemmer betonte, wie Lauzemis schreibt, seine nationale Identität und den überzeitlichen Anspruch von Kunst, versuchte aber den Rahmen, in dem Kunst sich bewegte, weiter zu halten, als Baudissin bereit war, zuzugeben. Freilich hatte Baudissin ein halbwegs formulierbares Konzept von dem, was deutsche Kunst sein sollte. Es fehlte leider nur an tauglichen Exempeln.

Schlemmer schlug sich hingegen mit anderen Problemen herum: Dass er in der NS-Öffentlichkeit als „Kulturbolschewist“ bezeichnet wurde, irritierte ihn. In einem Brief an Willi Baumeister 1937 kommentierte er verwundert, dass er nunmehr in einem „Topf mit Stalin, Kerenski, Mördern, Räubern und Juden“ stecke.

Aber da hatte er bereits von Baudissin eine endgültige Abfuhr erhalten. Die kurzzeitig denkbare Möglichkeit, dass eine deutsche Avantgarde Akzeptanz finden würde, hatte sich bereits 1934/35 zerschlagen. Alle Schlüsselpositionen auch im Kunstbetrieb wurden von NS-Parteigängern besetzt, der Zugang zum öffentlichen Kunstmarkt wurde massiv beschränkt, die ideologischen Vorbehalte wurden zudem immer massiver vorgetragen. Die Werke der Avantgardisten wurden ausgesondert und beschlagnahmt – darunter auch diejenigen Schlemmers im Bestand des Folkwang-Museums. Schlemmer ging gezwungenermaßen auf Distanz. Das aber ist eine deutlich andere Lektüre der Materialien als die, die Lauzemis vorschlägt. Es mag durchaus sein, dass die Repressalien, die auch Schlemmer erleben musste, die Tendenz befördert, ihn auch für die Anfangsjahre des Regimes zu entlasten. Die Münchener Ausstellung zur „Entarteten Kunst“, die anschließend auf Tour unter anderem nach Berlin ging, zeigte die Niederlage der Avantgarde an, auch jener Teile, „an deren echtestem Deutsch der Gesinnung und Empfindung kein Zweifel bestehen“ konnte, wie Schlemmer schon 1930 formuliert hatte, um gegen die Praktiken der NS-Kulturfunktionäre zu protestieren. Die Avantgarde wurde erst aus den Museen entfernt, dann in München vermeintlich bloßgestellt, dann enteignet und schließlich – wo nicht verhökert oder zu Lehrzwecken genutzt – vernichtet.

Die Verwertung wurde, so der Beitrag von Gesa Jeuthe, von einer eigens eingerichteten Kommission organisiert, der es nach einigen Einzelverkäufen gelang, das Gros über das Auktionshaus Fischer in Zürich zu verwerten. Die als nicht verwertbar erachteten Werke wurden im März 1939 bereits in Berlin verbrannt – allerdings nicht, wie vom Kommissionsvorsitzenden Franz Hofmann vorgeschlagen, der bereits an der Durchführung der Ausstellung „Entartete Kunst“ beteiligt war, in einer symbolisch aufgeladenen Aktion, sondern unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das Regime hatte gelernt, spektakuläre Aktionen zu meiden, wenn sie die Aufmerksamkeit auf die falschen Themen und zu dem falschen Zeitpunkt lenkten. Die verkauften Bestände gehen auf die Beschlagnahmungen seit 1937 zurück, die schließlich in Enteignungen umgewidmet worden waren. Etwa 17.000 bis 20.000 Werke, Gemälde, Grafiken, Drucke, Zeichnungen und Skulpturen, darunter eine Reihe von Klassikern der Moderne, wurden aus deutschen Museen entfernt und sind, wie Jeuthe bemerkt, nur in einzelnen Fällen wieder dorthin zurückgekehrt. Die damaligen Verkäufe und Beteiligten stehen bis heute unter genauer, ja misstrauischer Beobachtung, wie der Fall Gurlitt zeigt, der vor einigen Jahren durch die Presse ging. Dem beteiligten Kunsthändler wurde vorgeworfen, von der Notlage von Künstlern profitiert zu haben. Dem ist nicht zu widersprechen. Die Alternative jedoch, so Jeuthe, wäre gegebenenfalls der Totalverlust dieser Moderne gewesen.

Ausweitung des Exils

Als Ergänzung zu Streims Beschreibung der Exilliteratur bietet sich das 2013 erschienene „Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur“ an, von dem einige Sacherklärungen, vielleicht aber auch thematische Anregungen und neue Perspektiven zu erwarten sind. Das bei de Gruyter erschienene Handbuch steht in direkter Konkurrenz zu dem bereits 1998 erschienenen, bereits erwähnten „Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945“, das unter anderem von Claus Dieter Krohn herausgegeben worden ist und 2008 als Sonderausgabe gedruckt wurde. Das Ziel des Handbuchs ist allerdings keine erneute Bestandsaufnahme der deutschen Exilliteratur zwischen 1933 und 1945. Der Zeitraum wird lediglich als Referenzzeitraum für das Thema Exil im deutschsprachigen Raum verstanden, um aktuelle „transnationale, transkulturelle und transhistorische“ Forschungstrends in der Exilforschung an Texten exemplarisch vorstellen zu können. Die Handbuchherausgeberinnen Bettina Bannasch und Gerhild Rochus interessierte nicht nur die Thematisierung von Exil in den betreffenden Texten, sondern deren Konsequenzen für das Erzählen selbst. Für die Auswahl der Texte reichte deshalb auch aus, dass in ihnen die Erfahrung Exil thematisiert wurde. Dass die Autoren der Texte selbst Exilanten waren, war dafür nicht notwendig, wie auch nicht erforderlich war, dass die Texte in den Jahren 1933 bis 1945 entstanden waren. Ein Autor wie Heinrich Heine wurde auch deshalb mit berücksichtigt, weil er für die Exilanten selbst wieder ein zentraler Referenzautor gewesen sei. Thematisierung von Exil, die Verbindung von Exil und Erinnerung, die Engführung von Narration und Erfahrung und die Anwendbarkeit neuerer theoretischer Konzepte leiteten mithin die Textauswahl, die zwar als repräsentativ, allerdings nicht als vollständig deklariert wird.

Obwohl damit die Herausgeberinnen den Horizont ihrer Überlegungen von Beginn an deutlich ausgeweitet haben, bleibt das befremdliche Gewicht, das Nachkriegstexte bei den „Literarischen Analysen“ haben. Mehr als ein Drittel der Texte stammt aus der Nachkriegszeit. Hinzu kommen drei Autoren des 19. Jahrhunderts: Rahel Varnhagen, Heinrich Heine und Georg Büchner. Angegeben wird zudem lediglich das Jahr der Erstpublikation, was bei einigen Texten, die zwischen 1933 und 1945 verfasst, aber nicht veröffentlicht wurden, zu Irritationen führt. Da in den einzelnen Beiträgen die Entstehungszeit nur versteckt angegeben wird, entsteht ein merkwürdiges Kontinuum zwischen den wenigen Texten des 19. Jahrhunderts, den Texten zwischen 1933 und 1945 und der Nachkriegszeit, das freilich arg konstruiert wirkt. Auch die Einbeziehung von Texten der Inneren Emigration ist trotz aller begriffshistorischen Bemühungen fragwürdig. Dass Thomas Mann wie Frank Thiess bereits in den 1930er-Jahren den Begriff gebrauchte, spricht nicht gegen die heute durchgesetzte Verwendung, mit der Texte von 1933 bis 1945 in Deutschland gebliebenen Autoren gemeint sind, die auf Distanz zum NS-Regime gegangen sind und dies literarisch verarbeiteten. Wie offen oder verdeckt dies geschah, respektive geschehen musste, ist dabei nachrangig,wie man sich wohl überhaupt von der Illusion verabschieden muss, dass die verdeckten Inhalte solcher Texte nur für Eingeweihte und Gesinnungsgenossen wahrnehmbar gewesen wären. Zudem werden einige nicht unwesentliche Aspekte schlichtweg ausgeblendet: Dass etwa Ernst Jünger darauf bestanden hat, dass er sich „für jeden, der lesen konnte, gezeigt“ habe, geht weniger darauf zurück, dass der angesprochene Text, „Auf den Marmorklippen“ (1939), offen mit seiner Gegnerschaft zum NS-Regime gespielt hätte, als auf Jüngers Selbstzuweisung zum heroischen Nationalismus. Von einem der höchst dekorierten Frontoffiziere des Ersten Weltkriegs, der sich zudem literarisch dem Krieg verschrieben hatte, zu erwarten, dass er verdeckt schreibe, hat er wahrscheinlich als unehrenhaft abweisen wollen.

Nicht aber Jünger, sondern Texte Gottfried Benns aus den Jahren 1933 und 1945 wurden in den Analysenteil des Bandes aufgenommen, was denkwürdig kontraproduktiv ist. Dass die Kontexte, in denen Texte der Inneren Emigration und des Exils entstanden, grundsätzlich unterschiedlich sind, ist dabei auch Erkenntnisstand von Bettina Banasch, die den Beitrag zur Inneren Emigration zeichnet, zumindest soweit dies ihren Reflexionen zu entnehmen ist. Inwieweit dies in der Tat dann auch zu Konsequenzen bei der Narration von Exilsituationen geführt hat, wäre zu prüfen. Allerdings können weder für Benn noch Elisabeth Langgässer halbwegs zuverlässig einem Handbuch des deutschsprachigen Exils 1933 bis 1945 zugeschlagen werden, allein schon deshalb nicht, weil im Handbuch – gegen den zeitgenössisch uneinheitlichen Sprachgebrauch – zwischen Exil und Emigration deutlich unterschieden wird (Paul Michael Lützeler). Gerade das hätte zu einer deutlicheren Grenzziehung und unter anderem zur Abgrenzung von Autoren führen müssen, die sich zwar thematisch dem Exil widmeten, aber selbst nicht zu den Exilanten 1933 bis 1945 gehörten – hätten die Herausgeberinnen denn ein „Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur“ im Sinn gehabt.

Da bekannt und wohl auch zutreffend ist, dass das Gros der Exilautoren sich stilistisch und formal von avantgardistischen Extremen fern hielt und – mehr noch – hinter den Stand von vor 1933 zurückfiel, stößt die Frage nach der Auswirkung der Exilerfahrung respektive -thematik auf die Erzählform erst einmal auf wenig Material. Die Ausnahmen sind bereits genannt worden. Um nun den engeren Kreis der kanonischen Texte verlassen zu können, musste das relativ enge zeitliche Korsett 1933 bis 1945 damit fast zwangsläufig aufgegeben werden. Auf diese Weise geraten sogar derart widersprüchliche Autoren wie W. G. Sebald und Peter Weiss in den Untersuchungshorizont.

Auch erlaubt dies, theoretische Konzepte wie die Postcolonial Studies, Interkulturalität und Genderforschung verstärkt anzuwenden. Wo die historischen Texte dazu nichts hergeben, lassen sich dann eben Nachkriegstexte heranziehen, deren Reflexionsstand sich von dem der historischen Exiltexte eklatant unterscheidet und die ein reichhaltiges Reservoir moderner Schreibweisen bereithalten. Keine Frage, das sind höchst interessante und ergiebige theoretische Ansätze, dennoch ist die Abgrenzung der Textauswahl irritierend und wirkt halbwegs beliebig, was allerdings zum Teil auch auf die angesprochenen theoretischen Konzepte zutrifft.

Nicht weniger Fragen werfen zudem die historiografischen und theoretischen Abhandlungen auf, die den Textanalysen vorangehen. Der Text Paul Michael Lützelers, der sich einen Namen als Hermann Broch-Herausgeber gemacht hat, verliert sich weitgehend in den historischen Weiten des Exils, wie der erste Satz seines ersten Abschnitts zeigt: „Im Anfang war die Migration.“ Damit verliert jedoch die Spanne zwischen 1933 und 1945 ihren historisch und methodisch wie theoretisch zu reflektierenden Ort. Sie wird zu einer weiteren Phase von Migration und Exil in der Menschheitsgeschichte. Der Verweis auf Thomas Manns „Doktor Faustus“, mit dem der Beitrag endet, rettet dies nicht. Gerade wie Lützelers Abhandlung Konkretisierung und Fokussierung vermissen lässt, wirkt auch die Studie von Itta Shedletzky deplatziert, die das „Exil im deutsch-jüdische Kontext“ auf der Basis von zwei Texten von Franz Rosenzweig und Martin Buber vorstellt. Auch hier gerät das Exil des 20. Jahrhunderts zur Episode, diesmal in der Vertreibungs- und Exilgeschichte des jüdischen Volkes, die nach ihrem literarischen Ausdruck sucht. Bettina Banaschs anschließende Diskussion des Begriffs „Innere Emigration“ leidet mithin ebenso daran, dass ein adäquater Beitrag zum „äußeren“ Exil fehlt. Hinzu kommt, dass sie zwar intensiv die Begriffsgeschichte herausarbeitet und zeigt, dass der Begriff von den beiden Nachkriegsdebattanten Frank Thiess wie Thomas Mann gleichermaßen stammt. Sie vernachlässigt dabei jedoch entschieden, dass Thiess als Repräsentant der Inneren Emigration kaum taugt und dass seine Selbstpositionierung nach 1945 strategisch motiviert ist. Vernachlässigt wird auch die Kontamination zahlreicher Autoren der sogenannten Inneren Emigration mit dem NS-Regime. Zuzustimmen ist ihr hingegen, dass „moralisch aufgeladene Pauschalisierungen und Lagerbildungen“ vermieden werden sollten. Vielleicht reicht es auch, den Begriff als Arbeitsbegriff, der zur groben Abgrenzung ausreicht, gelten zu lassen, um sich im Weiteren auf die Einzelfälle und die präzisere Beschreibung des Feldes zu fokussieren. Erhard Schütz’ Beitrag im Band „Kunst im NS-Staat“ bringt hier deutlich mehr Klarheit und ausdifferenzierte Einschätzungen.

Ein ähnlicher Eindruck bleibt vom Beitrag von Bernhard Spies zu den Möglichkeiten, Texte des Exils mit den Denkmustern der Postcolonial Studies zu analysieren. Den Berührungspunkt sieht er im Verständnis von Nation, wobei er von dem Attest Stephan Braeses ausgeht, dass Exilautoren es versäumt hätten, ein „essentialistisches“ Verständnis von Nation aufzulösen und sich von ihm abzugrenzen. Dass Exilliteratur darin nicht aufgeht, kann er nicht zuletzt am Werk Anna Seghers’ und Arnold Zweigs zeigen. Irmgard Keuns Roman „Kind aller Länder“ oder die Romane Klaus Manns, in denen Nation wie Heimat der Unbehaustheit in der modernen Existenz weichen, wären dem hinzuzufügen.

Allerdings bleiben die Instrumentarien der Postcolonial Studies der Exilliteratur und dem damit verbundenen sozialhistorischen Kontext derart fremd, dass ihre Anwendung wenig funktional erscheint. Stattdessen scheinen soziologische Modernekonzepte deutlich besser geeignet, und gelegentlich scheint Spies auf deren Relevanz hindeuten zu wollen. Doerte Bischoff schließt hinreichend an Spies’ Überlegungen an und versucht sie mit Konzepten der Interkulturalität zu verbinden. Dies scheint insofern bessere Perspektiven zu ermöglichen, als ein großer Teil der Exilanten aus dem Exil nicht zurückkehrte und sich der Gastkultur in einem eigenständigen Prozess anverwandelte. Ein nicht zu vernachlässigender anderer Teil jedoch scheiterte an diesem Prozess und verharrte in einer Position zwischen der Herkunfts- und der Gastkultur, von denen er auf Distanz gehalten wurde. Dass die Integrationsstrategie gelingen und scheitern konnte und zugleich einen höchst aufschlussreichen Prozess auch literarischer Reflexion auslöste, ist naheliegend. Marion Schmaus scheint die Ausweitung des Exilbegriffs in Anspruch zu nehmen, die metaphorische Verwendung des Begriffs in der Genderforschung erneut stark zu machen, in der die weibliche Existenz als Exil verstanden wird, mit einem Horizont, in dem Existenz überhaupt von Essenzen wie Heimat oder Nation befreit wird. Dies wendet sie an Texten von Thomas Mann (Josephs-Romane) und Anna Seghers an, in denen ein „erweiterter Exilbegriff“ zur Darstellung gebracht werde, „der sich durch einen gleitenden Übergang zwischen Realität und Metapher“ auszeichne. Mithin wird auch an diesen Texten erkennbar, dass kulturelle Gewissheiten Konstruktionen sind, wohin allerdings auch theoretische Konstrukte, möglicherweise auch direkter geführt hätten. Das setzt sich im Beitrag von Günter Butzer fort, der die Erinnerungsräume der Exilanten als konstruiert versteht. Das zudem in der Erinnerung diachronische durch synchrone Muster ersetzt werden, ist nachvollziehbar. Erinnerung übernimmt zwar diachrone Abläufe, situiert sie jedoch in einem räumlichen Muster, das durch die fiktionale Literarisierung begehbar wird. Auch hier verdrängt ein konstruktivistisches Denkmuster ein generatives.

Unabhängig davon, ob man den theoretischen und historiografischen Zugriffen folgen will oder nicht, bieten sie wahlweise aufschlussreiche oder interessante Aspekte und Ansätze. Sie segeln allerdings unter falscher Flagge, da sie nicht in ein Handbuch und erst recht nicht in eines mit dem Titel „Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur“ gehören. In einem Sammelband zu einem erweiterten, mithin auch metaphorischen Exilbegriff sind sie unproblematisch und diskussionswürdig, aber in einem Handbuch wohl kaum. Das lässt sich auch nicht mit dem Hinweis darauf retten, hier würde weniger ein Forschungsstand wiedergegeben, als dass Forschungsimpulse gesetzt würden. Neben diesem Handbuch wirken die methodisch und theoretisch deutlich weniger ambitionierten Bände, die zuvor besprochen wurden, hilfreicher und praktikabler. Was ja immerhin schon ein Eindruck ist, der der Initiatorin des Handbuchs zu denken geben könnte.

Titelbild

Uwe Fleckner (Hg.): Angriff auf die Avantgarde. Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus.
Akademie Verlag, Berlin 2006.
390 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3050040629
ISBN-13: 9783050040622

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Bettina Bannasch / Gerhild Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. von Heinrich Heine bis Herta Müller.
De Gruyter, Berlin 2013.
653 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110256741

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Gregor Streim: Deutschsprachige Literatur 1933-1945. Eine Einführung.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
267 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783503163779

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Wolfgang Benz / Peter Eckel / Andreas Nachama (Hg.): Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Protagonisten.
Metropol Verlag, Berlin 2015.
472 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783863312640

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