Leider nur ein Vakuum

Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt in „Panikherz“ offenherzig sein Leben und vergisst darüber, ein kohärentes Buch zu verfassen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich hat Benjamin von Stuckrad-Barre nicht eines, sondern vier neue Bücher geschrieben und diese zusammengefasst unter dem Titel Panikherz veröffentlicht. Das Buch soll zum einen seine Lebensgeschichte enthalten, handelt dann genauer gesagt hauptsächlich von seiner Bulimie und Drogensucht. Zugleich ist es aber auch eine Hommage an sein großes Idol Udo Lindenberg. Drittens ist es der eher literarische Versuch, einen an Bret Easton Ellis geschulten Los Angeles-Roman zu schreiben. Und zuletzt ist es ein polemischer Bericht über die Medienbranche, voller humoristischer, sarkastisch erzählter Episoden, die an frühere Veröffentlichungen des Autors anknüpfen. Panikherz wird überraschenderweise offiziell als Sachbuch geführt – und kam als solches auch gleich in der SPIEGEL-Bestsellerliste auf dem zweiten Platz. Ist es also wirklich eine Autobiographie, wie der Ich-Erzähler vorgibt und der Autor in seinen erwartungsgemäß zahlreichen Interviews nicht müde wird zu betonen? Sind all diese Geschichten wirklich so geschehen, sind sie überhaupt geschehen, und wenn nicht, wo zieht Stuckrad-Barre die Grenze? 

Benjamin von Stuckrad-Barre vergleicht sich an einer Stelle des Buches mit Thomas Manns Hochstapler Felix Krull. Glaubt man seiner überaus kokettierenden Schilderung seines beruflichen Werdegangs, so kann man dem nur zustimmen: Als Schüler lernt er zufällig den Herausgeber eines Göttinger Stadtmagazins kennen, der außer sich selbst keine Mitarbeiter hat, und darf dort fortan über Musik schreiben. Der Herausgeber verschafft ihm nach dem Abitur auch ein Praktikum beim Hamburger Indie-Label L’Age D’or. Sein von Lindenberg viel besungener Sehnsuchtsort, die Stadt an der Elbe, ist also endlich erreicht. Eines Tages steht er dort, wie er selbst sagt, „in der Redaktion des deutschen Rolling Stone rum“ und wird als 20-Jähriger ohne Erfahrung vom Fleck weg als Redakteur engagiert. Nach einem Jahr wechselt er als Produktmanager zur (Mitte der 90er sehr erfolgreichen) Plattenfirma Motor Music, nachdem er in einem Club mit einem der Mitarbeiter ins Gespräch gekommen war. Dort setzt er, nach eigener Aussage, alle ihm angetragenen Produktionen in den Sand. Er wird, durch ähnliche Zufallsbekanntschaften, Gag-Schreiber bei Harald Schmidt (der einzige Job, zu dem er sich tatsächlich berufen fühlt) und Mitarbeiter bei Friedrich Küppersbusch. All diese Stationen werden von Stuckrad-Barre mit dem ihm typischen Sarkasmus genüsslich seziert; seine unnachahmliche Spezialität war es schon immer, die typischen Verhaltensweisen von Medienmenschen zu karikieren und sich selbst als gefälligen Trottel zu inszenieren, der naiv danebensteht und irgendwann den ganzen Scheiß mitmacht. Das ist, auch nach fast zwanzig Jahren, immer noch sehr witzig, wirkt aber im Kontext der Geschichte, die der Autor uns hier erzählen will, zuweilen unpassend und redundant. 

Als Küppersbusch dem Verlag Kiepenheuer & Witsch noch ein vertraglich zugesichertes Buch schuldet, es aber nicht abliefern möchte, überbringt sein Assistent Benjamin der Lektorin die schlechte Nachricht. Spontan fällt ihm ein, er könne ja als Küppersbuch-Ersatz selbst ein Buch anbieten, immerhin sei er ein enger Mitarbeiter des TV-Moderators. Die verdutzte Verlagsmitarbeiterin sagt: ‚Ja, warum nicht?’. Stuckrad-Barre schreibt Soloalbum, das Buch wird ein Beststeller, gilt heute als Klassiker und sein Autor wird zum Pionier der neuen deutschen Popliteratur. Er veröffentlicht daraufhin Buch um Buch, die Reportagen, Artikel, Essays, meist über popkulturelle Themen enthalten. Über diese kreative Seite steht in Panikherz allerdings recht wenig. Fortan geht es nur noch um eines: Drogensucht. Und das nicht zu knapp. Und ziemlich ermüdend. 

Dabei beginnt das Buch rasant, wie ein klassischer Stuckrad-Barre eben: Der Autor begibt sich im Jahr 2015 mit Udo Lindenberg nach Los Angeles. Die Eingangsszene, in der die surreale Konfrontation des Unikats Lindenberg mit einem humorlosen US-Einwanderungsbeamten am Flughafen geschildert wird, ist fantastisch. Stuckrad-Barre hat eine autobiografische Beichte in sich, er möchte sie zu Papier bringen, und Lindenberg überredet ihn, doch eine Weile länger in L.A., im legendären Chateau Marmont Hotel auf dem Sunset Boulevard, zu bleiben. Es wird ein ganzes Jahr und der Leser sollte hier zum ersten Mal stutzig werden: Wie bezahlt man so etwas? Der Preis eines ‚Garden Cottage‘, das der Autor bewohnt, starte bei 600 Dollar die Nacht, so die Website des Hotels. Da Stuckrad-Barre, wie sich im Laufe der Erzählung zeigt, aufgrund seiner Drogensucht ca. im Jahr 2006 sein gesamtes Vermögen verloren hat und daraufhin von seinem älteren Bruder ein Taschengeld beziehen, bzw. Udo Lindenberg anpumpen muss. Über Tantiemen verliert Stuckrad-Barre an keiner Stelle auch nur ein Wort, doch diese scheinen angesichts des Hotelpreises recht üppig zu fließen. 

Nun beginnt das erste der vier Bücher, die stets ineinandergreifen – was, das sei an dieser Stelle betont, die große Schwäche von Panikherz ausmacht. Stuckrad-Barre erinnert sich an seine Kindheit im Zeichen seiner Liebe zur Musik Udo Lindenbergs. Er zeichnet die Stationen seines frühen Lebens stets mit dem Rekurs auf dessen Platten nach, und erzählt parallel dazu die Geschichte der Karriere seines Idols. Dieser erste Teil des Buches ist großartig: Er liest sich wie eine zärtliche Biographie Lindenbergs, erzählt anhand autobiographischer Momente seines größten Fans. Die Texte des Musikers spiegeln in den Augen des pubertierenden Jungen dessen Entwicklung wider und geben auch allen Kapiteln des Buchs ihre Titel. Stuckrad-Barre beschwört die große Kraft, die Popmusik in diesen jungen Jahren auf einen Menschen ausüben und die sein Leben für immer prägen kann. Wäre nach diesen rund 150 Seiten Schluss (oder würde das insgesamt 570 Seiten umfassende Buch noch eine Weile so weitergehen), es wäre ein Meisterwerk.

Doch irgendwann entsteht ein ziemlich konstruiert wirkender, aber vielleicht doch realistischer Bruch: Mit dem Siegeszug der CD braucht der junge Benjamin auch einen CD-Player, für diesen verkauft er in einer pathetisch geschilderten Szene seine gesammelten Lindenberg-Platten und wendet sich fortan von seinem Star ab. Was folgt, ist der „zweite Akt“, womit auch das mehr als erschöpfend verwendete Leitmotiv des Buches benannt ist. Irgendwann nämlich begegnet Benjamin F. Scott Fitzgeralds Credo, es gebe im amerikanischen Leben keine zweiten Akte und reflektiert diesen Aphorismus fortan zu jeder sich bietenden Gelegenheit. 

Stuckrad-Barres tatsächlich stattfindender zweiter Akt ist indes ein bemüht geschriebener und in seiner Selbstgerechtigkeit manchmal kaum zu ertragender Krankheitsbericht. Wenn der Autor zu Beginn über seine Karriere in der Medienbranche reflektiert – garniert mit den witzig-sarkastischen Anekdoten für die er berühmt wurde – liest man ihn noch mit Interesse. Je mehr unser Held jedoch zunächst in die Bulimie, dann in die Kokainsucht entgleitet, desto schlechter und belangloser wird das Buch. Das liegt vor allem an Stuckrad-Barres mangelndem schriftstellerischen Talent. Je länger seine Texte, desto deutlicher wird, dass er nicht in der Lage ist, sie sinnvoll zu komponieren. Zuweilen mag gerade darin auch der Reiz dieses Autors gelegen haben: In seinen Texten geschieht oft, auch strukturell, das Unerwartete. Das Nicht-Lineare wird dann zum Kompositionsprinzip; gerade kürzere Essays, etwa über Popmusik, beziehen aus einer solchen Ästhetik des Unerwarteten manchmal ihre außergewöhnliche Qualität. In einer ernst gemeinten autobiographischen Beichte ist das aber sicher nicht der Fall. Immer wieder werden die, an sich durchaus eindringlichen, Beschreibungen der Bulimie, später der Drogensucht von scheinbar selbstkritischen Bemerkungen oder, noch schlimmer, von dünnen Gags unterbrochen, die wahrscheinlich sarkastisch wirken sollen, aber im Grunde nur darauf hinweisen, dass sich ein Autor hier zu sehr von seiner Kernkompetenz leiten lässt. Stuckrad-Barre will, dass sein Leser mit ihm leidet, das merkt man jedem dieser Worte an, und das hat für ihn sicherlich auch einen gewissen therapeutischen Effekt, doch kann der Leser für diese Figur keine Empathie empfinden, weil alles einfach zu oberflächlich, zu sehr auf Effekt bedacht, ja, zu sehr ‚Pop’ ist. 

Dazu kommt die messianische Figur Udo Lindenberg, den der Autor (wie so viele andere Prominente) irgendwann zum engen Freund gewinnt, und der ihm – väterlich, aber nie von oben herab – versucht, den Weg zu weisen. Dies endet in endlosen Lobpreisungen auf das edle Wesen Lindenbergs, die besser in persönlicher Korrespondenz aufgehoben wären als in einem öffentlich zugänglichen Buch. Je tiefer Benjamin in die Drogensucht abrutscht, desto aufdringlicher werden auch die Vorausblenden auf seine Gegenwart in L.A., wo er offensichtlich das vorliegende Buch verfasst (was er aber explizit nie erwähnt). In diesen Szenen versucht er sich als Wiedergänger von ihm geliebten amerikanischen Literaten, er konstruiert eine Welt wie aus einem Roman von Bret Easton Ellis, den er – welch Zufall – nicht nur verehrt, sondern mehrmals zum Lunch oder Kinobesuch trifft. In diesen L.A.-Sequenzen, die nur mit sehr viel gutem Willen in einen Zusammenhang zum Rest des Buches gestellt werden können, versucht sich Stuckrad-Barre nun an einer Art postmoderner Rollenprosa, die schön zu lesen ist, aber, das ist ja der Sinn jener Ellis’schen Romane, in Wirklichkeit nur die innere Leere des Protagonisten unterstreichen soll. Das Ende des Buches, das hier nicht verraten werden soll, bestärkt diesen Deutungsversuch, erklärt jedoch nicht die schiefe Architektur von Panikherz. Und ja, es gibt, wie Florian Illies in seiner hymnischen Zeit-Rezension festgestellt hat, viele offensichtliche und weniger offensichtliche Referenzen auf Stuckrad-Barres literarische Helden; man liest neben Ellis auch Jörg Fauser, Thomas Bernhard, selbst Karl Kraus aus den Zeilen heraus. Aber die Frage nach dem Sinn dieser Bezüge bleibt ebenso offen wie die nach der Notwendigkeit, jedes Wort, das der Autor betont wissen möchte, in Großbuchstaben zu schreiben. 

Aber noch etwas anderes ist unangenehm an diesem Buch. Dessen öffentliche Inszenierung scheint auch einen ökonomischen Zweck zu verfolgen: Man bezeichnet so etwas neudeutsch als ‚Cross-Marketing’. Nicht nur erscheint mit Panikherz ein lange erwartetes neues Buch von Stuckrad-Barre – das erste seit Ende der 90er Jahre, das keine Textsammlung ist. Nein, es beschäftigt sich wie gesehen zu nicht unerheblichen Teilen auch mit dem Leben und Werk Udo Lindenbergs und auch dieser hat, um es in dessen eigenem Sprachgestus zu wiederzugeben, ‚eine neue Platte am Start‘, die im Mai pünktlich zu seinem 70. Geburtstag erscheinen wird, und an der – noch ein erstaunlicher Zufall – Stuckrad-Barre offensichtlich als Texter mitgearbeitet hat. Seit Lindenbergs Comeback 2008 mit dem Album Stark wie Zwei sowie einer unglaublich erfolgreichen Tournee ist der Rockstar wieder in aller Munde und die neue Platte ein sicherer Megaseller. Und schon erscheinen in großen deutschen Tageszeitungen Doppelinterviews, der deutsche Rolling Stone, Stuckrad-Barres ehemaliger Arbeitgeber, bringt in seiner März-Ausgabe nicht nur einen exklusiven Auszug aus Panikherz, sondern auch eine CD mit Ausschnitten aus dem Hörbuch. Und die Mai-Ausgabe wird dann ganz im Zeichen Lindenbergs stehen, samt mitgelieferter Vinyl-Single mit zwei Udo-Klassikern darauf. Da ist er wieder, der Felix Krull der Medienszene, bereit zum nächsten Schachzug. Und große Teile des deutschen Feuilletons ziehen gerne mit.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
504 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783462048858

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