Fukushima kann man nicht ausblenden

Die Anthologie „Nachbeben Japan“ vereint Texte österreichischer Autoren zur Natur- und Atomkatastrophe in Japan

Von Christoph HeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Held

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vergesst Fukushima nicht!“, lautet eine der Mahnparolen, unter denen Atomkraftgegner in Japan und Deutschland seit der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 regelmäßig zu Protesten aufrufen. Dass Mahnungen wie diese nötig sind, zeigt ein Blick auf den Verlauf der öffentlichen Debatte in Deutschland, die nach einer sich hysterisch überschlagenden Anfangsphase mit der Verkündung des deutschen Atomausstiegs praktisch beendet war, noch bevor so etwas wie eine reflektierte Auseinandersetzung und Aufarbeitung überhaupt hätte stattfinden können, und die nun, nur noch von den obligatorischen Dokumentationen, Reportagen und Artikeln zum Jahrestag für kurze Zeit wiederbelebt, in mit Achselzucken registrierten Strahlungswert- und Wasserstandsmeldungen vollends auszuklingen droht.

Zu weit weg und auch zu reich scheint das fernöstliche Land, das der Reaktorunfall in die größte nationale Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt hat, zu fremd vielleicht auch seine Bewohner und ihre Kultur, zu unverständlich und der eigenen Hysterie- und Panikbereitschaft widersprechend ihre durch den deutschen Medienfilter vermittelte Reaktion, zu unvorstellbar trotz laufender Uraltmeiler die Möglichkeit, im naturkatastrophenarmen Mitteleuropa könnte etwas Vergleichbares passieren, als dass die mediale Betroffenheits- und Angstaufregungsmaschine wieder anspränge, die allein anhaltende öffentliche Diskussionen in Deutschland antreibt. So bleibt Fukushima heute im deutschsprachigen Raum nur da ein Thema, wo engagierte Atomkritik und/oder professionelles Japaninteresse von einer breiteren Öffentlichkeit mehr oder weniger unbemerkt das Etablieren von Erinnerungs- und Aufarbeitungskultur fördern: In Anti-Atom- und Umweltbewegungen, kritisch-engagierten Kunstprojekten, den japanologischen Instituten der Universitäten und entsprechenden kollaborativen Veranstaltungen.

Hier reiht sich auch der 2012 erschienene Band Nachbeben Japan. 12 Standpunkte ein, der als intendierter „Beitrag zur Erinnerungskultur“, wie das Vorwort der an japanischen Universitäten beschäftigten Herausgeber Jürgen Draschan und Bertlinde Vögel formuliert, Texte von zwölf österreichischen Schriftstellern vereint, die alle vor oder nach der Katastrophe in Japan waren und diese in der im weitesten Sinne literarischen oder essayistischen Verarbeitung ihrer Japanerfahrung reflektieren (oder eben auch nicht). In den unterschiedlichsten Textsorten vom Prosa- oder Langgedicht über den eher traditionellen Reisebericht, die längere Glosse, autofiktionale Erinnerungsstücke und Selbstbespiegelungen bis zu medien- und kapitalismuskritischen Essays suchen die Autoren nach Ausdrucksformen und Beschreibungsansätzen, mit denen sich Erinnerungs- und Katastrophenbildermaterial zu „Standpunkten“ nach Fukushima verdichten lässt.

Die Anthologie beginnt gleich mit einem der stärksten Texte: Xaver Bayer, einer von nur vier Beiträgern, die Japan nach dem 11. März 2011 bereist haben, zeigt in seinem Prosagedicht „Durch das dunkle Fenster in der Helligkeit ist die Zeit angesprungen“, welches Vermittlungspotenzial die unbedingt literarische Form vor allem da haben kann, wo die Beschreibungs- und Erklärungskraft noch der ausgefeiltesten analytisch-reflektierenden Diskurssprache im Angesicht der Unbestimmtheit des Gefühls gegenüber einer nicht mehr mit herkömmlichen Wirklichkeitskategorien erfassbaren Umwelt an ihre Grenzen stößt.

Der Text adaptiert ein beliebtes Motiv der Reiseliteratur, die Zugfahrt durch das fremde Land, bei der Eindrücke aufgenommen und im Bewusstsein des Reisenden gespiegelt werden, um die schleichenden Wahrnehmungsverschiebungen zu ergründen, die Fukushima eben dort erzeugt: Wahrscheinlich nur im Nachbebenbewusstsein (auch des Lesenden) klingt im zunächst alltäglichen Bild des Fußgängers, „der seinem vom Wind davongetragenen Hut hinterläuft“, Jakob van Hoddisʼ „Weltende“ an. Das Ich beginnt „all dieser Normalität“ des vorbeirauschenden Landlebens „zu misstrauen“, die Szene reißt auf und macht apokalyptischen Eskalationsfantasien Platz, aber da wird klar: „Es macht keinen Unterschied mehr.“ In Japan nach Fukushima werden Wahrnehmungsfetzen unvermeidlich zu bruchstückhaften Zeichen der nuklearen Katastrophe, hinter die es, und mögen wir sie noch so gründlich in Alltäglichkeit auflösen, kein Zurück mehr gibt. Fast apathisch wird die Diagnose notiert: „Wir sind in einem plombierten Zug unterwegs, / die Ladung Sprengstoff.“

Die Motive Endzeitstimmung und Lähmung durchziehen auch das andere, nicht weniger beeindruckende Gedicht des Bandes. Ann Cottens ebenso wütend-punkiges wie resignatives „Übung des Vogels auf dem Friedhof von Kyoto“ ist dabei nicht nur sprachlich und formal deutlich radikaler als Bayers rhythmisierte und in Versform gegossene Prosa, es greift auch direkter an: Der Feind ist das perfide kapitalistische Netz aus Fortschrittsgehorsam, Konsumzwang, Kreditwürdigkeitsnebel, Maximierungsdogma und krimineller Energie, das sich um Fukushima zugezogen hat und das es zu zerschlagen gälte, wäre man nicht „nur zu fragen“ erzogen (und nicht selbst schon längst viel zu verheddert). So drückt sich in Cottens unter dem Bewusstsein, dass alles erkannt und dennoch nichts zu machen ist, sich biegenden, windenden, stellenweise geradezu schreienden Versen ein essentielles Ohnmachtsgefühl aus, das ähnlich wie auch in Bayers Text mit dem endlos-endzeitlichen Post-Fukushima-Szenario vielmehr zu korrespondieren, als von ihm direkt hervorgerufen zu sein scheint. Sind es nur zufällig die beiden Texte der mit Abstand jüngsten Schriftsteller, in denen sich dieses Gefühl so eindrucks- wie kunstvoll artikuliert?

Wie die Ereignisse in Fukushima nicht nur die Gegenwartsreflexion bestimmen, sondern auch Erinnertes relativieren und auf einmal widersprüchlich erscheinen lassen können, demonstriert der Text von Peter Glaser, in dessen eigentlich eher fröhlich-klischierte Japanerinnerungen (die Höflichkeit, die Rücksichtnahme, die Rush-Hour, das angenehme Gefühl nach einem kleinen Erdbeben) sich das Vokabular von Atomtechnik und Seismologie einschleicht, sodass sich wie bei einer Vorher-Nachher-Animation Bilder und Bewusstseinszustände übereinanderschieben. Allerdings bleibt Glasers Text zu distanziert, die Sprache zu abstrakt, sind die Perspektivüberschneidungen zu technisch, zu gezwungen, als dass sich aus ihnen ein neuer, weniger leichtsinniger Standpunkt ableiten ließe. Hier findet kein Nachbeben statt, sondern Aufbereitung.

Andere Texte blenden die Katastrophe lieber gleich ganz aus, allen voran die bieder-verklärende Reisebeschreibung von Erwin Einzinger, wo sie nur als Vorlage für die „persönliche Angst vor einem möglichen Erdbeben“ dient, die aber angesichts „der vielen Eindrücke und der landschaftlichen Schönheit“ gleich wieder vergessen wird. Man sucht hier als Leser geradezu verzweifelt nach Rissen in der Textoberfläche, unter denen eine kritischere Erzählhaltung, etwa in Form eines unterdrückten Bewusstseins für das Ausgeblendete, durchscheinen würde – aber vergebens: In diesem herbstlichen Post-Fukushima-Japan ist wohl wirklich alles in bester Ordnung. Die Kakis, Mandarinen und Ahornblätter „leuchten“ (wie übrigens auch die Sätze, die Einzinger aus einem seiner älteren Bücher auf einer Lesung präsentiert), die Japaner sind höflich und lächeln und verbeugen sich (wer hätte das gedacht?), die Geishas sind geschminkt, ihre Kleider bunt, die Mädchen kichern, die Frauen wandeln „träumerisch anmutend“ dahin (und husten in Handtaschen), der Shinkansen „braust“ im Hintergrund vorüber, die Austern sind „köstlich“ und der rohe Fisch macht sogar gesund (Einzinger war zuerst erkältet). Da fügt sich dann auch das Bild einer „bunten Anti-Atom-Demonstration“ (wie die Kleider der Geishas) nach einem entlarvenden „übrigens“ (seht!) am Ende eines der letzten Absätze noch bestens ein und kann gleich mit zum Klischee erstarren. Hier geht das „Nachbeben“ im Reiseführer-Exotismus auf.

Dass man Japan nach Fukushima so nicht mehr denken und beschreiben kann, reflektieren glücklicherweise genug andere Texte des Bandes wie der von Julia Brandner etwa, die als Japanologin genauer hinsieht und die von Einzinger so munter praktizierte Verdrängung als Möglichkeit der Auseinandersetzung nur durchspielt, um sie auszuschließen: „Man kann Fukushima nicht ausblenden.“ Überhaupt ist das eine der großen Stärken des Bandes: wie er die verschiedenen Texte nebeneinander stehen lässt, sodass sie sich, ohne sich explizit aufeinander zu beziehen, gegenseitig kritisieren, relativieren, ergänzen und auch zustimmen. So können die einen Fragen aufwerfen, auf die andere Antworten suchen, abstrahieren, was andere implizit abbilden, sprachlich konkretisieren, was andere im Lyrisch-Unausgesprochenen belassen, oder mikroskopische Innensichten dessen bieten, was woanders als Mosaikstein eines größeren Gesamtbildes nur von außen berührt wird.

Nachbeben Japan gibt letztendlich zwar keine Antworten, liefert keine fertigen „Standpunkte“. Liest man die Texte aber mit- und gegeneinander, eröffnet der Band – und vor allem darin liegt seine wichtige Leistung – ein überaus dichtes Geflecht von Fragen, das auch die komplexeste Einzeluntersuchung kaum umfassen könnte: über den Umgang mit der Katastrophe, ihrer medialen Vermittlung, ihren Bedingungen und Folgen auf gesellschaftlicher wie auch persönlicher Ebene, aber auch über die Bedeutung und Darstellung von Fremdheit im Allgemeinen und mit Bezug auf Japan im Besonderen. Am Ende ist es neben einzelnen Texten gerade diese Offenheit, die zeigt, dass die „Nachbeben“ (auch hier) nicht vorbei sind, und so zum anhaltenden kritischen Diskurs mahnt. Denn wenn wir mit Ann Cotten und auch Lydia Mischkulnigs wütend-engagiertem Text Fukushima als Symptom unserer politischen und ökonomischen Ordnung – der „Menschenverachtung als System“ (Mischkulnig) – begreifen, dann sehen wir vielleicht auch mit Xaver Bayers Textich „gerade  rechtzeitig“, was eine Auseinandersetzung mit Fukushima, seinen Ursachen und Konsequenzen und damit auch mit Japan und seiner hypertechnisierten Gesellschaft, seinem implodierenden Postwachstumskapitalismus und resignativen Konsumismus, seiner weitgehend apathischen und politikabstinenten Jugend, seinem riesigen Tagelöhner- und Niedrigstlohnsektor und seiner ausgeprägten Armuts- und Opferdiskriminierung für uns bedeutet: „I’VE SEEN THE FUTURE, BROTHER“.

Titelbild

Jürgen Draschan / Bertlinde Vögel (Hg.): Nachbeben Japan. 12 Standpunkte.
Luftschacht Verlag, Wien 2012.
145 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783902844125

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch