Schmuck der Ohnmacht

Zu Katharina Winklers Debütroman „Blauschmuck“

Von Sebastian BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Februar 2016 erschien im Suhrkamp Verlag Katharina Winklers Debütroman Blauschmuck. Er ist ein poetisches Pamphlet, ein beklemmendes Poesiealbum, das durch seine kalte und klare Sprache das Martyrium der Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft demaskiert und seine Leser*innen mit einem Protokoll der Hilflosigkeit zurücklässt. Zugleich aber auch ein Aufruf dazu, mit offenen Augen auf unsere Gesellschaft zu sehen, über Unrecht nicht zu schweigen und an Integration mitzuwirken.

Für Filiz ist das westliche Europa die Welt ihrer Träume: Hier gibt es wenige blaue Frauen. Die meisten tragen blaue Jeans. Frauen und Männer leben, lieben und arbeiten gleichberechtigt miteinander. In den Beziehungen geht es zwar manchmal darum, wer „die Hosen anhat“, dies aber meist nur im übertragenen Sinne. Gewalt und Unterdrückung haben keinen Platz in der Gesellschaft. Wenn Frauen oder Kindern Gewalt angetan wird, gibt es Rettungsinseln und Gesetze, die diesem Unrecht Einhalt gebieten.

In einer anderen Welt: Filiz wächst in einem kleinen kurdischen Dorf in der Türkei auf, in einem Tal, in dem „hundert blaue Frauen leben. Manche lächeln immerzu trotz ihres Blauschmucks, manche schweigen in Blau. Es gibt Frauen, deren Blauschmuck niemand kennt, Frauen, die ihn verbergen unter langen Kleidern, unter Tüchern, blaue Mädchen meist, die ihr Blau noch unsicher tragen wie einen ersten Lippenstift.“

„Blauschmuck“ ist das Synonym für das Martyrium, das Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft erleben, eine euphemistische Vokabel für die unzähligen blauen Flecken, die den Frauen von ihrem Ehemann oder dem eigenen Vater durch große Brutalität zugefügt werden. In dieser patriarchalen, archaischen Gesellschaft träumt die Protagonistin Filiz von einem Leben in Deutschland, eben jenem Leben in Jeanshosen. Mit zwölf verliebt sie sich in den Nachbarsjungen Yunus und heiratet ihn einige Jahre später gegen den Willen ihres Vaters. Sie bricht mit der Familienehre, in der Hoffnung auf ein emanzipiertes Leben im Westen. Doch die Ehe wird zur Tortur für die junge Frau: Yunus fällt über sie her, wie ein Wolf über seine Beute, er weidet sie aus. Filiz hat kein Zuhause mehr, sie ist gefangen im „Nicht-Körper“ der Burka, wird darin zu einem „blinden Fleck“ und zur Sklavin auf dem Bauernhof ihrer Schwiegermutter, einer herrischen „Spinne“. Ihr mädchenhafter Körper wird zum Kadaver, der drei Kinder gebiert und den Schlägen und dem Schweigen ihres Mannes ausgesetzt ist.

Sie ist ein Kind, das durch Schläge zur blauen Frau reifen muss, zu lachen ist ihr untersagt: „Das Kichern reicht mir bis zu den Knien, und mein Herz schlägt. Ich bin ein Kind, ich Ehefrau. […] Yunus schlägt mich. Er muss mir das Kind aus den Knochen schlagen. Das Mädchen aus den Gedärmen. Er muss mir die Ehefrau ins Gehirn prügeln.“ Filiz‘ Leben wird zu einem einzigen Warten auf Erlösung. Die Emigration der Familie nach Österreich ist nur vermeintlich eine Flucht aus dem alten Leben. Ihre Vergangenheit bleibt ihr Gepäck. Und auch ihre Kinder ziert eines Tages der Blauschmuck. Doch all die Schläge schaffen es nicht, Filiz selbst zu brechen. Am Ende gelingt ihr die Befreiung durch den ungebrochenen Willen zur Selbstbehauptung – im Bewusstsein, mehr zu sein als eine Trophäe ihres Ehemannes.

Der Roman der 1979 in Wien geborenen und in Berlin lebenden, studierten Germanistin, Musik- und Theaterwissenschaftlerin Katharina Winkler beruht, wie es im Klappentext heißt, auf einer wahren Lebensgeschichte. Ihre Quelle bleibt zwar unbestimmt, doch indem der Roman ein wahres Schicksal adaptiert, wird er zu erlebter Wirklichkeit. Grund dafür ist das in Tagebuchform erzählte Schicksal der Ich-Erzählerin. Es ist kein Einzelschicksal – es steht paradigmatisch für das Leiden unzähliger Frauen innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft. Winkler generiert eine Welt, in der Frauen wie Tiere konditioniert werden und sich für ihren „Schmuck“ schämen, denn „Blauschmuck ist Privateigentum“.

Dass man Winkler die Authentizität ihres Debütromans sogleich abnimmt, liegt insbesondere an ihrem Einsatz von angemessener und wohlgeformter Sprache sowie in dem von ihr gewählten Narrativ, der auf wahren Begebenheiten basierenden Lebensgeschichte. Als ausgebildete Schauspielerin und Regisseurin für Film und Theater, vornehmlich durch Engagements in Österreich bekannt, schint die Autorin schon von Berufswegen über einen gewissen Sinn dafür zu verfügen. Und hier gelingt es durchaus, dieses Gespür auf den  Roman zu übertragen. Infolgedessen braucht sich Katharina Winklers Erstlingswerk nicht auf dem literarischen Markt zu verstecken: Kalte Metaphorik, prosaisch-komprimierte Sprache und allegorische Elemente korrelieren in Winklers Roman mit der Brutalität, die der Ich-Erzählerin widerfährt. Die Leser*innen bleiben in Fassungslosigkeit/Entsetzen über die Betäubung zurück, unter der die blauen Frauen noch Tage nach den Ausbrüchen der Männer stehen. Jedes Wort ist prosaischer Schmerz: „Eines Morgens fallen Schläge vom Himmel, unvermutet und eisig, wie Schnee im August. […] Yunus drischt auf mich ein. Auf meine Arme, meine Brust, meinen Bauch, auf das ungeborene Kind.“

Die Welt der Gewalt wird während des Lesens durch das ausgewogene Verhältnis von zeitdehnendem und zeitraffendem Erzählen sowie gezielten Auslassungen erfahrbar. So stellt sich die Beklemmung, die immer dann spürbar wird, sobald der Ich-Erzählerin ein Gewaltakt droht, durch das Erzähltempo auch beim Leser/bei der Leserin ein: „Nach dem Essen geht Yunus mit mir ins Bad. Er stellt mich an die Wand, zieht mir den Rock hoch, es muss schnell gehen. Dann fällt die Tür ins Schloss. Der Schlüssel dreht sich. Dreimal. Ich weiß nicht, wann das nächste Huhn kommt.“ Die Bedrohung durch ihren Mann, die sich für Filiz schon durch den Klang des Zuschlagens einer Autotür ankündigt, ist auf jeder Seite des Romans spürbar. Denn auch mit der Ankunft in Europa kann sie das Tal der blauen Frauen nicht hinter sich lassen. Ein Entkommen aus diesem Tal ist nur durch Integration in die Aufnahmegesellschaft möglich.

Die Brutalität, die der jungen Frau widerfährt, lässt die Leser*innen von Seite zu Seite mehr verstummen. Und man ist geneigt zu fragen: Was ist das Ziel dieser traurigen Geschichte? Ist der Roman nur das Protokoll einer Leidensgeschichte? Soll er gar den Hass auf Männer schüren? Das Buch auf diese Position reduzieren zu wollen, ist jedoch zu kurzsichtig. Denn in der Lektüre wird deutlich, dass mit der Leidensgeschichte der Protagonistin auch die Ebene des aktuellen Diskurses um Integration tangiert wird. Und darin liegt sein großes gesellschaftliches Potential: Winkler macht Integration erfahrbar, zeigt durch ihre Geschichte eindrücklich, wie sich Einwanderungs- und Aufnahmegesellschaft wechselseitig unterstützen können.

Es sind die leisen Details, die ein Zeichen der Solidarität und Toleranz setzen. Die Hilfsbereitschaft der Nachbarn, die Fürsorge einer Bäuerin und das Nicht-Wegschauen einer Arzthelferin. Angesichts der Entwicklung islamistisch-fundamentalistischer Radikalisierung scheint der Roman zunächst dazu zu verleiten, das Klischee des islamischen Mannes, der wie ein Wolf über ein Lamm herfällt und sich gegen Integration stellt, zu verfestigen. Er ist aber vielmehr ein Plädoyer dafür, Aufklärung und Hilfe in eine Welt zu tragen, die in emanzipatorischer Hinsicht noch hinter der eigenen zurückliegt. In einem System althergebrachter Wertvorstellungen steht an oberster Stelle das Credo, die Ehre der Familie zu bewahren: „Die Ehre muss auf unseren Feldern gedeihen. Wir essen sie, und die Frauen säugen ihre Kinder damit. Die Ehre ist meinem Vater das Wichtigste. Wichtiger als wir Kinder. Oder Mutter. Die Ehre steht über allem, sagt Vater.“ Dass die Männer nach ihren Anfällen oft weinend zusammenbrechen, offenbart letztlich nicht nur diese unzulängliche Vorstellung von Ehre, sondern auch die Einsicht der eigenen Ohnmacht und die Angst, hinter ihren Frauen zurückzubleiben.

Thematische Parallelen können zwischen Winklers Debüt und Waris Diries autobiographischem Roman Wüstenblume (1998) gesehen werden. Vor dem Hintergrund des Rituals der weiblichen Genitalverstümmelung machte der Roman erstmalig auf literarischer Ebene im internationalen Rahmen auf das Trauma der Misshandlung von Frauen in anderen Gesellschaftsformen aufmerksam. Winkler gelingt in diesem Zusammenhang ein Neuansatz: Sie schafft es mit ihrem Roman dieses Trauma direkt in unserer westlichen Erfahrungswelt und im aktuellen Diskurs zu verorten und damit unseren Blick dafür zu schärfen. Es kommt nicht häufig vor, dass mit einem Debütroman direkt der große Durchbruch gelingt. Mit Katharina Winklers Blauschmuck kam ein Roman zu einem sehr schwierigen, geradezu heiklen Thema auf den Buchmarkt, der bereits im März 2016 auf Platz 10 der ORF-Bestenliste der besten literarischen Neuerscheinungen gelangte und vom Feuilleton hoch gelobt wurde. Und dies nicht zu Unrecht, denn es handelt sich um einen überaus empfehlenswerten Roman, der als literarisches Pamphlet einen weiten Leserkreis verdient.

Titelbild

Katharina Winkler: Blauschmuck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
197 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425107

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