Was schon damals gesagt wurde

Grass‘ Romandebüt „Die Blechtrommel“, in 2016 wiedergelesen

Von Darius WatollaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Darius Watolla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mittlerweile sind fast 60 Jahre seit der Erstveröffentlichung des ersten Bandes der Danziger Trilogie vergangen. In diese Zeit fallen viele historische Ereignisse, technologische Entwicklungen, Kriege und Katastrophen und nicht zuletzt das große Lebenswerk des Autors selbst, welches ohne diesen Text als wiederkehrenden Bezugspunkt unvollständig, ja schwerlich vorstellbar wäre. Wenn jetzt, nach Ablauf dieser Zeit,  Die Blechtrommel wiedergelesen wird, welche Fragen möchte man an diese Relektüre stellen? Eine Möglichkeit besteht gewiss darin, die Erstrezeption in der Bonner Republik punktuell auf ihre Gültigkeit für heute zu überprüfen. So wirken beispielsweise die Proteste und Angriffe, auf den Text wie den Autor selbst, die sich an der vermeintlich pornographischen Darstellungsweise entzündeten, im Jahre 2016 nahezu unverständlich. Literarische Werke, wie z. B. Charlotte Roches Feuchtgebiete (2008) mögen dazu beigetragen haben, dass die Art, wie Geschlechtlichkeit bei Grass beschrieben wird, von heutigen Rezipienten nicht mehr als skandalös erlebt wird.

Was allerdings jetzt umso stärker auffallen dürfte als damals, ist der dargestellte Zusammenhang zwischen Sexualität und Macht, der in leitmotivischer Manier von den 1930er Jahren in Danzig bis in die Bonner Republik einen Topos aufgreift, der in den Wirtschaftswunderjahre unpopulär wirken musste. Die weiblichen Figuren, die von einer Selbstbestimmung über ihren Körper weit entfernt sind, werden durch das männliche Machtmonopol – sei es gesellschaftlich, ökonomisch oder mit vorgehaltener Maschinenpistole – zu Erfüllungsobjekten geradewegs degradiert und tragen in ihrer Beschreibung zu der Dekonstruktion gängiger Mythen entscheidend bei.

Eine weitere Möglichkeit, den wiedergelesenen Roman in seiner potentiellen Wirkung auf die Rezipienten zu beschreiben, stellt die veranschlagte Distanz oder Nähe zu den Inhalten des Textes dar. Die zeitliche Distanz wird allerdings durch die große Vielfalt an Themen und Motiven relativiert, da leider viele von ihnen auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Die vielfach gelobte Art, wie der Nationalsozialismus in seiner Muffigkeit beschrieben wird, wirkt auch heute durch die realistisch anmutende Erzählweise beängstigend und bedrängend – denn diese Beschreibung rückt das Thema des Nationalsozialismus weg von akademischen Überlegungen zu seinen Entstehungsbedingungen und platziert es in die Mitte der Gesellschaft. Der Kontrast zwischen der Selbstdarstellung des „Tausendjährigen Reichs“, seiner Ästhetik und der stickigen Enge der kleinbürgerlichen Welt in Danzig-Langfuhr wirkt auch heute noch vor allem entlarvend. Die Tatsache, dass in diesem Text Täter und Opfer in ihrem Denken, Sprechen und Handeln beschrieben werden, gehört zu seinen stärksten Aspekten und wirkt jetzt, wo Zeitzeugen dieser Epoche immer seltener werden, besonders wertvoll.

Die Vielfältigkeit in Bezug auf Themen, Motive und Erzählstränge wird nicht zuletzt durch die Art des Spracheinsatzes ermöglicht: Wenn an bestimmten Stellen eine Mischung aus Understatement und den oft eigenwilligen Neologismen, die als typisch für die Prosa Grass angesehen werden kann, das eigentlich Unaussprechliche ausdrückt, wirkt dieser Roman in seiner Direktheit auch heute noch beeindruckend. Diese Art des Schreibens scheint hier – in einem Werk, dessen Inhalt an keiner Stelle banal erscheint –  ihren Ursprung zu haben. Die Tatsache, dass es gelingt, das Unfassbare in seiner ganzen Komplexität und banalen Grausamkeit auszusprechen, ist und bleibt eine der großen Leistungen dieses Prosadebüts.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Günter Grass: Die Blechtrommel.
dtv Verlag, München 1993.
816 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3423118210
ISBN-13: 9783423118217

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