Mendele, der Buchhändler

Susanne Klingenstein entfaltet „Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh“, dem Martin Walsers Essay „Shmekendike Blumen“ ein dialogisches Denkmal setzt.

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich hatte kaum eine Ahnung, dass es einmal eine jiddische Literatur gegeben hat. Ja, Sholem Aleichems Tewje der Milchmann, Chagall-Welt literarisch. Aber Kafka war mir näher, wichtiger. Dann Klingenstein. Sie erzählt, stellt dar eine Welt von Namen, eine Sprachwelt aus Jiddisch, Hebräisch, Russisch und Deutsch“, schreibt Martin Walser in seinem Essay „Shmekendike Blumen. Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh“. Sein – wie könnte es beim „Selbstbezichtigungsvirtuosen“ und Meister der literarischen Liebeserklärungen Walser auch anders sein – rühmender Text ist begleitend entstanden zum opulenten Werk der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein „Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh“. Umgekehrt bemerkt Klingenstein in ihrem Vorwort über ihr „Jahre hinweg“ dauerndes „literarisches Gespräch mit Martin Walser“:

Dieses Buch entstand als Teil unserer lebhaften Diskussion über Kafka und das jüdische Schreiben, in der wir beide dickköpfig auf unseren Ansichten bestanden. Das Buch entstand als Teil meiner Beweisführung zum jüdischen Schreiben und ganz bewusst auch als Gegenpol zu Martin Walsers Novelle Mein Jenseits, die so dicht konstruiert ist wie ein Text von Abramovitsh. Ohne Martin Walsers beharrliche und drängende Neugier, ohne sein intensives Interesse an der zerstörten jüdischen Welt hätte ich dieses Buch sehr wahrscheinlich nicht geschrieben, jedenfalls nicht in deutscher Sprache.

Konsequent, dass Klingenstein ihre „Geschichte der jiddischen Literatur zwischen Berdichev und Odessa, 1835-1917“ neben dem Judaisten und Religionswissenschaftler Karl Erich Grötzinger zunächst Martin Walser widmet, „der wollte, dass dieses Buch für deutsche Leser, besonders aber für ihn selbst geschrieben werde“.

Und warum es für Walser wichtig war und ist, in die „Textwunder“- und „Lese-Wunder“-Welt Abramovitshs einzutauchen, ohne hier an die bis in die jüngste Zeit anhaltenden Kontroversen im Zuge der Walser‘schen Paulskirchen-Rede erinnern zu wollen, formuliert er im Essay so:

Durch die Bücher Abramoviths erlebe ich Literatur anders als bisher. […] Durch ihn, durch seine Literatur lernt ein ganzes Volk, Ja zu sagen zu sich. In seiner hundertfältigen Genauigkeit kommen alle Töne vor von Trauer bis zur Komik, und alle sind der Ausdruck einer Liebe, die zu allem fähig ist, außer zur Verurteilung. Im Gegenteil, Abramovitsh feiert sein Volk durch seine Genauigkeit. […] Er lässt sich nicht auf eine Idee reduzieren; keine irgendeinen Ismus nährende Einseitigkeit; keine leicht transportierbare kritische Weltanschauung; nichts psychoanalytisch Auszuschlachtendes. Kafka war leicht übersetzbar und eine fabelhafte Einladung zum Deuten, Interpretieren, Rätseln und Enträtseln. Abramovitshs Poesie ist konkret, ist nichts als sie selbst: Schönheit Satz für Satz. Zu Herzen gehende Schönheit. […] Und jetzt habe ich erlebt, dass und wie Literatur feiern kann.

Detailgenau nachvollziehbar wird dies in der Tat in der fast 500 Seiten starken Studie mit mehr als 50 Abbildungen von Susanne Klingenstein. Eine Arbeit, die, um es hier zu sagen, dazu verleitet, mit „Mendele der Buchhändler“ einen Großen der jiddischen Literatur (wieder) zu entdecken und sich umgehend antiquarisch die zweibändige Werkausgabe im WalterVerlag zu besorgen. Diese enthält „Fischke der Krumme“ und „Der Wunschring“ (1961) sowie „Die Fahrten Binjamins des Dritten“, „Die Mähre“ und „Schloimale“ (1962), auf die Walser in seinem Essay mehrfach eingeht.

Die Wissenschaftlerin Klingenstein, die an der Harvard MIT Division of Health Science and Technology lehrt, zeichnet in ihrem Buch „aus zwei ungleichen Teilen“ ein gleichermaßen facettenreiches wie faszinierendes Bild von Leben und Werk des 1835 in der Nähe von Minsk geborenen und 1917 in Odessa als Rektor der Talmud-Torah verstorbenen Abramovitsh, der schon zu Lebzeiten – so Klingenstein – gemeinsam mit Shalom Rabinovitz (1859-1916) und Yitskhok Leybush Peretz (1852–1915) – als Klassiker galt und meist „nur“ unter dem Namen seiner literarischen Figur Mendele Moicher Sforim, Mendele, der Buchhändler, gelesen wurde: „Er ist unbestritten der größte frühe Meister der jiddischen und hebräischen Kunstprosa.“

Im schmaleren ersten Kapitel zeichnet Klingenstein akkurat und konzise die Bedingungen und kulturellen Hintergründe nach, „auf welch erstaunliche Weise und wie nachhaltig die Werturteile der deutschen Kultur die jiddische Literatur prägten.“ Nicht zuletzt war es der Einfluss des Aufklärers Moses Mendelssohn, der den Juden den Weg in die moderne Gesellschaft ebnen wollte und dabei das Jiddische als Sprache ins gesellschaftliche Abseits beförderte: „Mendelssohn lokalisierte das spezifisch Unangenehme, das Hässliche, ja moralisch Widerliche der jiddischen Sprache in der illegitimen Mischung zweier in sich selbst ‚reiner‘ Komponenten: des Deutschen und des Hebräischen.“

Klingensteins Hauptteil gilt jedoch der Welt des Erzählers Abramovitsh. In fünf Unterkapiteln führt sie Leben und Werk des Buchhändlers Mendele eng. In chronologischer Reihenfolge konzentrieren sie sich auf „Orte, an denen Abramovitsh bedeutende Jahre verbrachte.“ So widmet sich der Beginn der Zeit zwischen 1835 und 1858, dem Weg aus der weißrussischen Kleinstadt Kapulye nahe Minsk und der durch den frühen Tod des Vaters 1848 erzwungenen Wanderschaft des jungen Abramovitsh durch die Provinz. Mittels des professionellen Bettlers Avreml der hinkediker gelangt er 1852 „als ausgezehrter jiddischsprachiger Talmudstudent und Hilfsbettler“ nach Kamenetz-Podolsk. Dort lernt er Russisch, wird Lehrer und 1857 wird sein „Brief über Erziehung“ an den Bruder in einer hebräischen Zeitschrift als Artikel gedruckt. Kamenetz-Podolsk verlässt er, nachdem er bei Abraham Ber Gottlober die osteuropäische Haskalah kennen- und schätzen gelernt hatte, „im Sommer 1858 als glatt rasierter, gut gekleideter, russischsprachiger, staatlich geprüfter Lehrer an einer der staatlichen Schulen für Juden.“

Die nächste Station ist Berdichev, „nach Warschau die größte jüdische Stadt des Russischen Reiches und die einzige große Stadt, in der Juden 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten.“ Hier wird Abramovitsh zum Schriftsteller – zunächst mit einigen kritischen Zeitungsartikeln auf Hebräisch und dann ab 1864 mit Erzählungen in jiddischer Sprache. Im „Kol Mevaser“ erscheint in zwölf Folgen die Erzählung „Dos kleyne mentschele“, mit der nun eingeführten Mittlerfigur Mendele, dem reisenden Buchhändler. Nach Max Weinrich beginnt mit „Dos kleyne mentschele“ eine neue Zeitrechnung der jiddischen Literatur.

Ihr drittes Unterkapitel im zweiten Teil überschreibt Klingenstein mit „Von Berdichev nach Zhitomir. 1865-1869“. In dieser Zeit entsteht die erste Fassung von „Fishke der krumer“, mit der – wie die Autorin nachweist – Abramovitsh „in vieler Hinsicht literarisches Neuland“ betritt. Die Welt der professionellen Bettler in „Fishke“ ist von einem „erschütternden Pessimismus“, wie auch das zuvor fertiggestellte satirische Schauspiel „Di takse“ (Die Fleischsteuer) innerjüdische Übelstände anprangert.

In Zhitomir in den Jahren zwischen 1869 und 1881 verlebt Abramovitsh „Jahre der Krise und der Kreativität“. Nach dem Blick auf die beiden literarischen Zeitgenossen Yitskhok Yoyel Linetski und Avrom Goldfadn nimmt Klingenstein vor allem die Entstehung und die Wirkung von „Di kliatshe“ („Die Mähre“, 1873) in den Blick. Auch „Die verkürzten Fahrten Benjamins des Dritten“ entstehen in dieser Phase. Zu Abramovitshs Lebzeiten ist die „Die Mähre“ als „Allegorie der jüdischen Geschichte und der politischen Situation der Juden im Russischen Reich“ sein erfolgreichstes Werk.

Im Odessa der Jahre 1881 bis 1917 spielt das letzte Kapitel des Lebensromans, den Klingenstein detail- und kenntnisreich mit zahlreichen Querverweisen zu Zeitgenossen Abramovitshs und zum kulturhistorischen Hintergrund erzählt. Klingensteins Werk ermöglicht ein Eintauchen in die Welt des jüdischen Buchhändlers Mendele. Oder, wie Martin Walser formuliert:

Ich erlebe ein Nicht-mehr-in-Frage-Kommen für das sogenannte Hier und Heute. Eine vollkommene Eingenommenheit. Von ihm. Ich kann nichts dagegen tun, in mir dominiert die Mitteilung, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben. Und dieses Volk ist mir jetzt, erst jetzt, wirklich bekannt geworden. Durch Abramovitsh. Durch Mendele, Yisrolik, Binjamin, Senderl und Schloimale.

Titelbild

Susanne Klingenstein: Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh. Eine Geschichte der jiddischen Literatur zwischen Berdichev und Odessa, 1835-1917.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2014.
495 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783447101455

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Titelbild

Martin Walser: Shmekendike Blumen. Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.
138 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783498073879

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