Eine kulinarische Alltagsgeschichte des frühen 16. Jahrhunderts

Elke Strauchenbruch wirft einen Blick in Martin Luthers Töpfe

Von Helmut W. KlugRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut W. Klug

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beschäftigung mit Nahrungsmitteln, Zubereitungstechniken und Ernährungsgewohnheiten war noch nie so en vogue, wie sie es zurzeit ist; vereinzelt finden sich unter den Massen an Blogbeiträgen, Zeitungsartikeln und Büchern auch kulinarhistorische Abhandlungen. Manche davon beschäftigen sich sogar mit der Ernährungsgeschichte im deutschsprachigen Raum – ein Thema, das im Vergleich mit der schon lange fest etablierten kulinarhistorischen Forschung im romanischen und anglo-amerikanischen Raum ein stiefmütterliches Dasein fristet. Jede Publikation aus diesem Fachbereich wird daher ungeduldig erwartet, jede neue Quelle, egal ob Bild oder Text, will mit der bestehenden Forschung abgeglichen werden und jeder neue Blick auf dieses Thema schafft die Möglichkeit für weitere spannende Fragen und Erkenntnisse.

Das bevorstehende Reformationsjubiläum ist natürlich der passende Anlass, die Ernährung des frühen 16. Jahrhunderts mit dem Fokus auf Luthers Wittenberg in einem Überblick darzustellen. Elke Strauchenbruchs „Luthers Küchengeheimnisse“ reiht sich dabei ein in eine Reihe weiterer Publikationen, die den Bogen von historischem Reenactment (Leo Vogt: „Das Luther-Melanchthon-Kochbuch“, 2015) bis hin zur wissenschaftskommunikativen Aufarbeitung archäologischer Grabungsergebnisse rund um das Wohnhaus von Luthers Eltern in Mansfeld (Alexandra Dapper: „Zu Tisch bei Martin Luther“, 2008) spannen. Während Vogt sich thematisch weitgehende Freiheit nimmt und Dapper sich auf wissenschaftliche Fakten stützen kann, versucht Strauchenbruch in einem relativ engen Rahmen einen umfassenden alltagsgeschichtlichen Überblick über die Kulinarik der Frühen Neuzeit zu geben.

Das in Karton gebundene, 167 Seiten starke Büchlein vermittelt durch die farblich stimmige Gesamtkomposition, die haptisch wertigen Materialien und das durchgehend logisch aufgebaute Layout den Eindruck eines Produktes, das mit Sorgfalt hergestellt wurde. Die zeitgenössischen Abbildungen – meist Holzschnitte – wurden, wenn möglich, an die grafische Gestaltung angepasst, die eingestreuten historischen Belegtexte werden farblich und räumlich abgesetzt. Das grafische Bildmaterial vermittelt durch seine hohe Qualität einen positiven Eindruck, obwohl manche fotografischen Belege in Bezug auf Bildschärfe und Farbsättigung (hier vor allem die Speisenfotos) einer Nachbearbeitung bedurft hätten. Da der Satzspiegel an den oberen und seitlichen Seitenrändern Kopfzeilen und überfließenden Text (zum Beispiel Bildlegenden) zulässt, entsteht oft ein überladener Eindruck, der Lesende schnell bedrängen könnte: Hier würde etwas Auflockerung guttun. Insgesamt reiht sich das handliche Werk aber stimmig in die weiteren Alltagsgeschichten zur Reformationszeit ein, die ebenfalls von Elke Strauchenbruch verfasst und bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienen sind.

Inhaltlich bewegt sich die Autorin auf durchaus mäßig begangenen Pfaden, da es sehr wenig konkrete Forschungen zur Küche der Frühen Neuzeit gibt: Generell wird angenommen, dass die Erkenntnisse zur spätmittelalterlichen Küche weiter gelten (Das stimmt aber nur bedingt!) und so setzen intensive Forschungen erst wieder bei der hochbarocken Küche ein. Erschwert wird Strauchenbruchs Arbeit nicht nur durch die lokalen Einschränkungen, die ihr das Thema auferlegt, sondern vor allem auch durch das Fehlen einschlägiger Rezeptsammlungen aus diesem Bereich, was wohl den Verlusten der Quellentexte während der Kriegszeiten (vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Zweiten Weltkrieg) zuzuschreiben ist (man vergleiche dazu die reiche Überlieferung im süddeutschen Raum). Ihr Ausweichen auf zeitgenössische mitteldeutsche Rezepte ist daher legitim und mit den Kämmereirechnungen des Wittenberger Ratsarchivs aus diesem Zeitraum liegen der Autorin sehr passende und überaus wertvolle Quellen vor, die sie um einschlägige Sekundärwerke (unter anderem Alexandra Dapper: „Zu Tisch bei Martin Luther“, Massimo Montanari: „Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa“ und Günter Wiegelmann: „Alltags- und Festspeisen in Mitteleuropa. Innovationen, Strukturen und Regionen vom späten Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert“) ergänzt.

Das Grundkonzept des Buches, das in drei Großkapitel gegliedert ist und die Veränderungen in den Ernährungsgewohnheiten im Laufe der Reformationszeit darstellen will, lehnt sich eng an reformatorische Ideen an, die dabei auf die Ernährung übertragen werden: In den ersten beiden Kapiteln thematisiert Strauchenbruch die religiösen Fastengebote und setzt diese mit den Ideen Luthers (Nahrungsaufnahme als Leibes- und Gottesdienst ist nicht nur erlaubt, sondern soll auch mit Genuss erfolgen) und den Folgen der Reformation (unter anderem ein Einbruch der Fischereiwirtschaft) in Verbindung; im dritten Kapitel versucht sie, ein detailliertes Bild der Ernährungssituation der Wittenberger Bürger im 16. Jahrhundert zu entwerfen.

In allen Kapiteln greift sie klassische Themen der kulinarhistorischen Forschung zu Spätmittelalter und Früher Neuzeit auf, die immer auch mit lokalhistorischen Fakten und Exkursen angereichert sind. Im ersten Kapitel thematisiert die Autorin die soziale Abstufung, die auch in der Ernährung offenbar wurde, was nicht nur in der Menge der verfügbaren Nahrungsmittel, sondern auch in den einzelnen Zutaten und den zubereiteten Gerichten ersichtlich wird. Außerdem erläutert sie Speisegebote, die aus religiösen Vorgaben erwachsen, sowie die medizinischen Implikationen, welche die Ernährung in der Gesundheitslehre dieser Zeit hatte.

Der Reformationsgedanke brachte neben allen anderen Veränderungen auch eine Abkehr von den römisch-katholischen Fastengeboten, die je nach Region und Intensität des Glaubens Einfluss auf die Ernährung hatten: Bis zu zwei Drittel der Tage des Jahres konnten Fastentage sein, an denen kein Fleisch und keine Produkte von vierfüßigen Tieren gegessen werden durften. In weiterer Folge führte das zu den von Luther so angeprangerten Butterbriefen und anderen Ausnahmen, die erkauft werden konnten. Der Reformator überantwortete das Fasten dem einzelnen Individuum und wollte es nicht autoritär geregelt sehen. Das zweite Kapitel beschreibt die Herrenküche des reformierten Wittenberg, wo man durch derartige Regeln nicht mehr eingeschränkt war. Dazu bringt die Autorin historische Belege und Nachrichten zur Ernährung der Oberschicht und der Studenten in der Universitätsstadt Wittenberg, die den Fleischkonsum – auch in den üblichen Fastenzeiten wie Advent oder Quadragesima – deutlich herausstreichen.

Das dritte Kapitel versucht die Lebens- und vor allem Ernährungsumstände Martin Luthers, seiner Familie sowie seines Freundes- und Bekanntenkreises zu beschreiben, wobei Strauchenbruch einen Bogen von der Klosterküche (aus der Zeit Luthers als Augustinermönch) in die gutbürgerliche Küche des wittenbergischen Haushaltes der Lutherfamilie spannt. Dabei gelingt es ihr, nicht nur mithilfe von Lebenszeugnissen und zeitgenössischen Berichten, einige legendäre Aspekte von Luthers Leben (‚der fressende und saufende Luther‘) zu widerlegen, sondern auch sehr viele unterschiedliche kulturhistorische Aspekte in dieses Kapitel zu packen: zum Beispiel den Aufbau eines frühneuzeitlichen Bürgerhauses allgemein und des Lutherhauses im Speziellen, dessen Küchengestaltung und die Kochutensilien; die Beschreibung der Klosteranlage, die Luther bewohnte, und deren Renovierung sowie Geschichte; die Einrichtung des (ehemaligen) Refektoriums, das Gedeck bei Tisch und die Gäste, die wohl an diesen Tischen gespeist haben könnten; eine Lebensgeschichte von Luthers Frau Katharina; Tischmanieren und Speiseverhalten; den generell hohen Alkoholkonsum des 16. Jahrhunderts; die Unterbringung und Versorgung der Studenten; den Umfang und die Aufgaben der Dienerschaft in Luthers Haushalt und immer wieder Beschreibungen und Aufzählungen von unterschiedlichen Festen, deren Ausrichtung und Umfang durch die Obrigkeit geregelt werden mussten. Jedes für sich genommen sind das Themen, die unweigerlich im Rahmen einer kulinarhistorischen Darstellung einer Epoche behandelt werden müssen, doch wirken sie hier aufgrund der Häufung und der schlaglichtartigen Betrachtung zusammenhanglos und manchmal mit einer etwas zu großen Liebe zum lokalen Detail dargestellt.

Dieser Eindruck fasst außerdem gut zusammen, woran die Autorin in ihrer Darstellung insgesamt scheitert: Sie wird von der schieren Menge an Information, die für einen umfassenden kulinarhistorischen Epochenüberblick anfallen, überrollt und verliert dadurch oft ihr eigentliches Ziel, das ja durch den Titel „Luthers Küchengeheimnisse“ programmatisch vorgegeben ist, aus den Augen. Die vielen spannenden und unbekannten Details, die sie zur Ernährung Luthers, seiner Familie und seines engeren Umfeldes zusammengetragen hat, gehen in einer anstürmenden Flut an unterschiedlichen Informationen unter beziehungsweise verloren.

Das strenge Auge des Kulinarhistorikers findet zusätzliche, grundlegende Problemstellen: Wohl in ihrer Absicht einen epochenübergreifenden Überblick zu geben, zieht Strauchenbruch öfters Belege aus dem Frühmittelalter heran, um daraus auf die Gewohnheiten der Frühen Neuzeit überzuleiten oder gar darauf zu schließen – selbst wenn damit eine gewisse Kontinuität in der historischen Entwicklung dargestellt werden sollte, muss ein derartiger Vergleich schon allein an der Unvereinbarkeit beziehungsweise Unvergleichbarkeit dieser Zeitabschnitte scheitern. Auch die einleitende Darstellung des christlichen Einflusses auf die europäische Ernährung bedürfte mehrerer differenzierender Zwischenschritte, um bei den nicht vorgebildeten Lesenden einen historisch korrekten Eindruck zu hinterlassen. Geht man von ihrem verwunderten Kommentar dazu aus, wird klar, dass der Autorin die Implikation von zeitgenössischer Diätetik und Ernährung nicht bewusst ist, was gerade bei der Darstellung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Ernährungsgewohnheiten ein Manko darstellt. Problematisch, weil so gar nicht zum eigentlichen Thema des Werkes passend, sind auch die wiederkehrenden Vergleiche mit modernem Wissen und modernen volkskundlichen Gebräuchen, darunter fällt unter anderem auch das angeführte Rezept „Omas Zuckerkuchen“ aus dem vorigen Jahrhundert. Zwiespältig bleibt man auch bei der Lektüre der illustrierenden Rezepte zurück, die manchmal – vor allem im hinteren Teil des Buches – willkürlich in den Text eingefügt wirken und die sehr oft einer detaillierteren Erläuterung bedürften – ist einmal eine vorhanden (wie beispielsweise: „Keine Pizza, aber Fischfladen!“), stellt sich leider heraus, dass der Autorin die Vokabeln der Texte nicht geläufig sind, ist doch das „Teigblatt“ eine dem Flammkuchen oder Pizzaboden ähnliche Teigscheibe! Durchwegs stechen auch kleine, aber unangenehme Fehler ins Auge, die aber nicht nur der Autorin (S. 42: fehlerhafte Transkription – „Conserne“ statt Conserue), sondern auch dem Verlag bzw. Lektorat (S. 103: falsche Fußnotenziffer; S. 123: falsche Referenzen in den Fußnoten und ungekennzeichnete Änderungen im direkten Zitat) zugeschrieben werden müssen.

Trotz dieser Kritik kann die Arbeit Strauchenbruchs aber zusammenfassend als ein wertvoller Beitrag zur kulinarhistorischen Aufarbeitung des 16. Jahrhunderts betrachtet werden: Allein die Selektion der einschlägigen Textpassagen aus Luthers Werken und darüber hinaus die ergänzenden Informationen aus zeitgenössischen, lokalen Quellen ermöglichen einen neuen interessanten Blickwinkel auf die Ernährung in dieser Epoche. Sie bestätigen nicht nur den Eindruck, dass hier noch sehr viel Aufarbeitung geleistet werden kann, sondern machen überdies Lust darauf, sich sogleich intensiver mit dieser speziellen Thematik auseinanderzusetzen! Alle, die eine Einführung in die historische Küche der Frühen Neuzeit interessiert, können sich bedingt in diesem Werk informieren; jene aber, die mehr über den Reformator Martin Luther und seinen Alltag erfahren möchten, können hier bedenkenlos zugreifen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Elke Strauchenbruch: Luthers Küchengeheimnisse.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2015.
167 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783374041237

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