Außerhalb der Vorstellungskraft?

Susan Boos fragt in ihrer Fukushima-Reportage danach, was man aus den atomaren Super-GAUs in Japan und Russland gelernt hat

Von Cosima WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cosima Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bei der Kernenergie gibt es nur zwei Gruppen von Leuten: Kernenergiegegner und Leute, die nicht genug nachgedacht haben.“ Mit diesem Zitat von Dennis L. Meadows, Ko-Autor der Club of Rome-Studie „The Limits of Growth“ („Die Grenzen des Wachstums“, 1972), beschreibt die Wissenschaftsjournalistin und Redaktionsleiterin der Schweizer „Wochenzeitung“ (WOZ), Susan Boos, im Vorwort ihre Motivation zur Abfassung des vorliegenden Bandes „Fukushima lässt grüßen. Die Folgen eines Super-GAUs“ von 2012: „In diesem Buch wird nachgezeichnet, wie man mitten in Europa mit einer großen Atomkatastrophe umzugehen gedenkt. […] Vor Fukushima glaubte man, alles im Griff zu haben. Seit Fukushima gestehen sich viele Verantwortliche ein, dass man nur beschränkt gerüstet ist. Denkblockaden sind gefallen – Tschernobyl hat das nicht geschafft.“

Im Japanischen fanden diese „Denkblockaden“ Ausdruck in den Begriffen „sôteigai“ (außerhalb der Vorstellungskraft) und „genpatsu anzen shinwa“ (Sicherheitsmythos der Atomanlagen), die nach der Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi im März 2011 zu Schlagwörtern wurden. Ein derartiger Unfall infolge eines solchen Erdbebens und Tsunamis sei außerhalb jeglicher Vorstellungskraft gewesen, lautete die Rechtfertigung der Atomkraft-Befürworter. Ihre seit Jahrzehnten mahnenden Kritiker sprachen dagegen von einem Platzen des Sicherheitsmythos der Atomkraft.

Für Boos geht es bei der Analyse der Atomkatastrophe in Japan jedoch nicht um die Darstellung spezifisch japanischer Umgehensweisen mit dem Super-GAU, sondern um die Frage, was andere Industrienationen, in denen Atomkraft zur Stromerzeugung genutzt wird, daraus lernen und wie man beispielsweise in Deutschland und der Schweiz mit einem Super-GAU umgehen würde. Der Autorin zufolge gehe es jedoch „weniger ums Nachdenken als um Vorstellungskraft. Man muss sich vorstellen können, was ein Super-GAU in unmittelbarer Nähe mit der eigenen Welt anrichten würde. […] Seit Fukushima Daiichi braucht es keine Fantasie mehr, sich das vorzustellen. Man muss nur hinschauen.“

Genau hingeschaut hat Boos in Sachen Atomkraft und Radioaktivität schon nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl; sie hat zahlreiche Artikel zum Thema publiziert; außerdem zwei Bücher: „Beherrschtes Entsetzen. Das Leben in der Ukraine zehn Jahre nach Tschernobyl“ (1996) und „Strahlende Schweiz. Handbuch zur Atomwirtschaft“ (1999). Im Jahr 2012 wurde sie für ihre umfangreichen Recherchen und Publikationen mit dem „Nuclear-Free Future Award“ der Münchner „Franz-Moll-Stiftung für kommende Generationen“ geehrt. Die Stiftung zeichnet mit diesem „Antiatompreis“ Menschen aus, „die sich für eine Zukunft frei von Atomkraft und Atomwaffen einsetzen“.

Für die vorliegende Reportage „Fukushima lässt grüßen“ reiste Boos zu Recherchezwecken im Oktober und Dezember 2011 nach Japan. Begleitet wurde sie dabei vom Übersetzer Tomoyuki Takada, der ein Nachwort zum Band beisteuerte. Das Buch ist in drei (Reise-)Abschnitte gegliedert: Teil I beschreibt den Verlauf der Reaktorkatastrophe in der Anlage Fukushima Daiichi ab dem 11. März 2011 und ihre Reise zu Atomkraft-ExpertInnen sowie Akteuren der Anti-Atom-Bewegung in Japan; Teil II legt die Ergebnisse einer Rundreise im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet zur Frage eines „Super-GAUs an der Deutsch-Schweizerischen Grenze“ dar; in Teil III kehrt sie zurück nach Japan und untersucht die Situation der aus den radioaktiv verseuchten Gebieten Evakuierten, die Aufräumarbeiten in der zerstörten Atomanlage, widmet sich Fragen der Dekontamination und der zulässigen Grenzwerte für radioaktive Strahlung und analysiert die Kommunikation des Betreibers Tôkyô Denryoku (TEPCO), der ihr sogar ein persönliches Interview gewährt.

Beigefügt sind zudem Karten zur Verbreitung der radioaktiven Strahlung nach der Havarie von Fukushima Daiichi und Tschernobyl im Vergleich, zur Lage der Atomkraftwerke in Japan und es finden sich zahlreiche Begriffserläuterungen in Schaukästen im Text („Strahlengrenzwerte“, „Einheiten zur Strahlenmessung“, „Was ist MOX?“, „Akute Strahlenkrankheit und Langzeitschäden“ et cetera). Zusätzlich vermittelt den LeserInnen ein zwölfseitiger Anhang mit Schaubildern zur Uranerzgewinnung, künstlichen Kernspaltung, Reaktortypen, Strahlenarten sowie ein Glossar zur Atomtechnologie, eine Literaturauswahl und eine Linksammlung zu Fukushima Daiichi beziehungsweise Anti-Atomorganisationen in der Schweiz und Deutschland ein kompaktes Grundwissen zum Thema.

Boosʼ Buch ist flüssig zu lesen und stellt vier Jahre nach seinem Erscheinen insbesondere dank der Dokumentation von Zeitzeugen-Interviews aus dem Jahr 2011 ein wichtiges Zeugnis der Atomkraftgeschichte Japans dar. Erschreckend sind zudem die Erkenntnisse aus ihrer Vergleichsstudie zu atomaren Katastrophenschutz-Maßnahmen in der Schweiz und Deutschland, so etwa wenn der Chef des regionalen Katastrophenschutz-Führungsorgans Aare/Rhein ihr eröffnet, dass man im Falle eines Unfalls „mit großer Freisetzung“ im AKW Leibstadt an der Grenze zu Deutschland einen Zirkel nehmen, einen Kreis darum ziehen und sagen würde: „Da geht niemand mehr rein. Wir gehen nicht mal mehr rein, um den Leuten zu helfen. Wir werden sie dem Schicksal überlassen. […] Es ist brutal, sich einzugestehen dass man nichts mehr machen kann, aber wenn ein solches Ereignis passiert, ist man hilflos.“ Szenarien, mit denen die Eidgenössische Atomaufsichtsbehörde ENSI plant, sehen die Freisetzung von „Radionukliden wie Cäsium oder Strontium, die Gebiete auf Jahre unbewohnbar machen“, gar nicht erst vor. Auch die Frage der Aufräumarbeiten und wer dazu verpflichtet wäre beziehungsweise sich dazu bereit erklären würde, bleibt für Boos unbeantwortet.

Was die Autorin umtreibt, ist weiterhin die Tatsache, dass man weder in der Schweiz noch in Japan Lehren aus Tschernobyl gezogen habe und Strahlengrenzwerte nach wie vor als politische Größen ausgehandelt würden. Zulässige Grenzwerte für radioaktive Strahlung in von Menschen bewohnten Gebieten wurden in der damaligen Sowjetunion (Evakuierung ab 5 Millisievert pro Jahr) zum Teil viel niedriger festgesetzt als 2011 in Japan (Evakuierung ab 20 Millisievert pro Jahr). Das maßgebliche internationale Gremium für die Empfehlung zu Grenzwerten, die „International Commission on Radiological Protection (ICRP)“, sei zudem ein „sich selbst konstituierendes Gremium von Wissenschaftlern, das niemandem Rechenschaft ablegen muss“; diverse Mitglieder stünden der Atomindustrie sehr nahe.

Aus japanologischer Sicht hebt sich das Buch positiv von exotisierenden Analysen der angeblich kritiklosen, alles still ertragenden JapanerInnen ab, indem die Autorin unter anderem Akteure der japanischen Anti-Atombewegung vorstellt und das „Klischee der unkritischen, unterwürfigen Japanerinnen und Japaner“ als „falsch und unfair“ bezeichnet. Sicher nicht zuletzt dank ihres japanischen Übersetzers Takada sind ihr tiefgehende Einblicke und Betrachtungen möglich. Dieser erläutert im Nachwort seine eigene kritische Haltung zum Thema und spricht gar vom politischen und gesellschaftlichen Versagen im Bezug auf die Atomkraft, „das wir alle, als Japaner, als Mitläufer im staatlichen System über Jahrzehnte geduldet und zugelassen haben“.

Bedauerlich ist allerdings, dass zwar sowohl Boos als auch Takada sich mehr Informationen aus erster Hand zum Geschehen in Japan – insbesondere zu Atomkraft-kritischen JapanerInnen – wünschen, Projekte wie die „Textinitiative Fukushima“ der japanologischen Institute in Frankfurt, Leipzig und Zürich, die sich in Form eines Weblogs seit April 2011 mit zahlreichen Übersetzungen der Sichtung des japanischen Atomkraft-Diskurses widmeten, aber nicht wahrgenommen haben.

Nichtsdestotrotz ist Susan Boos’ Buch auch heute noch eine lesenswerte Studie des Atomaren in länderübergreifender kritischer Perspektive, die ihrem Anspruch, Denkblockaden in Bezug auf Super-GAUs abzulegen, gerecht wird.

Titelbild

Susan Boos: Fukushima lässt grüßen. Die Folgen eines Super-GAUs.
Rotpunktverlag, Zürich 2012.
272 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783858694744

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