Als Lehnstuhl-Reisender in ferne Länder und Zeiten

Timothy Brook erklärt „Wie China nach Europa kam“

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Handlungsort: der Keller der altehrwürdigen Bodleian Library (Bibliotheca Bodleiana oder kurz Bodleiana), der Hauptbibliothek der 1602 eröffneten Universität Oxford. Der Hauptdarsteller: eine alte Karte aus dem 17. Jahrhundert mit geheimnisvollen Schriftzeichen, die seit 1654 im Archivkeller der Bodleiana ruht und im Jahr 2009 wiederentdeckt wurde. Sie stammt aus dem umfangreichen Nachlass des Juristen, Orientalisten und Politikers John Selden (1584 – 1654), einem Zeitgenossen William Shakespeares und Freund Ben Jonsons, der sich als Gegenspieler von Hugo Grotius unter Staatsrechtlern einen besonderen Ruf als Wegbereiter des modernen Völkerrechts erwarb, weil er als Wortführer in den niederländisch-englischen Debatten um die Freiheit der Meere auftrat. Anders als Grotius trat Selden nicht für das Mare Liberum und den Freihandel auf, sondern im Auftrag der britischen Krone für ein Mare clausum, die geschlossene See.

Schon diese wenigen Angaben genügten, um den Stoff für einen Thriller im Stil Dan Browns oder für eine Fantasy-Geschichte nach Art von Joanne K. Rowling abzugeben, und es verwundert nicht, dass die Bodleiana Drehort der beiden ersten Harry-Potter-Filme gewesen ist. Alte Landkarten, dazu solche mit geheimnisvollen Schriftzeichen, regen seit jeher die Fantasie an, wecken Neugier und Abenteuerlust, sorgen für Wissbegier und Spannung. Timothy Brook, der bekannte Sinologe, Dozent in Oxford und Professor an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada, hat glücklicherweise keinen Roman geschrieben, sondern ein wissenschaftliches Buch, das amüsant und geistreich ist und sich wie ein lehrreicher Thriller liest. Falls es dieses Genre bisher noch nicht gab, dann hat es Brook mit Wie China nach Europa kam begründet. Denn was er anhand „der unerhörten Karte des Mr. Selden“ – so der Untertitel – über die wiederentdeckte chinesische Karte aus dem 17. Jahrhundert herausfindet, liest sich spannend wie eine Detektivgeschichte und ist unterhaltsam wie ein guter Roman, dabei jedoch gleichzeitig so lesenswert und lehrreich wie ein gutes wissenschaftliches Buch. Zwar steht die seltsame Karte im Mittelpunkt, doch nutzt Brook die Gelegenheit für eine Darstellung der unterschiedlichen Gesellschaften des 17. Jahrhunderts in Europa und Südostasien. Sein Prinzip beschreibt der Autor gleich zu Beginn anschaulich: „Einer einzigen Karte ein ganzes Buch zu widmen verschafft uns den Raum, nicht nur diese Karte, sondern auch die Welt zu begreifen, in der sie gemacht wurde“. So erfährt der Leser viel über das Leben, die Wissenschaft und das Schreiben im nachelisabethanischen England sowie über die Welt des Handels und Wandels in den Gewässern der Ming-Dynastie, in denen Europäer und Asiaten Geschäfte machen wollten. Denn ein Geheimnis, das Brook lüftet, ist Folgendes: Die Selden-Map ist keine gewöhnliche Landkarte, sondern eine, die Handelsrouten im chinesischen Meer verzeichnet.

Wer dieses kartografische Meisterwerk schuf, wird wohl nie ans Tageslicht kommen, der Kartograf muss aber um 1608 in der javanischen Hafenstadt Jakarta tätig gewesen sein und kannte die Meere und Handelsrouten südlich von China wohl aus eigener nautischer Erfahrung. Brook versucht hinter die vielen Geheimnisse der Karte zu gelangen: Er folgt mancherlei Pfaden und Expeditionen, untersucht chinesische Kompasse, wertet Tagebücher von Navigatoren und Abenteurern, von Seefahrern und Händlern der Frühen Neuzeit aus – so etwa das des englischen Steuermann Will Adams, der 1600 in Japan strandete und dessen Schicksal James Clavell für seinen Bestseller Shogun beschrieb – und liefert seinen Lesern damit das vielgestaltige Bild einer ganzen Weltepoche, ein Panorama des globalen Handels, des Austauschs von Wissen und Kunst. 

Dass es sich bei der Selden-Karte um die „bedeutendste chinesische Karte der letzten sieben Jahrhunderte“ handelt, wird schnell klar. Sie stellt jenen Teil der Welt dar, den die Chinesen seinerzeit kannten: vom Indischen Ozean im Westen bis zu den Gewürzinseln im Osten, und von Java im Süden bis Japan im Norden. Es ist zudem die erste Karte der Weltgeschichte, die den Schiffsverkehr so umfangreich dokumentierte. Dabei stellt sie keine nüchterne Aufzeichnung topografischer Fakten dar, sondern ist ein einzigartiges historisches Dokument, das uns vor Augen führt, wie man sich vor langer Zeit die asiatische Welt vorgestellte.

Die Karte hat eine Länge von einem Meter sechzig mal einem Meter und ist mehr als ein Hilfsmittel der Orientierung – sie ist zugleich ein Kunstwerk. Die Landpartien sind sandfarben gehalten und mit hellblauen und braunen Bergen verziert, während kleine schwarze Punkte nach Art der chinesischen Landschaftsmalerei den Baumbewuchs andeuten. Was die Karte für Brook aber so besonders macht, sind die über die ganze Karte verstreuten gelb und schwarz umringten chinesischen Schriftzeichen, die Städte und Häfen markieren. Daneben finden sich schnurgerade Linien, die kreuz und quer über den Ozean die Routen aufzeichnen, auf denen einst die Schiffe von Hafen zu Hafen segelten. Auf den Innenseiten des Bucheinbandes sind Ausschnitte der Karte zu sehen, die dem Betrachter eine Vorstellung von ihrer geheimnisvollen Schönheit geben.

Als die seltsame Karte des Mr. Selden 1659 in die Bodleian Library gelangte, gab es dort niemand, der sie lesen konnte. Es dauerte bis 1687, ehe der junge Chinese Michael Shen in Oxford eintraf. Der junge Arzt war in China dem flämischen Jesuiten Philippe Couplet begegnet, der Shen zum Christentum bekehrte und ihm die westlichen Sprachen lehrte. Gemeinsam mit dem Orientalisten Thomas Hyde beginnt er in Oxford die Karte zu dechiffrieren. Und das funktionierte folgendermaßen: Shen übersetzte die chinesischen Beschriftungen auf der Karte und fügte teilweise Anmerkungen in winzigen, kaum leserlichen europäischen Lettern hinzu, Hyde übersetzte das Geschriebene in Latein. Auch dies ein Geheimnis der Karte, das Brook so geistreich wie unterhaltsam lüftet: Sie ist ein frühes Beispiel für den internationalen Kulturaustausch. Der aus China in die Alte Welt gereiste Michael Shen, der erste Chinese in Großbritannien, wird zum Sprachvermittler, und Hyde, der europäische Arabist, beginnt Chinesisch zu lernen. Umgekehrt lassen sich auch die Chinesen von Europa inspirieren.

Das Potenzial der Karte blieb jedoch vorerst ungenutzt. Über lange Zeit blieb sie, die beste ihrer Art, ungenutzt im Keller der Bibliothek. Dabei hätte sie die europäische Kartendarstellung revolutionieren und die Bedingungen des Handels und der Wissenschaften wesentlich verbessern können. Damit dokumentiert Brooks Buch auch eine verpasste Chance, und es ist damit zugleich ein Lehrstück in Sachen Hochmut und Arroganz der Europäer gegenüber anderen Weltkulturen.

Timothy Brook nimmt den Leser mit auf eine spannende, unterhaltsame und vor allem lehrreiche Entdeckungsreise, die nicht allein in eine andere Weltregion, sondern auch in eine längst vergangene Zeit führt (die allerdings noch viele Bezüge zur Gegenwart hat). Dabei muss man als Leser – übrigens wie John Selden, der Kartenbesitzer, der nie zur See gefahren ist und Oxford nie verlassen hat – seinen Ort nicht verlassen. Im Englischen gibt es sogar einen Ausdruck für Reisende, die in ferne Länder reisen, ohne ihre Heimat zu verlassen: „armchair travelers“ nennt man sie. Wer also als „Lehnstuhl-Reisender“ ohne Pass und Schiff trotzdem die Segel setzen will, um in ferne Länder zu reisen und eine Epoche des Aufbruchs mit Abenteurern, Forschern und kuriosen Menschen erleben möchte, der tut gut daran, Brooks Buch über die unerhörte Karte des Mr. Selden zur Hand zu nehmen. Sein Reisegefährt ist dann auch keine ruckelnde Postchaise oder ein stinkendes Schiff, sondern ein vom Verlag Klaus Wagenbach in seiner Reihe Kulturgeschichte liebevoll und typografisch ansprechend gestaltetes Buch, das die Reise- und Leselust verstärkt. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass der Leser und Lehnstuhl-Reisende in der deutschen Ausgabe erfreulicherweise angenehmer und in einem hübscheren Gewand unterwegs ist, als in der englischen Originalausgabe.

Titelbild

Timothy Brook: Wie China nach Europa kam. Die unerhörte Karte des Mr. Selden.
Übersetzt aus dem Englischen von Robin Cackett.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015.
234 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783803136565

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