Kein Historienschinken, aber genauso lesenswert

Zur Neuentdeckung von Ernst Lothars Roman „Der Engel mit der Posaune“

Von Clemens GötzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clemens Götze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist keinesfalls zu hoch gegriffen, wenn man Ernst Lothars Roman „Der Engel mit der Posaune“ als außergewöhnlich beschreibt. Auch wenn Eva Menasse in ihrem Nachwort zu dieser Jubiläumsneuausgabe konstatiert, es sei sicher nicht das größte literarische Kunstwerk, „kein erstklassiger Roman“, was auch zu seinem Vergessen beigetragen haben dürfte, so bleibt er doch der größte Erfolg des Autors und verdient schon deshalb die Neuherausgabe. Unverständlich bleibt, weshalb der im Exil in den USA verfasste Text und sein Autor heute eher als wiederentdeckter Geheimtipp gelten und so lange das Dasein eines Vergessenen fristen musste, konnte doch Ernst Lothar zu seinen besten Zeiten durchaus als Vielschreiber bezeichnet werden.

„Der Engel mit der Posaune“ fällt in die Kategorie der Familienbiografie und zeichnet ein eindrucksvolles, plastisches Bild der Stadt Wien zu Beginn der späten Ringstraßenära; man kann den Geist der damaligen Zeit geradezu sinnlich spüren. Die Handlung erstreckt sich über 50 Jahre, von 1888 bis 1938. Durch die Familiensaga führt als Hauptperson Henriette Alt, geborene Stein, beginnend mit ihrer Heirat, hin bis zu ihrem Tod. Rund um ihre Biografie entspinnt sich die Geschichte ihrer Verwandten und Kinder, die alle im Haus der Familie leben. Der über dessen Eingang angebrachte, die Posaune blasende Engel gab dem Roman seinen Titel und scheint als Verkünder von Vergangenem und Zukünftigem alles in einem Bild zu vereinen.

Wie bei den Musils, Schnitzlers, Roths und Doderers dieser Zeit spielt dabei der Niedergang des Habsburgerreiches eine zentrale Rolle für den Plot und treibt die Geschichte voran. Historie wird hier durch die Figuren – vom Klavierbauer bis zur Magd – in Lebensgeschichten erzählt, ähnlich wie bei Joseph Roths Roman „Radetzkymarsch“, allerdings deutlich detailverliebter. Fast erinnern manche Passagen an das Drehbuch zu einem Jahrhundertfilm oder an eine Dramenvorlage; ganz abwegig ist dieser Gedanke sicher nicht, war doch Ernst Lothar auch bedeutender Theatermann, ab 1925 Theaterkritiker, Regisseur und schließlich Direktor des Theaters in der Josefstadt, wie Dagmar Heißler jüngst in ihrer beeindruckenden und fundierten Monografie zum Autor („Ernst Lothar. Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender“, 2016) ausführlich dargelegt hat. Die Dramaturgie des Romans hat sicher dazu beigetragen, dass man ihn bereits 1948, zwei Jahre nach Veröffentlichung der Textvorlage, verfilmte.

Ein wenig plakativ lässt sich auch für den heutigen Leser konstatieren, dass für jeden Geschmack etwas dabei ist: Von der Liebesgeschichte mit k.u.k.-Standesdünkel, die für den Thronfolger im Suizid endet, über eine nicht eben glückliche Ehegeschichte, Kriegsdramen und die Gräuel der aufkeimenden Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten bis hin zur Deportation der Protagonistin bietet der Roman ein breites Spektrum an tragischen Ereignissen, die in den Zeitläufen durchaus realistischer anmuten als diese Aufzählung vermuten ließe. Es ist eine sehr eindringliche, berührende Geschichte mit eindrucksvollen Protagonisten vor einer immer noch postfeudalen Kulisse der Seilerstätte Nr. 10. Auch sprachlich passt sich das Werk an die erzählte Epoche an, weshalb der Schreibstil Lothars zuweilen etwas antiquiert anmutet. Dies vermittelt jedoch einen authentischen Eindruck von der Stimmung und ist damit letztlich doch eher als Kunstgriff denn als stilistische Marotte zu werten.

Der Roman erzählt die Geschichte vom Niedergang politischer Strukturen, kultureller Prägungen und historisierender Wertungen. Am Beginn des Textes, im Mai 1880, scheint die Welt noch in Ordnung zu sein; kaum etwas deutet auf eine Vertreibung aus dem Paradies der Donaumonarchie hin. Das politische Vakuum nach dem Zerfall des Habsburgerreiches klingt als Chance und Problem gleichermaßen an, doch es ist bei Weitem noch nicht so bedrohlich wie die vielen Geisteskranken und Verstümmelten, die in der Nachkriegsliteratur ab den 1960er-Jahren etwa bei Thomas Bernhard ihr Unwesen treiben. Man meint eher den Schauder des verzweifelten Exilautors herauslesen zu können, denn alles in allem ist der Roman einer des Rückblickes. Nicht an jeder Stelle haben alle Figuren stets den Tiefgang, den ein historisch brisantes Thema wie dieses am Scheideweg des Jahrhunderts erwarten ließe. das schmälert den Lesegenuss jedoch nur wenig. Vielmehr sollte das Werk als historisches Zeitdokument denn als historischer Roman im eigentlichen Sinne gelesen werden. So ist es eine nötige Wiederentdeckung eines zu Unrecht von Lesepublikum und Literaturwissenschaft vergessenen Schmuckstücks österreichischer Erzählkunst, die vielleicht nicht immer dem Vergleich mit Größen seiner Zeit wie Thomas Mann oder Heimito von Doderer standhält, wohl aber trotzdem – oder gerade deshalb – nicht minder lesenswert ist. Wer Joseph Roth und Stefan Zweig verehrt, wird sich zweifelsohne auch für diesen Roman erwärmen können. Die Neugier wird ganz sicher belohnt werden.

Titelbild

Ernst Lothar: Der Engel mit der Posaune. Roman eines Hauses.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016.
544 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552057685

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