Vergangenheitspolitik

Amnestie und Integration für Nazis in den 50ern

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Frühjahr 1999 liegt die vor drei Jahren erstmals erschienene voluminöse Untersuchung Norbert Freis zum politischen Umgang der jungen Bundesrepublik mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands als Taschenbuch vor.

Der titelgebende Terminus "Vergangenheitspolitik" wird vom Autor zu Recht und wohlbegründet dem allgemein üblichen der "Vergangenheitsbewältigung" vorgezogen. Suggeriert dieser doch, politische wie auch persönliche Schuld und Last sowie das Erbe nationalsozialistischer Vergangenheit seien gleich einem Pensum abgearbeitet und gemeistert. Ganz anders hingegen Freis scheinbar weiterer, tatsächlich jedoch genauerer Begriff. Mit ihm bezeichnet der Autor eine zentrale innenpolitische Entwicklung der BRD in der ersten Hälfte der 50er Jahre, die vor allem auf Strafaufhebung und Integration ehemaliger Parteigenossen und nationalsozialistischer Straftäter zielte und eher nebenher Organisationen und Ideologien ausgrenzen und tabuisieren sollte, die noch immer nationalsozialistischen Doktrinen anhingen. Nicht die Opfer des nationalsozialistischen Terrors profitierten also von dieser Vergangenheitspolitik, sondern die Täter, vor allem die Unzahl der 'Mitläufer' und die von der alliierten Entnazifizierung betroffenen Beamten, ebenso aber auch die übrigen 'Entnazifizierungsgeschädigten'. Sie alle waren Nutznießer des "'Konzepts' der weitgefaßten Pardonierung". Diese Tatsache beinhaltet der von Frei bevorzugte Begriff zwar nicht per se, doch verschleiert er sie auch nicht, wie derjenige der "Vergangenheitsbewältigung", der sie geradezu dementiert.

Frei will die "Entscheidungsprozesse analysieren, Einflußstrukturen ermitteln und Diskussionszusammenhänge verdeutlichen", die die Vergangenheitspolitik ausmachen. Obgleich der historisch-genetischen Methode verbunden, gliedert er um der Klarheit der Darstellung willen seine Untersuchung in drei systematische Abschnitte. In allen wird ein eingehendes Quellenstudium und vor allem eine intensive Auswertung von Archivalien deutlich, auch wenn sie von etwas ungleichem Umfang und Gewicht sind.

Im ersten Teil weist der Autor nach, wie insbesondere mit den beiden populistischen Straffreiheitsgesetzen von 1949 und 1954 die Entnazifizierung durch die Alliierten rückgängig gemacht wurde. Frei bescheinigt dabei en passant den Westalliierten die Entschlossenheit und den Willen, "individuell belastete Täter und Tätergruppen zur Rechenschaft zu ziehen, darunter freilich [...] viele Angehörige der militärischen, staatsbürokratischen und wirtschaftlichen Eliten". Diese Behauptung allerdings ist nur schwerlich in Einklang zu bringen mit den detaillierten Forschungsergebnissen Lutz Niethammers, die zu Beginn der 70er Jahre zu den Entnazifizierungmaßnahmen der amerikanischen Militärregierung in Bayern vorlegt worden sind. Nicht von ungefähr wurde dann auch für das Entnazifizierungsverfahren des Office of Military Government for Germany, US-Zone of Occupation (OMGUS) der spöttische Ausdruck "Mitläuferfabrik" geprägt. Mit den Straffreiheitsgesetzen der Bundesregierung, so Frei, sei eine weit verbreitete "Schlußstrich-Mentalität" bedient worden. "Alle Parteien" hätten die 1950 stattfindende Debatte um die "Liquidation" der alliierten Entnazifizierung als Chance genutzt, "sich im Bundestag als Entnazifizierungsgegner zu profilieren".

Das ist sicher so verkehrt nicht. Doch "allen" Parteien wird der Autor mit diesem Verdikt nicht gerecht. Vielmehr handelt es sich um eine etwas zu pauschale Behauptung, die für die fünfzehn Abgeordneten der KPD nur schwer zu belegen sein dürfte. Frei unternimmt den Versuch auch erst gar nicht, wie er überhaupt zur Politik der KPD recht wenig zu sagen hat. Doch immerhin soviel, daß sich die kommunistische Fraktion vorwerfen lassen muß, dem Straffreiheitsgesetz ihre Zustimmung gegeben zu haben, weil sie sich in dem naiven Glauben wiegte, es gehe im Grunde um Straffreiheit für Widerstandskämpfer. Das aber ist immer noch etwas grundlegend anderes als die Absicht, sich als Entnazifizierungsgegner profilieren zu wollen. Den Zwiespalt der SPD hingegen, einerseits dem in der Bevölkerung weit verbreiteten "unbegrenzten Willen zur Amnestie" nachkommen zu wollen, andererseits aber auch Teilen ihrer Mitgliedschaft gerecht werden zu müssen, die im Widerstand ihr Leben riskiert haben oder den Konzentrationslagern nur mit knapper Not entkommen sind, arbeitet er recht schön heraus.

Der zweite Teil behandelt "das Feilschen" um die Amnestie für den im allgemeinen nur unscharf als "Kriegsverbrecher" bezeichneten Personenkreis. Mit gemeint sind immer auch SS-Mitglieder und Parteifunktionäre, ebenso wie KZ-Personal oder Verantwortliche in der Rüstungsindustrie, die Zwangsarbeiter eingesetzt haben. Ein bislang von der Forschung weitgehend unbeachtetes Gebiet, dem Frei sich hier dankenswerter Weise zuwendet. Er weist erstmals detailgenau nach, mit welchem Nachdruck und mit welcher Hartnäckigkeit "nicht nur die Bundesregierung, sondern die gesamte Bonner Politik" sich der 'Lösung des Kriegsverbrecherproblems' angenommen hat, vehement unterstützt von der veröffentlichten Meinung und den alten Militärs. Auch hier ist allerdings wieder die Einschränkung zu machen, daß Frei von der "gesamten Bonner Politik" spricht, ohne die Sonderrolle der KPD ins Auge zu fassen. Zwei Gründe macht Frei für den Schulterschluß zu Gunsten der Kriegsverbrecher aus: Zum einen waren Westintegration und Wiederbewaffnung durch die mögliche Verweigerung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere ernsthaft gefährdet, die ihre Mitarbeit an die Freilassung ihrer inhaftierten "Kameraden" zu knüpfen wußten; zum anderen sahen sich CDU/CSU und SPD durch eine bestimmte "psychische Disponiertheit" weiter Bevölkerungskreise, deren "Amnestiebedürfnis" nämlich, zu dieser populistischen Lösung gezwungen.

Der dritte Teil behandelt die Abgrenzung gegenüber nationalsozialistischen Ideologieträgern wie der Sozialistischen Reichspartei. Daß er etwas knapper ausgefallen ist, dürfte in der Sache begründet sein. Frei führt zu Recht die Tabuisierung des "ideologisch-politischen Bekenntnisses zu Nationalsozialismus und Antisemitismus" zum einen auf außenpolitische Beweggründe zurück, mit der latenten Interventionsdrohung der Alliierten im Hintergrund. Zum anderen diente sie als "Legitimation und Korrektiv einer im übrigen durch Amnestie und Integration bestimmten Vergangenheitspolitik". Sie waren es, die ihr Wesen ausmachten. Tabuisierung von und Abgrenzung gegenüber nationalsozialistischer Ideologie hingegen waren nur flankierende Maßnahmen.

Das Phänomen, welches gemeinhin mit dem Euphemismus "Vergangenheitsbewältigung" belegt wird, führt Frei also im wesentlichen auf zwei Ursachen zurück: Zum einen auf die von der Forschung bislang weitgehend vernachlässigte Einflußnahme von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und zum anderen auf den Druck einer verbreiteten Stimmung, 'endlich' einen Schlußstrich zu ziehen, dem die Bonner Politik ausgesetzt gewesen war. Es gelingt ihm, beides überzeugend zu belegen. Wobei es allerdings gegenüber einer Großzahl von Abgeordneten der Regierungsparteien allenfalls eines sehr geringen Druckes bedurfte. "Die Selbstverständlichkeit und Pauschalität, mit der sich Politik und Öffentlichkeit zu Anfang der fünfziger Jahre für die von den Alliierten verurteilten Kriegsverbrecher und NS-Täter einsetzten, deren Freilassung forderten und deren soziale Integration betrieben, ist das vielleicht überraschendste, in jedem Fall bestürzendste Ergebnis dieser Arbeit." Dies publik gemacht zu haben ist das nicht gering zu schätzende Verdienst Freis. Wenn auch seine Interpretation bisweilen mit einer Tendenz zu psychologistischem Reduktionismus bei der politisch-psychologischen Befindlichkeit der bundesdeutschen Bevölkerung verharrt und ihr ein zu großes ursächliches Gewicht beimißt. Die unbestreitbare Einflußnahme systembedingter ökonomischer 'Zwänge' hingegen, also der Interessen von Kapital und Finanzwelt, vertreten durch führende Industrielle und Bankiers, bleibt weitgehend unterbelichtet, wenn nicht gar ausgeblendet. Der Name Hermann Josef Abs etwa fällt im ganzen Buch nicht ein einziges Mal, der Robert Pferdmenges' gerade ein Mal, beiläufig in einem Zitat. Beide waren jedoch als engste politische Vertraute Adenauers zutiefst involviert in Entscheidungsprozesse, Einflußstrukturen und Diskussionszusammenhänge, die Frei zu analysieren, zu vermitteln und zu verdeutlichen versprach.

Titelbild

Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit.
dtv Verlag, München 1999.
464 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 342330720X
ISBN-13: 9783423307208

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