Ein Kind der 1960er-Jahre bekommt eine Stimme

Birgit Vanderbeke erzählt in „Ich freue mich, dass ich geboren bin“, wie ein Geburtstagslied von einer Lüge zu einem guten Lebensrefrain wird

Von Helga ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helga Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Birgit Vanderbekes Roman „Ich freue mich, dass ich geboren bin“ ist ein Plädoyer dafür, dass jeder Mensch, besonders jedes Kind, eine Stimme braucht, und zwar eine Stimme, die seine eigene Wahrheit spricht und nicht die der Eltern, Lehrer oder Verwandten. Die Weltsicht der Mutter stellt die unzureichende Gegenwart des Jahres 1963 einer idealisierten Vergangenheit gegenüber, aus der sie Träume von Reichtum und Wohlergehen speist. Sobald sie das Erwünschte erreicht hat, ist es nichts mehr wert. Die Träume werden bei der Erfüllung nicht weniger, sondern werden immer zahlreicher und größer. Beim Vater ist es das Studentenleben, an das er mit Wehmut zurückdenkt und das er gegen Familie und Arbeitstrott eingetauscht hat. Seine Stellung entspricht nicht dem, was er sich durch seine Ausbildung erhofft hat.

Für die Eltern bedeutete die Geburt ihres Kindes, dass sie heiraten ‚mussten‘. Zugleich war es das Ende ihrer Jugendträume, als sie dieses hässliche Menschenwesen und „dann auch noch ein Mädchen“ bekamen. So verbindet die Eltern des Kindes, das beide eigentlich nicht wollten, die Sehnsucht nach dem Auszug aus der Siedlung der ärmeren Kollegen in das reichere Viertel, der Wunsch nach besseren Möbeln – bei der Mutter Teakholz, beim Vater Eiche – und nach dem größeren Auto, bei der Mutter der Opel Kapitän und beim Vater der Mercedes. Die Erinnerungen an das lockere Studentenleben lässt der Vater durch das Konsumieren von sogenannten „U-Booten“ (Bier in Kombination mit Schnaps) aufleben. Die Elternfiguren stellen in Extremform typische Figuren der Nachkriegsgeneration dar: Ihre Träume sind materialistisch, ihre Art des Umgangs von Gewaltbereitschaft geprägt und ihre Vorstellungen von Gesellschaft zeugen noch von der nazistischen Fremdenfeindlichkeit und der Kultur der Vorgängergeneration.

Ihre Lebensetappen werden in Vanderbekes Roman beschrieben als Flucht, zunächst vom Osten in das Land der Verheißung, das sich jedoch als eine Neubausiedlung der Rotfabrik entpuppt. Anschließend steht der Umzug in eine bessere Wohngegend an, wo das Kind den italienischen Freund Tassilo nicht mehr treffen kann. War der Italiener vorher schon bei den Eltern nicht gern gesehen, so wird es nun unmöglich, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Der gesamte Roman zeigt neben den großen Lebenslügen der Erwachsenen auch die ständigen Lügen, die den Kindern erzählt werden. Es fängt an mit der Katze, die sich das Kind wünscht, die man aber nach Aussage der Mutter nicht in diesem Mietshaus halten dürfe. Dies durchschaut die Siebenjährige schon recht bald. Bei anderen Dingen ist sie sich dagegen nicht so sicher. Stimmt es, dass ein Baum im Bauch wächst, wenn man einen Kirschkern verschluckt? Oder werden von Ami-Kaugummis die Zähne schlecht? Bekommt man von Leitungswasser Würmer? Diese Fragen bleiben für die Siebenjährige offen, aber sie vermutet schon, dass fast alles, was die Erwachsenen erzählen, Lügen sind.

Einige Erwachsene scheinen nämlich durchaus richtige Auskünfte zu geben, wie die drei Nachbarn, die nach Ansicht der Mutter ein anstößiges Leben führen, weil sie eine Ménage-à-trois führen beziehungsweise in einer Wohngemeinschaft zusammenleben; auch die Kinderärztin Isolde Ickstadt, die über die seltsamen Lügen der anderen Erwachsenen lacht, scheint die Wahrheit zu sagen. Diese geradlinigen und weniger kleinkarierten Menschen verhelfen dem Kind, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, zu einem eigenständigen Denken und einem kritischen Blick auf das Verhalten der Erwachsenen. Sie geben ihm auch den Mut, gegen die Falschheit der Welt seine eigenen Wahrheiten zu konstruieren – eigene Geschichten, die das Kind erzählt, verwandeln die Welt. Die Macht der eigenen Stimme erfährt die Protagonistin zuerst, als der starke Harald auf dem Schulhof den schwächeren Tassilo verprügeln möchte. Das Kind fängt an, eine Geschichte über den Lehrer zu erzählen; es erzählt und erzählt und die Welt verändert sich, weil Harald zuhört und Tassilo loslässt. Die erzählende Stimme ist machtvoll und vermag eine neue Welt erschaffen. Die Fantasie ist in der Lage, den Lügen und Bosheiten etwas Anderes entgegenzusetzen.

Das Kinderlied, das im Titel des Romans in einer leichten Variation wiedergegeben wird, stellt zu Beginn eine Lüge der Erwachsenen dar, da sie singen: „Wir freuen uns, dass du geboren bist“. Am Schluss ist es der Freudenruf der durch die Fantasie zu sich selbst gefundenen Protagonistin. Man könnte fast meinen, dieser Schluss sei allzu optimistisch und fast kitschig, wenn nicht das Motto, das dem Buch vorangeht, den Gesamttext in einen größeren Kontext stellte: „Geschichte ist erzählte Verleugnung, Kriegsgeschichte die Zubereitung zum Zwecke der Wiederholung. Das beginnt stets mit Realitätsverkennung.“ Dieses politisch äußerst brisante Zitat des Schriftstellers Gerhard Zwerenz verweist darauf, dass die Geschichte der Kriegsvergangenheit nicht zu Ende ist. Das Projekt, aus dem das Zitat stammt, versucht einen Umgang mit einer verkehrten Welt, der man die eigene Weltsicht entgegenstellt und eine andere Wahrheit zeigt. In „Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte –Sächsische Autobiographie in Fortsetzung“ zeigt Zwerenz Formen der Verfälschung der Wahrheit in 99 Fragmenten auf, wobei es ihm besonders um die verkehrte Darstellung der Nazi-Vergangenheit in den 1950er-Jahren geht. Im elften Kapitel von „Hannah Arendt und die Obersturmbannführer“ findet sich das Zitat, das Vanderbeke ihrem Roman als eine Art Motto voranstellt. Es enthält neben der Kritik an dem Umgang mit der Nazi-Vergangenheit eine Replik gegen einen Lektor des Verlags, in dem das vorliegende Buch publiziert wird. Die Lügen, die man den Kindern auftischt, werden groß und ungeheuerlich, wenn sie zur offiziellen Geschichtsschreibung werden.

Birgit Vanderbeke ist mit „Ich freue mich, dass ich geboren bin“ ein wunderbarer Roman gelungen über Lügen, Realitäten, Träume, Fantasien und die Macht, die die eigene Stimme bekommen kann, wenn sie Geschichten erzählt.

Titelbild

Birgit Vanderbeke: Ich freue mich, dass ich geboren bin. Roman.
Piper Verlag, München 2016.
162 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057547

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