Es war einmal – die Reformation

Zur ersten Folge der Themenschwerpunkte über eine vielstimmige Epoche in der Mai-Ausgabe 2016

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Darüber, dass große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen, herrscht im Blick auf das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 Einigkeit. Darüber, wie die Reformation im 16. Jahrhundert wahrgenommen wurde, zu welchen gesellschaftlichen Umwälzungen sie geführt hat und welchen Impact sie auf das Gepräge der folgenden Jahrhunderte tatsächlich gehabt haben mag, wird hingegen rege diskutiert.

Wie immer in einer Zeit großer Unsicherheiten und Wandlungen war die Ära der Reformation geprägt von gravierenden Veränderungen. Armut, Bauernaufstände, die Türkengefahr, eine geldgierige Kirche und ein alles andere als einiges Deutschland lösten ganz unterschiedliche Entwicklungen aus. Auf der Suche nach denen, die Schuld an den katastrophalen Umständen hatten, kam es zu Pogromen gegen Juden und ein regelrechter Hexenwahn griff um sich. Der Humanismus rief auf, ad fontes zurückzukehren. Männer wie Erasmus, Melanchton und Zwingli forderten eine Neuübersetzung der Bibel. Beim Aufspüren alter Quellen fiel den Gelehrten die Germania des Tacitus in die Hände, die gerade recht kam, um die Idee einer deutschen Nation mit den nötigen Nationaltugenden auszustatten. Zur Finanzierung des Großbauprojektes Petersdom in Rom wurde mit Sündenablässen geworben. Die Kirche machte sich das junge Medium des Buchdrucks zu Nutze und druckte eifrig Ablassbriefe. Doch auch die Reformatoren fanden Gefallen an der schwarzen Kunst und schnell verbreiteten sich Flugschriften und Bücher – in Volkssprache, nicht auf Latein! – in alle Lande. Eine literarische Öffentlichkeit entstand und Papst Leo X. sah sich gezwungen, eine Zensur einzuführen. Für Martin Luther war der Handel mit dem Ablass Anlass, seine 95 Thesen zu formulieren, mit denen er auf die Missstände in der Kirche aufmerksam machen wollte, und er trat damit eine Lawine los, die ganz Europa überrollte. Schnell spalteten sich die Lager: Katholiken, Anglikaner, Lutheraner, Calvinisten, Wiedertäufer und viele weitere Gruppierungen ließen die Situation in Europa immer undurchsichtiger werden. In Mitteldeutschland schlossen sich protestantische Fürsten und Städte zum Schmalkaldischen Bund zusammen. Elisabeth von Rochlitz, einzige Frau in diesem Bund, versorgte die anderen Mitglieder mit geheimen Informationen über die Stärke und Bewegungen der katholischen Truppen. Erst mit dem Westfälischen Frieden 1648 kehrt wieder etwas Ruhe ein.

Wir verdanken der Reformation vieles. Auch die Uni Marburg gäbe es ohne sie nicht, an der die Mittelalter-Redaktion von Literaturkritik.de angesiedelt ist. Der Gründer der ältesten protestantischen Universität Deutschlands, Landgraf Philipp der Großmütige, sah im Übertritt zum Protestantismus aber auch ganz private Vorteile. Er wollte eine zweite Ehe eingehen und hoffte auf Verständnis für seine (angeblich durch eine Triorchie hervorgerufene) erhöhte Libido seitens der Reformatoren. Das hat ja bekanntlich auch funktioniert.

Nächstes Jahr ist es dann 500 Jahre her mit der Reformation. Es war einmal… Selbst beim durch die Brüder Grimm topisch gewordenen Märcheneingang hat die Reformation ihre Spuren hinterlassen, denn ohne sie würden wir bei weitem keinen so großen Märchenschatz besitzen. Handelt es sich doch in erster Linie um Erzählungen, die die Hugenotten bei ihrer Flucht aus Frankreich mit nach Deutschland gebracht haben.

Die Reformation ist vielgestaltig, bietet je nach Fokus ein ganz anderes Bild. Für jeden, der sich mit ihr beschäftigt, bedeutet sie denn auch jeweils etwas ganz anderes. Die  erste Folge unserer Themenschwerpunkte zur Reformation, die in dieser Ausgabe von literaturkritik.de erscheint, bildet diese Vielstimmigkeit ab. Die im Zuge des bevorstehenden Jubiläums schon jetzt in großer Zahl erscheinenden Publikationen, von denen hier eine Auswahl besprochen wird, umreißen ganz unterschiedliche Themenbereiche. Einige Kataloge zu verschiedenen Ausstellungen gehen regionalen und überregionalen Entwicklungen nach. Andere Buchveröffentlichungen beschäftigen sich mit der literarischen Umsetzung der Reformation in der Belletristik, mit Luthers Frau Katharina, mit Luthers Schriften und mit seinem Leben. Nicht zu kurz kommt schließlich auch der Bereich des Essens und Trinkens, der ja immer wieder anekdotisch als ein vom großen Reformator nicht zu vernachlässigender Teil des Lebens herausgestellt wurde.

Eine zweite Folge der Schwerpunkte zur Reformation ist für den November vorgesehen. Mögen die Beiträge schon in dieser Ausgabe dazu inspirieren, sich mit der so vielgestaltigen Zeit vor einem halben Jahrtausend eingehender zu beschäftigen und das eigene Bild der Reformation vielleicht farbenfroher zu gestalten. Eine anregende Lektüre der ganzen Zeitschriftenausgabe, in der die erneuten Erinnerungen an Shakespeare aus Anlass seines Todes vor 400 Jahren an den Schwerpunkt anschließen, wünscht im Namen der Mittelalter-Redaktion

Alissa Theiß