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Die Korrespondenz des Adolph Freiherrn Knigge

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weitgehende Unvertrautheit mit seinem Werk bei gleichzeitiger Sprichwörtlichkeit seines Namens war lange ein Charakteristikum der Rezeptionsgeschichte, die Knigge zuteilwurde. Sie stand ganz im Zeichen seines überaus erfolgreichen Buchs Über den Umgang mit Menschen (1788), das im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts durch flüchtige und verständnislose Lektüre, falls es überhaupt im Original gelesen wurde, in den Ruf eines Benimmbuchs geriet. Dabei sollte es nach Knigges eigenen Worten ein Buch über den „esprit de conduite“ im weitesten Sinne sein, mithin ein Buch zur Propagierung von Weltklugheit, allerdings unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit einer solchen Klugheit mit der Moral.

Als Knigge es veröffentlichte, war er sechsunddreißig Jahre alt, nach heutigem Ermessen nicht unbedingt ein Alter, in dem man genug Lebenserfahrung hat, um als Weisheitslehrer aufzutreten; doch blickte er bereits auf ein umtriebiges Leben zurück: Einem uradeligen hannoverschen Geschlecht entstammend, erbte er zwar Landgüter, die aber wegen gleichfalls geerbter hoher Schulden zwangsverwaltet wurden. Die geringen ihm zugestandenen Einkünfte erlaubten keinen standesgemäßen Lebensstil, und seine jahrelangen Versuche, an deutschen Höfen eine dauerhafte Versorgung zu finden, misslangen. Die Erfolglosigkeit führte er darauf zurück, nicht die „Kunst“ praktiziert zu haben, „sich nach Sitten, Ton und Stimmung andrer zu fügen“. Die Klugheit des sich oft auf eigene Erfahrungen berufenden Verfassers von Über den Umgang mit Menschen ist also die Klugheit eines Menschen, der durch Schaden klug geworden ist.

Leider teilt er kaum konkrete Erfahrungen mit; es überwiegen allgemeine Regeln, die nicht selten geradezu wie Platituden wirken. Auch der Roman meines Lebens. In Briefen herausgegeben (1781/82) enttäuscht denjenigen, der autobiographische Auskünfte erwartet. Die wenigen einschlägigen Informationen, die dort erhältlich sind, werden entstellt und zugedeckt von einer fiktionalen Handlung, die ebenso unwahrscheinlich wie trivial ist. Als Erzähler bleibt Knigge der Trivialliteratur des späten achtzehnten Jahrhunderts verhaftet, eine Zuordnung, die auch für seine anderen Romane gilt, selbst wenn sie höhere Ansprüche stellen wie etwa der Staatsroman Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien (1791). In diesem Roman habe er, so Knigge in einem Brief an den Pädagogen Joachim Heinrich Campe, „der Verkäuflichkeit wegen“ „die ernsthaften Sachen in zu viel Possen und schaalen Witz gehüllt“. Das Geständnis, er schreibe, um Geld zu verdienen, wird in seiner Korrespondenz mehrfach wiederholt, und noch im Nachlass findet sich eine Aufzeichnung mit der Überschrift: „Kniggens aufrichtiges Geständniß seiner Polygraphie“.

Es lässt sich die Meinung vertreten, dass die Briefe Knigges lesenswerter sind als seine fiktionalen Werke, und dem Verlag sei Dank dafür, dass er Knigges Korrespondenz, die bisher zwar nicht völlig ignoriert worden ist, aber keineswegs die verdiente Aufmerksamkeit gefunden hat, neuerdings zugänglich macht, wobei er anscheinend Vollständigkeit anstrebt. Leider ist der Dank einzuschränken: Die Edition des Briefwechsels ist unsystematisch in Angriff genommen worden, was eine Orientierung grundsätzlich erschwert. Statt alle Briefe zusammenhängend zu edieren, wurden Einzelkorrespondenzen herausgelöst:

- Knigges Briefwechsel mit Friedrich Nicolai (2004) (hier Knigges ausführlicher Brief vom 8. März 1788 mit autobiographischen Angaben, u. a. auch zu seiner wirtschaftlichen Situation).

- Knigges Briefwechsel mit dem befreundeten Schauspieldirektor Gustav Friedrich Wilhelm Großmann (2010) (enthält zusätzlich eine Auswahl aus Knigges Theaterschriften).

- Knigges Briefe an seine Tochter Philippine (2013) (Gegenbriefe sind nicht überliefert; dafür bringt der Band Texte Philippines, u. a. eine kurze Biographie ihres Vaters).

An Philippine schrieb Knigge am 15. Juli 1790 einen auch außerhalb der Knigge-Forschung beachteten Brief, in dem er das „Freiheits-Fest“ schildert, das Hamburger Parteigänger der Französischen Revolution am ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille gefeiert hatten, unter ihnen Klopstock, der zwei Revolutionsoden vortrug. Wer von der Revolutionsbegeisterung Knigges und seiner liberalen Freunde einen kultur- und mentalitätsgeschichtlich anschaulichen Eindruck haben will, sei auf diesen Brief verwiesen, der jetzt leider in einem Band abgedruckt ist, der nicht in jeder literaturwissenschaftlichen Bibliothek steht, was eine umständliche Fernleihe nötig macht.

Zu den Hamburger Freunden Knigges gehörte das Ehepaar Reimarus. Die Edition von Knigges Briefwechsel mit ihm ist erst in Vorbereitung, und folglich sucht man die dorthin gehörenden Briefe in dem hier rezensierten Band, der nur Reste versammelt, die vereinzelter Form aus Mangel an Masse kein selbständiges Buch füllen würden, vergeblich.

Vergeblich sucht man auch zwei andere Briefe: In seiner Knigge-Biographie (2007) beruft sich Ingo Hermann auf einen 1775 geschriebenen Bewerbungsbrief Knigges an Friedrich den Großen; das Schreiben sei zwar nicht erhalten, doch liege ein Entwurf dazu vor. Friedrichs Antwort an den „hochgeschätzte[n] Baron von Knigge“ zitiert Hermann nach einem Ausstellungskatalog: Der König müsse als Vater seiner Untertanen diesen den Vorzug geben, das sei der einzige Grund dafür, Knigges Angebot, in preußische Dienste zu treten, dankbar abzulehnen. Warum der vorliegende Band diese Briefe übergeht, wird nicht gesagt. Zwar ist ein Band mit Knigges amtlichen Schriftwechsel vorgesehen und ein weiterer mit seiner „Illuminatenkorrespondenz“, aber der kurze Briefwechsel mit dem preußischen König gehört weder in den einen noch in den anderen. Der amtliche Schriftwechsel soll vermutlich Schriftstücke bringen, die mit Knigges Stellung eines hannoverschen Oberhauptmanns in Bremen zu tun haben, einem Amt, das er in seinen letzten fünf Lebensjahren bekleidete und das ihn wirtschaftlich halbwegs abzusichern vermochte.

Ungeachtet des Plans, die „Illuminatenkorrespondenz“ erst später zu publizieren, ist schon im vorliegenden Band von den Freimaurern und Illuminaten vielfach die Rede. Knigge war bei beiden stark engagiert, und so notwendig es sein mag, zwischen ihnen zu differenzieren, wirken die Unterschiede aus heutiger Sicht unwesentlich. Es geht um Netzwerke mit aufklärerischer Ideologie, und wer den Mut zu ahistorischer Terminologie hat, darf Knigge einen ‚networker‘ nennen. Als solcher war er erfolgreicher denn als Hofmann. Besonders oblag es ihm, Mitglieder zu werben.

Ein gutes Beispiel für sein Werben, in diesem Fall gleichwohl ein erfolgloses, ist ein langer Brief an Johann Caspar Lavater (3. Februar 1783). Knigge steht vor der schwierigen Aufgabe, eine Sache schmackhaft zu machen, über die er wegen der üblichen Geheimnistuerei nichts mitteilen dürfe (und wahrscheinlich auch gar nicht viel mitzuteilen hat). Folgt man seinen Ausführungen, wollen die Illuminaten im Stillen eine „geheime Freymaurerey“ gründen, wobei die Organisation schwer durchschaubar und das Ziel, Tugend und Menschenliebe zu verbreiten, sehr allgemein bleibt. Dagegen klingt Lavaters Antwort (19. Februar 1783) erfrischend: Als „Christ und Psycholog“ halte er nicht viel von „allen solchen weitaussehenden, menschlichen Machenschaften, Reformations Plänen, und künstlichen lichtscheuen Maschienen, das Menschengeschlecht zu verbeßern“.

In der Konstellation zwischen Lavater und Knigge sind die Fronten der argumentativen Gegenspieler nahezu verkehrt: Wegen seiner Physiognomik und seiner Affinität zum Pietismus steht Lavater keineswegs in dem Ruf, ein Anwalt des Common Sense zu sein, doch diesen vertritt er gegenüber Knigge, der oft als hausbacken-nüchterner Vertreter der Spätaufklärung wahrgenommen wird. Gegen dessen phantastisch anmutende sozialutopische Hoffnungen setzt er einen christlichen Diesseits-Pessimismus, hält das Menschengeschlecht ohne Gottes Hilfe für „unreformierbar“ und hat gerade deswegen über den Lauf der Welt keinerlei Illusionen: „Nun ist Anfangs bey jeder Gesellschaft, Gutes der Zweck, nachher die Vermehrung der Mitglieder  ̶  und in diesem Zweck ersäuft sich allemal der erste Zweck und Geist. [ … ] zehen Jahre Erfahrung, und Kunde aller Orden und Gesellschaften  ̶  und Sie werden mir Beyfall geben.“

Das Verhältnis zwischen Lavater und Knigge blieb vorerst höflich, wurde aber schließlich feindselig bis hin zu einer Satire Knigges auf den einst Umworbenen, so dass es zu dem prophezeiten Beifall schwerlich kommen konnte; aber Lavater hätte von einem Meinungswandel Knigges aus Über den Umgang mit Menschen erfahren können: Das Kapitel „Über geheime Verbindungen und den Umgang mit den Mitgliedern derselben“ ist eine vehemente Absage an Geheimverbindungen: „Ich habe mich lange genug mit diesen Dingen beschäftigt, um aus Erfahrungen reden und jeden jungen Mann, dem seine Zeit lieb ist, abraten zu können, sich in irgendeine geheime Gesellschaft, sie möge Namen haben, wie sie wolle, aufnehmen zu lassen. Sie sind alle, freilich nicht in gleichem Grade, aber doch alle ohne Unterschied, zugleich unnütz und gefährlich.“

Der öffentlichen Absage entsprechen briefliche Äußerungen: „Ich meine, die Welt bedarf keiner geheimen Weisheits-Schulen mehr, wenn sie deren je bedurft hat. Die Crisis ist da und mich schrecken nicht mehr die letzten krampfichten Zuckungen der geistlichen und weltlichen Bettrüger.“ (Brief vom 8. September 1793 an den Arzt Joachim Dietrich Brandis) Die „Crisis“, das ist die Französische Revolution, und die Äußerung belegt die politische Relevanz der Geheimbünde in deren Vorfeld und gibt einen Hinweis darauf, dass durch die zunehmende Öffentlichkeit der politischen Auseinandersetzung die Geheimbündelei zusehends als ein gestriges Phänomen eingestuft wurde.

Seine prorevolutionäre Haltung, die er – anders als mancher seiner liberalen Freunde – auch nach der jakobinischen Schreckensherrschaft nicht verwarf, diese vielmehr als Reaktion auf die vorausgegangene Unterdrückung durch das Ancien régime begriff, hat Knigge in den Ruf eines deutschen Jakobiners gebracht, was im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts dazu beitrug, dass sein Werk grosso modo wohlwollend rezipiert wurde. Zu seinen Lebzeiten allerdings konnte dieser Ruf gefährlich werden.

Das bezeugt ein Briefwechsel, zu dem die letzten Briefe des vorliegenden Bandes gehören und den als Kuriosum zu bezeichnen nicht übertrieben ist: Ende Dezember 1795 schrieb ein Angehöriger der Wiener Polizei unter dem Namen des bekannten Dichters und Freimaurers Aloys Blumauer und mit fingierter Absenderadresse einen Brief an Knigge mit der Aufforderung, einen Bund „aller denkenden Köpfe Deutschlands wider die lichtscheuen Verfechter des Aberglaubens und der Despotie mitzubegründen“. Knigge tappte in die Falle und ging auf den Plan ein. Freimütig gab er in seinem Antwortschreiben Auskunft über sich selbst, nannte deutsche Städte und Gegenden, wo er gleichgesinnte Bekannte habe, und verwies auf sein kurz zuvor erschienenes „Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung ächter Freunde der Wahrheit, Rechtschaffenheit und bürgerlichen Ordnung, an ihre Zeitgenossen“.

Zwischen Knigge und dem Pseudo-Blumauer bestand ein – allerdings nicht thematisierter – Dissens, insofern der Spitzel, dem an Ausspähung gelegen war, von Geheimhaltung ausging, während Knigge an so etwas wie abgestimmte publizistische Kampagnen gedacht zu haben scheint. Ob sein Angebot, „den ganzen Plan (geordnet und begleitet von dem Namen-Register der Männer, auf welche ich sicher rechnen kann) vorzulegen“, auf unwillentliche Denunziation hinauslief, muss fraglich bleiben. Er machte dies dann in seinem letzten Brief, den er als schon lange schwerkranker Mann am 16. April 1796 mit „großer Mühe“ zustande brachte; drei Wochen später starb er.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Adolph von Knigge: Briefwechsel mit Zeitgenossen. 1765-1796.
Herausgegeben von Günter Jung und Michael Rüppel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
535 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835316393

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