Neues aus Absurdistan

In „Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot“ präsentiert Marion Brasch ein Kuriositätenkabinett

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer ist eigentlich dieser Godot? Seit 1953, dem Jahr der Uraufführung von Samuel Becketts berühmtem Drama Warten auf Godot, stellen sich Theaterfreunde auf der ganzen Welt diese Frage. Die Erklärungsansätze sind entsprechend unterschiedlich: Während einige vermuten, es handle sich bei Godot um einen Gott, der die Heilserwartung seiner Gläubigen enttäuscht, vertreten andere die Überzeugung, Godot sei ein Schleuser der Résistance, der unterdrückten Juden bei der Flucht aus dem besetzten Frankreich hilft. Und dann gibt es noch die Interpreten, die den französischen Radrennfahrer Roger Godeau für den Namensvetter des Unbekannten halten. Doch nichts Genaues weiß man nicht – und selbst Wladimir und Estragon, Becketts Protagonisten, scheinen sich unsicher über die Identität ihres Kontaktmanns zu sein.

Vielleicht hätten sie Marion Brasch fragen sollen. Die Berliner Autorin hat nämlich ihre ganz eigene Antwort auf die Frage „Wer ist eigentlich dieser Godot?“ Diese stellt sie in ihrem aktuellen Roman der Öffentlichkeit vor. Ihre These wirkt zunächst unspektakulär: Auf den ersten Seiten von Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot führt sie ihren Titelhelden als „Typ mit hängenden Schultern“ ein, der einen „zerschlissenen Anzug“ und einen „verbeulten Hut“ trägt. „Er sieht nicht aus wie ein Wichtigtuer, eher wie einer, der auch nicht so recht weiß.“ Braschs Erklärung für Godots Nichtauftauchen klingt ebenfalls eher simpel: „Wahrscheinlich hat er sich verlaufen auf dem Weg zu den beiden, die auf ihn warten. Er war mit den Gedanken woanders und hat nicht aufgepasst an dieser einen Weggabelung.“

Schon die wenigen zitierten Zeilen verdeutlichen, dass es Brasch nicht um eine literaturanalytische Annäherung an Becketts rätselhaftes Theaterstück geht. Vielmehr versucht sie, die surreale Ästhetik des Originals in die Gattung „Roman“ zu übertragen. Dazu reiht sie eine Vielzahl skurriler Episoden aneinander, in denen Godot auf tierische und menschliche Zeitgenossen trifft. So begegnet er etwa einem Lackaffen, einem suizidalen Kaufhausweihnachtsmann und Jesus. Ein roter Faden lässt sich zwischen den Kapiteln nur mühsam finden; lediglich der blasse Protagonist verbindet die einzelnen Miniaturen. Brasch hält sich nicht mit Szenenbeschreibungen oder Charakterentwicklung auf, sondern hastet von Einfall zu Einfall. Sie eröffnet ein Panoptikum des Irrwitzes und führt ihre Leser durch das Kuriositätenkabinett ihrer Kreativität.

Die Übertragung des absurden Theaters in die Prosa gelingt jedoch nur zum Teil. Zwar erreicht der Roman ein ähnliches Absurditätsniveau wie das Vorbild, doch wo Becketts Aberwitz auf irritierende Weise um die Realität herumschleicht, schweben Braschs Ideen im luftleeren Raum. Sie erklären nichts, entlarven nichts, interpretieren nichts. Sie stehen einfach so da und bringen den Leser gelegentlich zum Lachen. Vielleicht setzt Brasch damit die Idee des absurden Erzählens besonders konsequent um – vielleicht kapituliert sie aber auch nur vor der vermeintlichen Sinnlosigkeit der Realität.

Auch auf der stilistischen Ebene kann der Roman nicht auf ganzer Linie überzeugen: Der Text mäandert zwischen gelungenem Sprachwitz und kalauernder Albernheit, wobei letztere die Überhand behält. Da regnen die sprichwörtlichen Hunde und Katzen tatsächlich vom Himmel, während ein Gabelstapler Gabeln stapelt. Doch so vorhersehbar manche Pointen auch sind, so großartig ist das Buch in seinen gelungenen Momenten. Die Geschichte von den zwei telepathischen Chinesen etwa, in der Brasch von der schicksalshaften Verbindung zweier Brüder berichtet, gehört eindeutig zu den Highlights. Auch mit aphoristischen Lebensweisheiten kann die Autorin aufwarten, wie etwa ihre Definition des Lebens als „Aneinanderreihung verpasster Gelegenheiten“ beweist. Andere Absätze sind von solch schrulliger Schönheit, dass sie für den ein oder anderen Schenkelklopfer entschädigen: „Unterwegs wurde er von einer Mücke gestochen, nahm daraufhin zwei Kopfschmerztabletten und drei Bäder, von denen er das vierte wegschmiss, weil es nicht mehr gut war. Fünfmal schaute er auf die Uhr, um beim sechsten Mal festzustellen, dass er gar keine Uhr besaß.“

Den Text begleiten Zeichnungen aus der Feder Matthias Friedrich Mueckes. Dem Berliner Künstler gelingt es, Braschs Worte nicht nur zu bebildern, sondern um eigene Ideen zu erweitern. Seine Werke sind detailliert und kreativ, mal humorvoll und mal abgründig. Insgesamt wirken sie wie der surreale Alptraumausschuss eines depressiven Kinderbuchillustrators – was ein Kompliment ist.

Insgesamt sperrt sich Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot gegen eine simple Einteilung in „gut“ oder „schlecht“; es ist qualitativ zu divers für ein Gütesiegel oder einen Verriss. Hin und wieder brilliert Brasch mit ihrem Einfallsreichtum und ihrem absurden Witz; mit Beckett als großem Vorbild hat sie sich aber keinen Gefallen getan. Denn wenn Brasch mal wieder in belanglose Albernheiten verfällt, wünscht man sich das Original herbei. Apropos: Samuel Beckett hatte, wie die Literaturwissenschaftler C. J. Ackerley und S. E. Gontarski berichten, seine ganz eigene Meinung zur Identität Godots: „If I knew I wouldn’t have written the play.“

Titelbild

Marion Brasch: Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot.
Mit Illustrationen von Matthias Friedrich Muecke.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2016.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783863911355

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