Ein Leben als Lästerzunge

In „Kronos. Intimes Tagebuch“ besticht Witold Gombrowicz mit Fakten, Fakten, Fakten

Von Matthias HennigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Hennig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Witold Gombrowicz (1904 –1969), einer der einflussreichsten polnischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, ist außerhalb der literarischen Biosphäre ein unbekannter Autor im deutschsprachigen Raum. Sein erster Verleger in Deutschland (Neske) hat nur wenige seiner Bücher verkauft – kaum mehr dürften es beim aktuellen sein (Hanser). Gombrowicz ist kein Mann für laues Palaver und einschläfernd dahinplätschernde Prosa, vielmehr kreist sein Schreiben bewusst um die gewollte Brechung sozialer Konventionen, die Beunruhigung, das (psychologische) Skandalon: „Ich will die Kunst zum Treten bringen – rums! […], damit der Künstler sich als Tretender fühlt“, notiert er 1960 nonchalant im Tagebuch. Trotz derlei  rhetorischen Rowdytums war der dem polnischen Landadel entstammende Gombrowicz weniger ein auf der Straße streunender poète maudit als ein bis ins hohe Alter überaus gepflegter Beau, dessen Ästhetentum sich fortsetzt in der kühlen Eleganz seiner Frau Rita und in der treuäugigen Noblesse seiner Hunde. Seine Intelligenz und sein Stil sind von katzenhafter Geschmeidigkeit, irrlichternd bis in feinste psychologische Windungen und Wendungen. Wo Gombrowicz ganz Gombrowicz ist, sind die Wörter Herren ihres eigenen energetisch aufgeladenen Diskurses, da schäumen und sprudeln seine Assoziationen, schieben sich delirante Worthaufen über das Papier, halb im Stammeln ergriffen, halb in ihrer Suada verloren, deformieren Wahrnehmungsirritationen dalíhaft das Geschriebene, blitzhaft zerstoben zwischen Impuls und Form. Jenseits des harten Kerns der historischen Avantgarden gibt es wenige Schriftsteller, die derart viele Tempowechsel und Brechungen zum Kern ihres Schreibens gemacht haben. 

Gombrowicz ist vor allem als Autor von Erzählungen (Bacacay), Romanen (Ferdydurke; Die Besessenen; Pornographie), Theaterstücken (Yvonne, die Burgunderprinzessin) und Essays hervorgetreten; daneben hat er auch ein Tagebuch verfasst, das fortlaufend in der polnischen Exil-Zeitschrift „Kultura“ in Paris veröffentlicht wurde, ehe es später in Buchform erschien. Ein zweites, bis dato unbekanntes Tagebuch hat Gombrowiczs Witwe postum 2013 im Krakauer Verlag Wydawnictwo Literackie herausgegeben, welches nun greifbar in der Übersetzung von Olaf Kühl bei Hanser ist. Wo das Tagebuch einen schmackhaft und opulent gedeckten Tisch präsentiert, wird der Leser in Kronos, seinem literarischen Bruder, mit abgenagten Knochen abgespeist. Hier werden Lebensgeschehnisse nicht mit Anekdoten gewürzt, saftigen Polemiken übergossen oder Überlegungen zu anregenden Kurzessays aufbereitet, vielmehr in bloßen Stichworten als extrem verknappte Erinnerungsstützen festgehalten. Kronos ist angelegt als Memorandum von Gombrowiczs literarischen, finanziellen, sexuellen sowie persönlichen Angelegenheiten und Affären, das akribisch Monat für Monat und Jahr für Jahr das materielle Substrat des eigenen Lebens vermisst. So resümiert der 56-jährige das Jahr 1960 folgendermaßen: „In gesundheitlicher Hinsicht kein schlechtes Jahr. Literatur: Überraschung mit Porno, die deutsche Ferdy (nicht so toll?). Starkes Wachstum des Prestiges. Ich beginne ein neues Werk. Ero – nicht schlecht. Finanzen – Wachstum.“  

Dieser hier festgehaltene literarische und finanzielle Erfolg erreicht den Autor spät. Entscheidend bessert sich die durch das Exil erzwungene prekäre finanzielle Situation erst Ende der 1950er-Jahre, als Gombrowicz seinen Posten bei der Banco Polaco in Buenos Aires aufgibt und zahlreiche Ausgaben der Romane, Theaterstücke und des Tagebuchs im Nachkriegseuropa erscheinen. Neben Mitteilungen von Krankheiten, Arztbesuchen, Therapien und Medikamenten enthält Kronos viele, teils wertvolle Informationen zu Verlags- und Finanzangelegenheiten, teils skurrile zu Bekanntschaften und Sexualpartnern, wie aus der Zeit des Berlin-Aufenthalts 1963/64: „Habe einen schrecklichen Anfall von Päderastie bekommen, mache nichts anderes, nur das mit vier kleinen Deutschen gleichzeitig, Gott bewahre, in meinem Alter“. Akribisch notiert der passionierte Schachspieler und Asthmatiker auch, welche Popelinanzüge, Hemden und Füller er sich zulegt. Zudem finden sich wie in einem Arbeitstagebuch kurze Notizen zu Plänen und Werkfortschritten.

Der Band ist sorgsam mit Fotos, Faksimiles, Kartenmaterial, mit einem Vor- und Nachwort aufbereitet sowie gespickt mit den schwarzen Fähnchen hunderter Fußnoten, die der deutsche Übersetzer und Herausgeber Olaf Kühl, die polnischen Herausgeber sowie die Witwe Rita Gombrowicz in umfangreichen Parallelaktionen zusammengetragen haben. Ohne diese Fähnchen wären Gombrowiczs Notate in vielen Fällen kaum verständlich. Sie machen aus dem Tagebuchtext eine weitläufig markierte Kartenlandschaft mit Anmerkungsquisquilien, die unermüdlich hinter jedem noch so unbekannten Namen oder Begriff am unteren Seitenrand auftauchen. Wer Gombrowiczs Tagebuch noch nicht zur Hand genommen hat, sollte dies schleunigst nachholen. Nimmersatte Gombrowicz-Nerds finden darüber hinaus in Kronos auch noch Nützliches im leserisch Ungenießbaren.

Titelbild

Witold Gombrowicz: Kronos. Intimes Tagebuch.
Übersetzt aus dem Polnischen und mit einem Nachwort versehen von Olaf Kühl.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
358 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783446249035

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