Nähe und Eigensinn

Wolfgang Schopf hat die Briefe von Peter Suhrkamp und Annemarie Seidel aus den Jahren von 1935 bis 1959 herausgegeben

Von Friedrich VoitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Voit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt den Namen Suhrkamp, doch wusste man über Leben und Persönlichkeit Peter Suhrkamps, nach dem der renommierte Verlag benannt ist, bislang noch eher wenig und auch dies nicht ohne legendenhafte Züge. Hier schließt nun die seit langem angekündigte Briefedition eine wesentliche Lücke und liefert zugleich einen wichtigen Beitrag zur deutschen Verlagsgeschichte im sogenannten ‚Dritten Reich‘ und der Nachkriegsjahre. Der Band umfasst die Briefe des Verlegers Peter Suhrkamp an Annemarie Seidel, mit der er seit 1935 verheiratet war, bereichert um die erst vor einigen Jahren aufgefunden Briefe ‚Mirls‘, wie Annemarie Seidel in der Familie und von Freunden genannt wurde, die sie ihrem Mann in Nazi-Gefängnisse sandte, wo er von April 1944 bis Februar 1945 inhaftiert war.

Peter Suhrkamp (1891–1959), ein Bauernsohn aus einem kleinen Oldenburgischen Dorf, ließ sich zum Volksschullehrer ausbilden, nahm hochdekoriert am ersten Weltkrieg teil, studierte danach Germanistik, unterrichtete an der Odenwaldschule und der Reformschule in Wickersdorf, wirkte am Theater in Darmstadt und kehrte nochmals nach Wickersdorf zurück, ehe er seine Lehrertätigkeit aufgab und 1929 als Redakteur und Journalist nach Berlin ging. Seit 1932 redigierte er als Herausgeber die Neue Rundschau im S. Fischer Verlag, wo man ihn 1933 in den Vorstand berief. Seine spätere Frau lernte Suhrkamp bereits 1920 im Münchner Schriftstellerzirkel um Hanns Johst und Bertolt Brecht kennen, doch verlor man sich wieder aus den Augen. Annemarie Seidel (1897–1959), die Schwester der Schriftsteller Ina und Willy Seidel, war während der frühen Weimarer Jahre in München und Berlin eine bekannte und vielgeliebte Schauspielerin. Ihre Karriere endete, als sie, damals lebte sie mit Carl Zuckmayer zusammen, 1922 schwer erkrankte und einer ihrer Verehrer, der wohlhabende holländische Musikwissenschaftler Anthony van Hoboken helfend einsprang. Beide heirateten noch im gleichen Jahr und als sie sich nach zehnjähriger Ehe trennten, wurde Annemarie Seidel großzügig, ihre finanzielle Unabhängigkeit gewährend, abgefunden. So blieb ihr auch das Ferienhaus in Kampen auf der Insel Sylt, wohin sie sich – später dann auch mit Peter Suhrkamp – immer wieder zurückzog.

Als sich Suhrkamp und Annemarie Seidel 1935 in Berlin wiederbegegneten, entstand rasch eine intensive Liebesbeziehung, die nach wenigen Monaten zur Heirat führte, bei der Oskar Loerke als Trauzeuge fungierte. Es war Suhrkamps vierte und Seidels zweite Eheschließung. Suhrkamp schrieb seine oft ausführlichen Briefe an seine Frau, wenn diese sich in Kampen aufhielt, reiste oder ihrer immer prekären Gesundheit halber in einer Kur weilte. Ausführlich schreibt er über sein Denken und Fühlen sowie seine Arbeit im Verlag, oft verbunden mit Schilderungen von Natureindrücken, weiten wie nahen Aussichten (Wolken, Licht, Gewitter, blühende Bäume) von seinem hochgelegenen Balkon, der die Wohnung in der Dernburgstraße im Berliner Westend umringte. In seinen Briefen gibt Suhrkamp „eine briefliche Autobiographie“, wie der Herausgeber zurecht bemerkt, von einer Offenheit, wie sie keine seine späteren autobiografisch getönten Betrachtungen und Erzählungen gewährt. Darüber hinaus vermitteln die Briefe einen einzigartigen Einblick in Suhrkamps verlegerisches Tun und Denken, das er immer wieder reflektiert. In ihnen – bereichert durch den fundiert recherchierten Kommentar – kann man die aufgenötigte Aufspaltung des S. Fischer Verlages 1936 verfolgen, den die beiden Verleger Berman-Fischer, der Schwiegersohn des 1934 verstorbenen Verlagsgründers, und Suhrkamp gemeinsam bewerkstelligten. Mithilfe von hinzugewonnenen Kommanditisten übernahm Suhrkamp verantwortlich den Verlag; seine eigene Einlage stellte ihm seine Frau zur Verfügung. Den Namen des Verlages behielt er bei, solange es möglich war, bevor er 1942 gezwungenermaßen seinen Namen voranstellte und schließlich auch den beibehaltenen Zusatz „vorm. S. Fischer“ streichen musste. Annemarie Seidel wurde durchaus in die Verlagsarbeit miteinbezogen, sie lektorierte gelegentlich und engagierte sich im Verlag selbst, nachdem Suhrkamp im April 1944 aufgrund einer Denunziation verhaftet wurde. Außerdem übersetzte sie für den Verlag, etwa 1950 Richard Hughes Roman Sturmwind auf Jamaica und 1952 zusammen mit Friedrich Podszus Truman Capotes Die Grasharfe.

Aus den Briefen erfährt man, in welchem Maße Suhrkamp als Verleger zugleich auch Schriftsteller war. Regelmäßig veröffentlichte Beiträge in der Neuen Rundschau, meist Essays zur Literatur, aber auch betrachtende Prosa, unter der die zwischen 1942 und 1943 publizierte Folge Der Zuschauer und Das Tagebuch des Zuschauers als Dokumente zur Zeit und zur Persönlichkeit Suhrkamps herausragen. Seinen großen Aufsatz über Johann Wolfgang von  Goethes Wahlverwandschaften, der erst nach dem Krieg im ersten Band seiner Ausgewählten Schriften zur Zeit und Geistesgeschichte erschien, schrieb er im Gefängnis. Es war seine Art, mit der kafkaesken Situation seiner Verhaftung umzugehen: Als Schutzhäftling in Gefängnis Ravensbrück wusste Suhrkamp zunächst lange Zeit nicht, wessen man ihn beschuldigte, ob und wann man Anklage gegen ihn erheben würde. Seine Frau schrieb und besuchte ihn, so oft es ihr erlaubt war, und wandte sich schließlich direkt an gemeinsame Bekannte wie Hanns Johst und Arno Breker, um eine Erleichterung oder Befreiung zu erwirken. Als der Volksgerichtshof eine Anklage mangels ausreichender Beweise zurückwies, wurde Suhrkamp jedoch nicht freigelassen, sondern blieb in verschiedenen Gestapo-Gefängnissen inhaftiert, wohl in der Absicht auf diese Weise den Verlag zur Aufgabe zu zwingen. Anfang Februar 1945 entließ man ihn schwerstkrank aus dem KZ Sachsenhausen. Nur langsam und nie mehr vollständig erholte er sich von den dort erlittenen physischen Schädigungen.

Aus den Jahren 1945 bis März 1948 haben sich keine aneinander gerichteten Briefe erhalten. In diese Zeit fallen die Wiederaufnahme des Kontaktes mit Berman-Fischer und die am Ende scheiternden Bemühungen, dessen Exil-Verlag und den in Deutschland verbliebenen Verlag wieder zu vereinen. Warum dieses Vorhaben nicht gelang, darüber bestehen bis heute unterschiedliche Ansichten, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Über das Leben der Suhrkamps unmittelbar nach dem Krieg, in dem sie zweimal ausgebombt worden waren, kann man jedoch einiges aus dem 2003 von Gunther Nickel veröffentlichten Briefwechsel von Annemarie Seidel mit dem alten gemeinsamen Freund Carl Zuckmayer erfahren, der im amerikanischen Exil lebte. Dieser Briefwechsel stellt zugleich eine wichtige Ergänzung zum vorliegenden Band dar, indem er das Verständnis der Persönlichkeit von Annemarie Seidel um wesentliche Facetten bereichert, auch während der Zeit der Ehe mit Suhrkamp.

Als 1950 die Berliner Niederlassung geschlossen wurde und der Verlag nach Frankfurt umzog, überraschte Suhrkamp seine Frau mit einer „Selbstinventur“ und schlug eine Scheidung vor; zu viel hätten sie sich „gegenseitig in unserem Eigensinn angetan“, auch wollte er „einen kleinen Rest meines Lebens […] noch für [s]ich behalten“ . Zur Scheidung kam es jedoch nicht mehr, Annemarie Seidels Gesundheit verzögerte die bereits eingeleiteten Schritte immer wieder. Man lebte aber getrennt: Suhrkamp meist als möblierter Herr in Königstein, nahe Frankfurt – Annemarie Seidel verließ die Frankfurter Wohnung und zog 1954 nach München. Suhrkamp starb 68-jährig am 31. März 1959, wenige Tage vor dem anberaumten Scheidungstermin – Annemarie Seidel nur wenige Monate später am 30. August 1959. In Suhrkamps nach der Trennung an Mirl geschriebenen Briefen bleibt aber spürbar, dass sich beide bis zuletzt die innere Nähe und Sorge füreinander bewahrten.

Das Nachwort des Herausgebers Wolfgang Schopf fällt etwas knapp aus. Für beide Briefeschreiber wäre ein etwas eingehenderer biografischer Hintergrund wünschenswert gewesen. Das gilt besonders für Annemarie Seidel. Manches hierzu findet sich an verschiedenen Stellen in der reichen und fundierten Kommentierung der Briefe, doch ergibt sich daraus kein zusammenhängendes Bild. Merkwürdig und nicht wirklich zutreffend scheint mir die Charakterisierung von Suhrkamps Verlagstätigkeit und Alltag als „Spagat zwischen Integrität und Verrat“ zu sein. „Integrität“ ja, aber „Verrat“ an was, an wem? Suhrkamp gewährte den Brechts wie den Zuckmayers Unterschlupf, als sie aus Deutschland ins Exil flohen, und als Ida Dehmel ihn um Hilfe bat, erreichte er, dass sie keinen gelben Stern auf ihrer Kleidung tragen musste. Nichts in den Briefen oder anderen bekannten Dokumenten zeigt, dass Suhrkamp seine persönliche Integrität je kompromittierte. Auch ist es nicht erkenntnisfördernd, Suhrkamp in die Nähe „der bürgerlich-konservativen Opposition“ zu rücken. Das verengt die Komplexität seiner Persönlichkeit und Haltung, wie sie in seinen Briefen und Essays erkennbar wird. Mit Annemarie Seidel und Peter Suhrkamp fanden in schwieriger Zeit zwei bemerkenswerte, in ihrem Charakter ebenso ungewöhnliche wie in sich eigenständige, dabei in Temperament und Wesensart sehr unterschiedliche Menschen zueinander, und eben dies brachte sie auch auseinander.

Titelbild

Peter Suhrkamp / Annemarie Seidel: „Nun leb wohl! Und hab`s gut!“. Briefe 1935-1959.
Herausgegeben von Wolfgang Schopf.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
847 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420713

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