Allahs zweiköpfige Armee

An einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1915 zeigt Nicholas Shakespeare in „Broken Hill“, wie aus Ausgrenzung religiöser Fundamentalismus entstehen kann

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man schreibt seit ein paar Stunden das Jahr 1915. In der australischen Kleinstadt Broken Hill soll der Neujahrstag traditionell mit einem festlichen Picknick der Bewohner gefeiert werden. In 40 penibel gereinigten Erzwagen der Grubenbahn fährt man hinaus, um für einige wenige Stunden der Tristesse des Alltags zu entkommen. Wettläufe sind geplant, Musik wird erklingen, Essen und Trinken die Menschen vereinen.

Broken Hill ist eine Bergarbeiterstadt im Niedergang. Durch den Weltkrieg sind die Absatzmärkte im fernen Europa weggebrochen, Arbeitslosigkeit grassiert und zwingt die jungen Männer dazu, sich freiwillig als Soldaten zu melden. Wer noch da ist und sich die Frage nach den Ursachen seiner sich beständig verschlechternden Situation stellt, findet schnell eine einfache Antwort. In einem Randbezirk der Stadt liegt das „North Camel Camp“, wo sich 30 hauptsächlich afghanische Familien niedergelassen haben. Und deren Geschäftigkeit, davon sind viele überzeugt, habe das Städtchen und seine einheimischen Bewohner nach und nach in den Ruin getrieben: „Die afghanische Konkurrenz habe nicht nur die Holzhändler, die Fuhrleute und andere aus traditionell weißen Jobs verdrängt, auch die weißen Frauen seien in Gefahr“.

Nicholas Shakespeare lehnt sich in „Broken Hill“ an eine wahre Begebenheit an und hat diese mithilfe literarischer Mittel zu einer Parabel auf Fremdenfeindlichkeit und einer sich daraus ergebenden Radikalisierung der Ausgegrenzten geformt. Dass es sich bei diesen um Muslime handelt, macht die besondere Aktualität der Geschichte aus. Das Buch trägt keine Genrebezeichnung, besitzt aber deutliche Züge einer Novelle: Die Gegenwartshandlung spielt an einem einzigen Vormittag, im Mittelpunkt stehen zwei Haupt- und ein gutes Dutzend Nebenfiguren, der Ort des Geschehens wird nur in den Gedanken der beteiligten Personen für Augenblicke des Erinnerns oder Sich-Wegsehnens verlassen. Auktoriales und personales Erzählen wechseln einander ab. Und wer – als Genre-Traditionalist – Ausschau hält nach einem Novellensymbol, kann das in einem Taschentuch der weiblichen Heldin, Rosalind Filwell, sehen, das sie Gül Mehmet, einem der beiden aus Frust Amok laufenden Muslime, ein paar Tage zuvor um seine verletzte Hand gebunden hat.

Gül Mehmet, der auf den Straßen des Städtchens Eis anbietet, und Molla Abdullah, ein ritueller Schlachter, der von den herrschenden Vorschriften, über deren Einhaltung der Gesundheitsinspektor Clarence Dowter mit Argusaugen wacht, an der Ausübung seines Berufs gehindert wird, sind die beiden radikalisierten Muslime, die am ersten Tag des Jahres 1915 als „Allahs zweiköpfige Armee“ losziehen. Sie wollen sich an den christlichen Bürgern von Broken Hill für all die Ablehnung und Diskriminierung rächen, denen sie jahrelang ausgesetzt waren, ohne sich wehren zu können.

Entgegen kommt den beiden, dass anderthalb Monate vorher, am 15. November 1914, der türkische Sultan Mohammed V. vor einer Abordnung der großen Versammlung in Konstantinopel den Heiligen Krieg gegen die Großmächte England, Russland und Frankreich und alle mit diesen verbündeten Länder erklärt hat. Gül Mehmet und Molla Abdullah fühlen sich durch den Aufruf, die „Todfeinde des Islam“ zu bekämpfen, wo auch immer sich diese auf dem Globus befinden, legitimiert, in Broken Hill einen weiteren Kriegsschauplatz zu eröffnen: „Kurz vor fünf Uhr früh kletterte Allahs zweiköpfige Armee auf Güls Eiswagen und fuhr […] entlang der Eisenbahnlinie in Richtung Silverton, um Australien den Krieg zu erklären.“

Eine der Ersten, die von den Kugeln der aus einem Hinterhalt auf den vorbeifahrenden Zug mit festlich gestimmten Einwohnern Broken Hills schießenden Afghanen getroffen wird, ist Rosalind Filwell. Gerade sie, die kurz vor ihrer Verlobung mit dem Neffen des Gesundheitsinspektors, Oliver Goodmore, steht und einer Zukunft entgegenfiebert, die sie heraus aus der für sie zu engen Kleinstadt führt, hat sich in den letzten Tagen des alten Jahres auf für sie kaum erklärliche Weise von dem Eisverkäufer Gül Mehmet angezogen gefühlt: „seine Gegenwart machte den Ort weniger einsam.“ Und auch für Gül verwandeln die Begegnungen mit der 22-Jährigen die Bitterkeit und den Hass der Welt in etwas Hoffnungsvolles: „für einen Moment schwanden der Schrecken darüber, was man ihm angetan hatte, genauso wie die Furcht und das ständige Gefühl der Einsamkeit, die ihn unter den Ungläubigen beschlichen.“

Wie der Krieg der beiden Muslime gegen einen ganzen Kontinent ausgeht, kann man sich denken. Natürlich haben zwei von ihren Lebensumständen in die Radikalität abgedrängte Außenseiter auf Dauer nicht den Hauch einer Chance. Einen ironischen Schlussakzent jedoch setzt Nicholas Shakespeare, wenn er im letzten Kapitel aus einem kurze Zeit nach dem Massaker, dem 40 Menschen zum Opfer fielen, in der „Leipziger Volkszeitung“ erschienenen Artikel zitiert. Darin firmieren Gül Mehmet und Molla Abdullah als „unsere Truppen“, die einen mit australischen Soldaten besetzten Zug unter Feuer genommen hätten, der unterwegs zur Front gewesen sei. Die Geschichte – in der Version, die mehrere tausend Meilen weit weg von dem Schauplatz, auf dem sie sich ereignete, dem deutschen Leser als Triumph von Verbündeten vermittelt wird – endet: „Auf unserer Seite fielen zwei Türken. Die Eroberung von Broken Hill öffnet den Weg nach Canberra, der stark befestigten Hauptstadt Australiens.“

Was von dem tragisch verlaufenden Neujahrstag des Jahres 1915 in der kleinen, vergessenen Stadt tief im Hinterland des australischen Kontinents bleibt, ist nichts, was in die Chroniken der Zeit dauerhaft Eingang gefunden hätte. Zu unbedeutend, zu weit weg von den Hauptschauplätzen der Weltgeschichte vollzog sich das Aufbegehren zweier Männer gegen ihre Ausgrenzung durch eine Gesellschaft, die sich ihnen überlegen fühlte und aus diesem Gefühl heraus unüberwindbare Barrieren errichtete, statt den Fremden bei ihrem Ankommen behilflich zu sein. Und so, wie schon die Augenzeugen der Katastrophe das Geschehen immer wieder anders weitererzählten, entdeckt auch Nicholas Shakespeare mit der Erfahrung unserer Gegenwart eine neue Seite an dieser 100 Jahre alten Geschichte. Eine Seite, die das Ereignis in ein höchst aktuelles Licht rückt und das Büchlein zu einem wichtigen Beitrag eines der besten englischsprachigen Autoren unserer Zeit zu den aktuellen Diskussionen auf dem europäischen Kontinent macht.

Titelbild

Nicholas Shakespeare: Broken Hill.
Übersetzt aus dem Englischen von Georg Deggerich.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2016.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405446

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