Das Wunder der Literatur

Jean-Philippe Toussaint nähert sich dem Phänomen Fußball

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sport und Kultur, Sport und die Künste – das ist keine einfache Paarung. Oftmals wird der Sport, sieht man einmal von Schach oder Dressurreiten ab, als tendenziell rau, derb, laut und brutal wahrgenommen; die pure Körperlichkeit, zumal im Mannschaftssport, lässt diese Assoziationen auch schnell zu. Und so, wie es diese Zuschreibungen bezüglich der Sportarten gibt, gibt es diese auch für die Anhänger der jeweiligen Disziplinen. Da in vielen Ländern (hier besser: Nationen) Fußball die unangefochten populärste Sportart ist, die Stadien voll sind, die Vereine viele Mitglieder haben und der medialen Berichterstattung nahezu nicht mehr zu entkommen ist, verwundert es auch nicht so sehr, dass es über den Fußball recht viele Publikationen gibt. Dass es allerdings literarische Herangehensweisen gibt, kluge, reflektierende und abstrahierende, weit über das Grün des Rasens und das Regelwerk des Spiels hinaus gehende Bücher, ist bei einem Sport, der immer wieder von Gewalt und politischen Auswüchsen begleitet wird, dann doch verwunderlich.

2015 ist Imran Ayata mit seinem Roman „Ruhm und Ruin“ ein solch seltener Fall gelungen. In vielen Facetten rund um einen türkischen Kiezclub in einer deutschen Metropole beschreibt der Autor Typen, Gefühle, Business, Fantum und Kungeleien prägnant und originell. Ebenfalls im Jahr 2015 erschienen und nun in deutscher Übersetzung erhältlich ist das Buch „Fussball“ des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, der damit fast eine fragmentarische Autobiografie vorlegt. Es ist entlang eigener, mit dem Fußball verbundener Erlebnisse geschrieben und verknüpft mit Orten, an denen große Turniere stattfanden. Auf 122 großzügig gesetzten Seiten erfährt der Leser viel vom jungen Jean-Philippe, der in Brüssel aufgewachsen, bald mit der Familie nach Paris umgezogen ist und der sich einmal böse beim Kicken am Arm verletzt hat. Der Autor des großartigen „Marie“-Zyklus, der gar nicht genug gelobt werden kann und mit dem er sich in die erste Riege der wichtigsten zeitgenössischen europäischen Autoren geschrieben hat, beschreibt in literarischen Miniaturen, die quasi auf eine Sammelkarte passen würden, unter anderem „Die Trikots“, den „Pokal“, die „Fußballstadien“, aber auch das „Entzücken“, die „Jahreszeiten“ oder den „Künstler“ (eine originelle Episode, in der er amüsiert von seinen Erlebnissen mit den Vorschriften berichtet, die notwendig sind bei der Einreise nach China).

Im Anschluss daran macht das von Joachim Unseld wie immer souverän und wunderbar lesbar übersetzte Buch eine kleine Atempause, um sich dann in fünf Kapiteln scheinbar den Weltmeisterschaften von 1998 bis 2014 zu widmen. Ja, es geht dabei auch immer wieder um einzelne Spiele und um Erlebnisse im Stadion, beispielsweise wenn Toussaint in Saitama im Jahr 2002 beim 1:0 der belgischen Mannschaft auf einmal mit einem – ihm natürlich gänzlich fremden – Belgier in einen spontanen Jubelchor ausbricht. Die Beschreibungen von Atmosphären, der Vergleich mit anderen Mentalitäten (auch im Stadion), nächtliche Straßenszenen oder unverständliche Misserfolge bei der Online-Ticketbestellung, das alles geschrieben in einer flüssigen, immer auch sehr unterhaltenden Weise, vermittelt dem Leser einen guten Eindruck davon, wie es diesem Mann in seinen vielen Jahren als Fußballfan, als leidenschaftlicher Beobachter (mit Fernglas und „Belgium“-Kappe) ging. Großartig, wenn er eine Szene in einer Kneipe oder Bar, in der ein Spiel am Bildschirm verfolgt wird, beschreibt und dabei die auf dem Feld agierenden Sportler mit den verwischten Figuren Francis Bacons vergleicht. Das hat nichts Angeberisches, sondern zeigt lediglich die Assoziationsvielfalt des Intellektuellen, der tief in beiden Welten, der der Kunst und der des Fußballs, ruht (hier sei auf sein kurzes Vorwort hingewiesen, so etwas wie eine Erklärung oder ein Bekenntnis, warum er dieses Buch schreiben musste).

Absolut bezwingend und geradezu romanhaft – in atmosphärischer und geografischer Hinsicht ist die Nähe zu „Nackt“ aus dem „Marie“-Zyklus geradezu greifbar – ist das Kapitel über die WM 2014 in Brasilien. Toussaint, der zu dieser Zeit eine schwierige Phase durchlebt und eigentlich keine Ambitionen hat, sich dem Fußball und dem großen Turnier zu widmen, weil seine private Situation zu dominant ist, erlebt eine Art Suchtverhalten, einen harten Rückfall, der erst in Form von Streaming am Laptop, später, nach einem Stromausfall infolge eines Blitzschlags, am batteriebetriebenen Radio ausgelebt wird (es gibt nur einen winzigen Fehler in diesem Kapitel: das Champions League-Finale, auf das Toussaint hier kurz zu sprechen kommt, war nicht 2013, sondern bereits 2003).

In Toussaints Buch geht es nicht nur, wie der Titel vermuten ließe, um Fußball, sondern um vieles andere mehr. Zugleich ist es ein weiteres herausragendes Werk eines der großen Autoren unserer Zeit (und nach „Zidanes Melancholie“ bereits sein zweites zum Thema).

Titelbild

Jean Philippe Toussaint: Fußball.
Übersetzt aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2016.
128 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002275

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