Von Odysseus bis Honecker

Der Band „Vertrackte Affären“ enthält Altes und Neues, Verstreutes und bisher schwer Zugängliches des großen Erzählers Günter Kunert

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange hat Günter Kunert keinen Band mit Erzählungen mehr veröffentlicht. Der letzte hieß „Irrtum ausgeschlossen“ und erschien vor genau zehn Jahren. Es wurde also wieder einmal Zeit für den inzwischen 87-jährigen Altmeister. „Vertrackte Affären“ versammelt auf 250 Seiten 31 Geschichten. Die älteste stammt aus dem Jahr 1954, die jüngste mit dem Titel „Zeitmaschine“ ist von 2010 und zugleich die einzige, die nach der Jahrtausendwende  entstand. Von ‚neuen‘ Texten kann also kaum die Rede sein. Stattdessen handelt es sich eher um Verschollenes – in Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien oder bibliophilen Drucken Verstecktes –, das der Herausgeber Hubert Witt gemeinsam mit Kunert wieder ans Licht geholt hat. Entstanden ist eine Art Werkschau über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg.

Wer Kunert kennt und liebt, wird sich vom ersten Text an in dem neuen Buch zu Hause fühlen. Genüsslich und nicht ohne intime Kennerschaft bedient sich der Autor des Überlieferten. Mythen, Märchen und von anderen bereits erzählte Geschichten nimmt er sich vor und liest sie gegen den Strich. Sein Odysseus, der uns als „Herr O.“ in der Erzählung „Abschied ist arm an Worten“ begegnet, wird von der Erinnerung an die beste Zeit seines Lebens dazu gebracht, im hohen Alter an die Orte einstiger Heldentaten zurückzukehren. Natürlich nimmt er als moderner Tourist die Autofähre von Valletta nach Gozo, wo ihn und seine Kameraden, wie er sich – freilich falsch, weil Gozo die Insel der Calypso ist – zu erinnern glaubt, auf der Rückreise von Troja einst die mächtige Zauberin Kirke in ihren Bann schlug. Die Wärterin der berühmten Höhle freilich ist inzwischen auch alt und gedächtnisschwach geworden und nimmt dem einstigen Geliebten, den sie gar nicht mehr erkennt, sogar Eintrittsgeld für ihre heruntergekommene Höhle, „Circeʼs Cavern“, ab.

Andere Erzählungen berichten von Dr. Schlemihl, der seinen Schatten für die Dritte Welt spendet, Herrn Wolf, dem bei einem Spaziergang im Stadtwald von einem Fräulein Rottkeppel Avancen gemacht werden, auf die er dummerweise hereinfällt, um am Ende von Wachtmeister Förster erschossen zu werden, oder einer nixenähnlichen jungen Frau, die unversehens aus dem Müggelsee auftaucht, um einem Mann aus dem Westteil Berlins die Idee einzugeben, alles zu riskieren, um sie zu sich zu holen. Georg Büchner, Franz Kafka, Thomas Mann, Mary Shelley, H.G. Wells geben die Paten für andere Geschichten ab. Und bei etlichen Erzählungen, die vor dem Hintergrund der DDR spielen, scheint durch alle Spielerei mit Vorgegebenem auch die Bösartigkeit eines Staatswesens durch, dem Kunert nach der Biermann-Ausbürgerung endgültig Richtung Westen entfloh, wo er im Münchner Carl Hanser Verlag bis heute sein verlegerisches Zuhause fand.

Bereits in dem Text, der am weitesten in Kunerts erzählerische Anfänge zurückreicht, „Das Auge“ (1954), wird deutlich, dass hier ein Autor die literarische Bühne betrat, bei dem man sich das Etikett „Sozialistischer Realist“ getrost sparen konnte. Sprachbegabt und gewitzt erzählt er zwischen den Zeilen der Geschichte über einen Mann, der sein ständiges Zwinkern mit dem linken Auge vom Arzt behandelt wissen möchte, weil es ihn beruflich schädigt, auch die Geschichte eines Landes, in dem man sich der wachsenden Kluft zwischen gesellschaftlichem Wunschbild und trister Wirklichkeit weitestgehend bewusst war: „Kollegin, ich als alter Sozialist – schon zwinkere ich – empfehle Ihnen, den Marxismus zu studieren – zwink – immer lernen, lernen und nochmals lernen – zwink.“ Worauf die Angesprochene – ebenfalls mit dem Auge zwinkernd – verschmitzt erwidert: „Aber natürlich, Kollege!“

Wer dächte nicht gleich an die – oft technisch laienhaft gemanagten – Abhöraktionen der Staatssicherheit bei jenen DDR-Bürgern, die überhaupt über ein Telefon verfügten, liest er in der Geschichte „Stimmflut“ (1989) von der Kakophonie, in die ein Mann jedes Mal gerät, wenn er den Telefonhörer ans Ohr hebt. Die kafkaeske Erzählung „Keine Affäre“ (1976), in der ein Mann wegen nichts hingerichtet wird, erzählt nicht zuletzt auch von all den politischen Gefangenen zwischen Bautzen und Rostock, aus deren Abschiebung der Staat, in dem sie nicht länger leben wollten, noch ein lukratives Devisengeschäft zu machen verstand. Und wenn in dem Text „Verwehte Spuren“ (1979) anlässlich eines Staatsbesuchs auf einer Großbaustelle die unzuverlässigen Arbeiter zuvor durch verlässliche Genossen ersetzt wurden, läuft das letztendlich auf die Frage hinaus, die sich immer mehr Bürger des Potemkinʼschen Dorfes DDR stellten: „[W]em spielen sie was vor? Uns? Der Welt? Sich selber? Und zu welchem Preis?“

Dass Günter Kunert dem Geschichtsverlauf und der Zukunft der Menschheit nicht gerade als Optimist gegenüberstand und noch immer steht, ist bekannt. In der Erzählung „Zeitmaschine“ (2010), der jüngsten des Bandes, stößt der Ich-Erzähler im „H.G. Wells-Museum“ in London auf das Vehikel aus der berühmten Erzählung des britischen Autors. Probehalber nimmt er Platz und bringt durch eine unbedachte Bewegung die Maschine in Gang. Als ihm plötzlich inmitten einer apokalyptischen Landschaft eine verlumpte Gestalt gegenübersteht und ihn in unbeholfenen Worten um Essen anbettelt, glaubt er sich zurückversetzt in prähistorische Zeiten und versucht den Mann zu trösten, indem er auf eine Zukunft verweist, in der alles besser werden würde. Ein Blick auf den automatischen Kalender, der in das Gefährt eingebaut ist, belehrt ihn freilich schnell: Man schreibt bereits das Jahr 2200 und offensichtlich ist die Menschheit wieder dort angekommen, von wo sie einst ihren Ausgang nahm.

„Vertrackt“ sind die Affären alle, von denen uns die Erzählungen des vorliegenden Bandes Kunde geben. Nie gehen sie so aus, wie der Leser denkt, hofft oder zu wissen meint. Im Gegenteil: Wie für seinen Schweizer Zeitgenossen Friedrich Dürrenmatt ist auch für Kunert eine Geschichte erst dann wirklich zu Ende erzählt, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Und so versteckt sich auch in der zeitlich in das ausgehende 18. / beginnende 19. Jahrhundert zurückblendenden Erzählung über den „Fachmann fürs Fallbeil“ Joseph-Ignace Guillotin eine Parabel auf die Chamäleonhaftigkeit des Menschen. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ galt stets für jene, denen es zuallererst um das eigene Wohlleben und Fortkommen ging. Günter Kunerts Texte freilich biedern sich bei niemandem an und sind gerade aufgrund ihrer sich ständig  aufs Neue behauptenden Freiheit so zeitlos, wie gute Literatur das immer ist.

Titelbild

Günter Kunert: Vertrackte Affären. Geschichten.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
256 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783446250567

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