Im Lapidarium und Machinarium des Wissens

Von bunten Steinen, Klangapparaten, Experimenten, belletristischen Werken und anderem berichten Benjamin Bühler und Stefan Rieger mit feinem Sinn für Differenzierungen

Von Alexandre MétrauxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandre Métraux

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gesteine? Nimmt man Mineraliensammler einmal aus, bewirken sie gemeinhin ergiebige Langeweile. Fragt man danach, was Zungensteine sind, sagen die Befragten entweder, dass sie das nicht wüssten oder – von Ausnahmen abgesehen – sie murmeln irgendetwas vor sich hin. So erfreuen sich Gesteine weder großer Beliebtheit noch strahlender gesellschaftlicher Sichtbarkeit. Lässt sich außerhalb der Fachwelt Umwerfendes über Kristalle oder Überraschendes über Specksteine berichten? Fast nichts – oder doch nur Dinge, die schnell darüber hinweglesen oder -hören lassen.

Weit gefehlt! Was Benjamin Bühler und Stefan Rieger in dem als Bunte Steine bezeichneten Lapidarium anbieten, ist bemerkenswert. Die Unlust an Gesteinen wandelt sich wie im Handumdrehen zur Lust am reflektierenden Lesen, wenn es etwa um Flüssigkristalle geht – nicht um kristallines Meersalz aus der Dose in der Küche, das sich im Wasser auflöst, also flüssig wird, sondern um Flüssigkristalle im strengen Wortsinn, um elastische, ineinander übergehende, biegsame Kristalle sozusagen. Selbst die Gelehrtensprache gerät ins Wanken, wenn das widersprüchliche Wort ‚Flüssigkristall‘ fällt.

Das Bühler-Rieger’sche Lapidarium spannt – auch dies ein Grund, warum Gesteine jedweder Art mehr verdienen als bemühte Verdrängung von Langeweile – einen weiten Bogen von der Wortsemantik über die Belletristik bis hin zur Experimentalphysik und deren Apparaturen. Am Beispiel der Flüssigkristalle veranschaulicht: Diese Gebilde wurden mit Lebewesen in Verbindung gebracht, folglich als ‚lebende‘ bezeichnet. Kein Wunder, dass sich Forscher aus verschiedenen Fachrichtungen darüber zu streiten begannen, ob es sich um wirkliche Kristalle, um Scheinkristalle (wie Fensterglas), um Lebewesen oder Scheinlebewesen oder doch nur noch um eine verführerisch falsche Bezeichnung handelte.

Es seien weder Scheinlebwesen noch ginge es um eine falsche Bezeichnung, wandte Otto Lehmann (der sich zum Entdecker der Flüssigkristalle hochstilisierte) gegen seine Widersacher ein, wobei er sich auf den damals vermutlich scharfzüngigsten Sprachkenner Fritz Mauthner berief, um den Status der Kristall-Bezeichnung aufzuklären. Philologen und Sprachphilosophen haben Flüssigkristalle nicht vor Augen, wenn sie über Oxymora forschen, und Mineralogiehistorikern sind Mauthner und andere linguistisch Hochbewanderte nicht präsent, wenn sie die Geschichte der Flüssigkristallforschung rekonstruieren. Im Lapidarium von Bühler und Rieger verhält es sich anders: Die Philologie wird tatsächlich mit der experimentellen Kristallographie des frühen 20. Jahrhunderts verknüpft, nicht, weil es den Autoren plötzlich in den Sinn käme, so etwas zu versuchen, sondern weil sie die Quellen anders lesen, als es weitverbreiteten Lesegewohnheiten entspricht, und weil sie diese Verknüpfung verständlich machen können.

Wenn nicht überall auf gleiche, so doch auf ähnliche Weise wird in den anderen Lemmata des Lapidariums verfahren. Es handelt sich bei den einzelnen Kapiteln um alphabetisch geordnete Essays, deren Überschriften in lemmagerechten Kapitälchen gesetzt sind. Querverweise auf andere Lemmata sind ihrerseits durch Kapitälchen kenntlich gemacht, sodass man – und nun wird es wirklich vielschichtig – vom Lapidarium zum Machinarium und zurück wandern kann, ferner von dem einen oder anderen der beiden Bände zu den früher erschienenen Bänden, die mit den hier besprochenen ein Quartett bilden (siehe Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, 2006, sowie Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens, 2009). So bricht das Lesen gewohnte Denk- und Spartengrenzen auf. Die Architektur der vier Bände lockt einen bald in die Sphären kulturell vermittelter Praktiken, bald ins Tierreich, dann in die Noosphäre oder in das Feld sonderbarer Ohr- und Zungensteine, oder auch in nur halbwegs bestimmte, weil durch Techniken noch wenig erschlossene Arenen der Roboter-Insekten-Kommunikation.

Ohrsteine haben es in sich. Es sind von Organismen fabrizierte Gesteinskörnchen, die im Vestibularapparat im Innenohr dafür sorgen, dass ohrsteinbegabte Lebewesen aufrecht gehen, eine Neigung gegenüber der Geraden, die zum Erdmittelpunkt führt, ausgleichen, sich in die Kurve legen und im Sturz noch wissen können, wo oben und wo unten liegt. Die Ohrsteine sind für den Gleichgewichtssinn ebenso wichtig wie magnetisierte Nadeln für die Orientierung an den Erdpolen. Allein wirken sie dabei jedoch nicht. Vielmehr erlauben sie es den feinfühligen Sensoren im Vestibularapparat, zu erspüren, nach welchen Lebenskoordinaten diese Gesteinskörnchen aufliegen. Und tun sie es einmal nicht ganz richtig oder werden sie daran gehindert, es ihrem Zweck entsprechend zu tun, ergeben sich beim Menschen Schwindelgefühle. Josef Breuer, der zeitweilige Begleiter und Berater Sigmund Freuds, hat sich ausgiebig in klinischer Beobachtung und in Experimenten mit den Ursachen des Schwindels und den unordentlich sich verhaltenden Ohrsteinen beschäftigt. Da allerdings die Funktionsweise, ja sogar der Aufbau des Vestibularapparts etwas undurchsichtig war, ergab sich für Breuer die Notwendigkeit, die Dinge wenigstens diskursiv zurechtzulegen, insbesondere die Annahme abzuweisen, dass die Verrichtung des Gleichgewichtssinns einem einzigen Organ übertragen sei (als seien Rückmeldungen aus den Muskeln, aus den Weichteilen im Körperinnern und dergleichen Prozesse physiologisch für das Gleichgewicht bedeutungslos). Um nicht in den Schwindel ihrer Erforschung zu geraten, verlangten die Ohrsteine nach sprachlicher Durcharbeitung, wodurch sie Irreführungen durch konkurrierende Ansätze entzogen wurden – etwa so, wie die Breuer-Freud’sche talking cure dazu berufen war, Menschen an ihr Lot zurückzuführen.

In dem als Machinarium des Wissens bezeichneten, kulturwissenschaftlichen Band werden Medien, Experimente, Kundgaben menschlicher Subjektivität (und animalischer Innerlichkeiten), Darstellungsformen und -techniken, belletristische Genres, Instrumente, Motoren und anderes in unterschiedlichen Arrangements in den Blick genommen. Beispielhaft für ebensolche sind die Apparate und Entwürfe, die im Lemma „Neurophon“ vorgestellt werden. Man könnte die Apparate annähernd als synästhetische Steigerungsmittel bezeichnen. Sie dienen dazu, im Reich der Sinne das „Diktat der Steigerung“ in besonderer Weise zu befolgen.

Paradigmatisch steht der Film für eine derartige Steigerung. Von der Fotografie zum bewegten Bildverlauf, vom Stummfilm zum Tonfilm, von der Zwei- zur Dreidimensionalität ist das optisch-akustische Erleben nach und nach gesteigert worden. Eine weitere synästhetische Steigerung wird erreicht, wenn man im Kino nicht nur Tonfilmmaterialien, sondern auch Geruchs- und Tastempfindungen begegnet.

Steigerungen vergleichbarer Art werden erzielt, wenn etwa farbige Lichterscheinungen in elektrische Schwingungen zur Generierung von Klängen umgewandelt oder wenn über Artgrenzen hinweg Wahrnehmungserfahrungen möglich werden – letzteres geschieht beispielsweise mit dem besagten Neurophon, das Hautflächen als Gehörapparate instrumentiert und das sich sogar in der gegenseitigen Verständigung von Delphinen und Menschen einsetzen lässt.

So bemisst sich die im Machinarium anvisierte Steigerung nicht an den apparativ veranstalteten Leistungserweiterungen in lediglich einem Sinnesbereich, sondern an der ebenso apparativ hergestellten Ergänzung von Erfahrungen eines Sinnesbereichs durch zeitgleiche Parallelerfahrungen in einem anderen, manchmal auch in zwei anderen Wahrnehmungsfeldern. Was Arthur Rimbaud einst in seinem Vokalfarbengedicht poetisch und zugleich in poetologischer Absicht zur Sprache brachte, wird mehrfach und mit Mehrwert mal so, mal anders materialisiert – und genau von diesen Materialisierungen handelt das Machinarium des Wissens nicht nur im Lemma „Neurophon“.

Der Fall der 1881 von Rudolf Koenig entworfenen Wellensirene veranschaulicht in noch anderer Hinsicht die Steigerung der Sinneserfahrungen. Was einem auch zu Ohren kommt, es kommt stets in Wellenform daher: Geräusche, Vogelgezwitscher, lautes Gähnen, Blätterrascheln – stets sind es Wellen in höchst unterschiedlicher Gestalt. Der akustische Apparat ist allerdings nicht so gebaut, dass er jede Wellenform unmittelbar, gleichsam eins zu eins empfinden könnte. Er zerlegt komplexe Wellen in Einzelwellen, die dann – sehr vereinfachend gesagt – im Zentralnervensystem wieder vereint und als Geräusch, als Akkord oder als Stimme einer anrufenden Person erkannt werden. Nun sind Schallwellen geometrisch darstellbar. Es handelt sich dabei um optische Gestalten, um Formen. Um zu zeigen, dass diese Formen in Klänge steigerbar sind, ersann Koenig die Wellensirene. Sie besaß die Merkwürdigkeit, dass metallische Scheibenränder variablen Durchmessers einzeln nach der Gestalt verschiedener komplexer Wellen ausgestanzt wurden, damit sie durch eine Pumpe angeblasen und zum Erklingen gebracht würden. So hatte der Akustiker den Gegenbeweis für die Zerlegung der Schallwellen durch den Gehörsinn allerdings in umgekehrter Richtung in Form der Zusammensetzung durch eine Klangmaschine erfolgreich angetreten. Nicht nur war eine Gestalt zum Klang gesteigert, sondern auch das Wissen der physiologischen Akustik in Gestaltklänge umgesetzt worden.

Im Machinarium des Wissens sind 17 Lemmata vereinigt. Im Lapidarium des Wissens sind es deren 14. Dies lässt vermuten, dass die Autoren hinter enzyklopädischer Dichte (Kleinlemmata zu Aberdutzenden) nichts anderes als die Fragmentierung des Wissens vermutet haben. Da sie jedoch bestehende und meist unbemerkte Zusammenhänge zwischen Medien, Techniken, Sprachlichkeiten, Darstellungsformen, Dingen und Organen aufzudecken sich angeschickt haben, erweist sich die Entscheidung, es bei insgesamt 31 essaywürdigen Themen oder Objekten zu belassen, sowohl als leserfreundlich als auch als lehrreich. Ergänzt werden die Lemmata durch Abbildungen und umfangreiche Literaturverzeichnisse.

Hervorzuheben ist ebenfalls, dass die Autoren mit der Wahl der Textstruktur, will sagen: mit der Schaffung der bereits erwähnten Möglichkeit, lesend in vier Bänden zu wandern, ein gleichsam in sich ruhendes Lektüremodell geschaffen haben. Man wird nicht unentwegt über die Lemmata hinaus auf Erkenntnishorizonte verwiesen, die man definitionsgemäß selbst im Dauerlauf des Lesens nie zu erreichen vermag. Vielmehr kann man sich in einem System hin und her bewegen und sich genau mit den Bestandteilen befassen, durch die dieses System zusammengehalten wird.

Titelbild

Benjamin Bühler / Stefan Rieger: Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
278 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126554

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Titelbild

Benjamin Bühler / Stefan Rieger: Kultur. Ein Machinarium des Wissens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
294 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126509

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