Von Glück und Schmerz der Immersion

Adam Johnson erkundet in den sechs Erzählungen von „Nirvana“ innere und äußere Katastrophengebiete

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem Roman „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ zeigte Adam Johnson 2013 den Mut, seine Leserinnen und Leser in eine völlig fremde Welt mitzunehmen: ins heutige Nordkorea. Der Roman wurde ein großer Erfolg und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. In den 2015 erschienenen Erzählungen Nirvana setzt Johnson seine kühnen Drahtseilakte der erzählerischen Immersion fort. Er schlüpft in eine krebskranke Frau, in nordkoreanische Flüchtlinge in Seoul, in einen ehemaligen Stasiknast-Direktor in Berlin-Hohenschönhausen, in einen Überlebenden der Katrina-Katastrophe in Louisiana und in einen pädophilen Computer-Notdienstler. Das mag eigenartig, ja abartig klingen, und tatsächlich braucht es jeweils eine kleine Überwindung, sich auf die nächste Geschichte einzulassen. Aber, und das das macht die bewundernswerte Erzählkunst Adam Johnsons aus: Liest man die ersten Sätze, dann taucht man mit allen Sinnen in die Realität eines außergewöhnlichen Menschen ein.

Die Erzählungen, zwischen 30 und 60 Seiten lang, sind nicht im Wortsinn Short Stories. Sie zeigen auch nicht die für die Short Story typische Zuspitzung einer Lebenssituation zur existentiellen Entscheidung und Wendung. Vielmehr lässt sich Adam Johnson Zeit, seine Figuren ins Erzählen kommen zu lassen. Der Ich-Erzähler der ersten Geschichte, „Nirvana“, sitzt am Bett seiner Frau, die seit neun Monaten am Guillain-Barré-Syndrom leidet, und tröstet sich mit den Sprüchen eines Präsidenten-Hologramms. Dass der Leser dennoch dabeibleibt, verdankt sich einer präzisen Krankheitsbeschreibung und verblüffenden Details, die ihn in die Welt der Geschichte hineinziehen: „Ihre Haut ist so fahl wie Kühlschranklicht.“

„Nonc und Geronimo“ erzählt von den Irrfahrten eines Vaters mit seinem Sohn durch die verwüsteten Gebiete Louisianas nach der Katrina-Katastrophe. Die eigentlichen Katastrophen sind jedoch nicht der Wirbelsturm und die Überflutungen, sondern das Versagen der staatlichen Stellen und die Beziehungslosigkeiten der Menschen untereinander. Der kleine Junge wird von der Mutter an den nichtsahnenden Vater abgegeben, und dieser gibt seinen Sohn nach einigen Tagen des Herumirrens ebenfalls in fremde Hände, weil er seinen sterbenden Vater in Kalifornien besuchen möchte.

Besonders eindringlich ist die Erzählung mit dem Titel „Interessant!“ über eine krebskranke Frau. Darin hat Adam Johnson eine Art Cameo-Auftritt als Ehemann – und in ihr lässt sich seine Erzählkunst des Einfühlens am deutlichsten besichtigen.

„Von außerkörperlichen Erfahrungen hast du sicher schon einmal gehört? Als ich in dem Krankenzimmer stand, hatte ich eine innerkörperliche Erfahrung: Das völlig überzeugende Gefühl, die reale Welt zu verlassen und in diese fremde Person hineinzufließen. Als ihr Blick leer wurde und ihre Lippen erschlafften, spürte ich auf einmal das Morphium in ihr, mit dem alles aussah wie von einem Neonheiligenschein umgeben. […] Plötzlich kann ich auch den Körper dieser Frau von innen sehen – so was kann man, wenn man Krebs hat. Da ist eine knotige Kette blau eingefärbter Lymphknoten, dort ringeln sich die Tentakel eines durstigen Gebärmuttertumors.“

Die Kraft dieser Geschichte liegt in der emotionalen Intensität, mit der sich eine krebskranke Frau innerlich bereits von ihrem Mann und ihren Kindern trennt – mit allem Widerstreben, aller Eifersucht, allem bitteren Sarkasmus. Die Geschichte rührt einen wirklich zu Tränen.

Völlig anders, doch von vergleichbarer Intensität, ist der ruhige Bericht eines Pädophilen, der von zwei jungen Mädchen aus der Nachbarschaft besucht wird, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten. „Dark Meadows“ ist das kühne Unterfangen, eine Innensicht eines Pädophilen zu geben; es kann eigentlich nur misslingen. Doch der Ich-Erzähler ist kein Monster, sondern ringt ständig um seine innere Balance:

„Ich habe kein Kellerverlies und trage keine Fußfessel. Ich stelle keinem Eiswagen nach. Ich habe noch nicht mal Internet, Gottes Geschenk an die sexuelle Ausbeutung von Kindern. Sie müssen mir glauben, dass ich noch nie im Leben jemandem etwas angetan habe und dass ich derjenige bin, der in dieser Geschichte zu leiden hat. Aber ich gebe es lieber gleich zu, weil diese Geschichte nun einmal so ist: Das Bärchen stimuliert.“

Von seelischen Randbereichen zu (jedenfalls für das amerikanische Publikum) geographisch abgelegenen Gebieten führen die Erzählungen „Da lacht das Glück“, die in Seoul spielt, und „Mein Freund George Orwell und ich“, die das Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen zum Thema hat. Die Korea-Story besticht durch den emotionalen Twist, dass sich die drei Flüchtlinge aus Nordkorea in der fremden Großstadt mit ihrem Hightech-Leben völlig fehl am Platz fühlen und geradezu krank sind vor Heimweh nach dem eigentlich verhassten Heimatland. Johnson gelingt es, die Sichtweise der Flüchtlinge mitsamt ihrer Kulturschocks zu vermitteln:

„[…] es gab einfach zu viel zu sehen. Frauen mit Gesichtsverbänden, frisch vom Schönheitschirurgen. Schoßhündchen in Kleidern. Als er an einem Fitnesscenter vorbeiging, starrte er die lange Reihe von Männern an, die auf Laufbändern joggten. Was trieb sie an? Wovor rannten sie weg? Daneben gab es ein Katzencafé und einen Club, in dem Teeniemädchen mit Maschinen tanzten. In einem leeren Einkaufszentrum sah er der Rolltreppe bei ihrem endlosen Kreisen zu, den Stufen, die auftauchten, hochfuhren, wieder verschwanden und niemanden nirgendwohin beförderten.“

Auch der Ostberliner Rentner wird sofort durch seinen Tonfall lebendig: „Ich bin zwar seit dem Fall der Mauer im Ruhestand und arbeite nicht mehr in der Haftanstalt, aber ein subversives Element erkenne ich immer noch auf den ersten Blick. Gerade die kleinen Charmeure muss man im Auge behalten.“ Der ehemalige Leiter der Stasi-Haftanstalt Hohenschönhausen sieht keinerlei Grund, seine Ansichten zu revidieren. Sein bitterer Hohn über die Schulklassen, die jetzt durch die Anstalt als Gedenkstätte geführt werden, und über die Ehefrau, die ihm weggelaufen ist, ist auf den Punkt getroffen. Wenn er allerdings einen Knast-Rundgang mit einem ehemaligen Häftling unternimmt und ihre beiden Erinnerungswelten wie in einem Showdown aufeinandertreffen, wird es unnötig plakativ. Dennoch ein bemerkenswertes Psychogramm, das man gern auch einmal von einem deutschsprachigen Gegenwartsautor in dieser Lakonie gelesen hätte. Überhaupt, wo sind die deutschen Autorinnen und Autoren, die diese halblange Form meistern? Oder die Verlage, die solchen Erzählungsbänden auch hierzulande eine Chance geben? Nicht erst seit Alice Munro gibt es ein Publikum dafür.

Die Übersetzung von Anke Caroline Burger ist gelungen; die Erzählungen zeichnen sich auch im Deutschen durch geschmeidige Alltagsrede und einen individuellen Erzählton aus, was angesichts der zahlreichen exotischen und technischen Begrifflichkeiten gehörigen Respekt abverlangt. Bemerkenswert schön ist das Cover der deutschen Ausgabe: ein sternenübersäter Nachthimmel über einem Steingebirge. Weshalb man sich allerdings für den Titel Nirvana entschieden hat, wird das Geheimnis von Suhrkamps Marketingstrategen bleiben. Der Originaltitel Fortune Smiles zeigt wesentlich mehr hintergründigen Humor.

Titelbild

Adam Johnson: Nirvana. Stories.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
265 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425008

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch