Leb vom Körperfett und mach Strecke

Philipp Schönthaler denkt in „Survival der 80er Jahre“ allzu angestrengt über Rüdiger Nehberg und Überlebensratgeber nach

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1980er-Jahre waren ein Zeitalter der Angst. Wer an diese Zeit denkt, dem stehen bald auch die Plakate in den bundesdeutschen Fußgängerzonen vor Augen, auf denen Rüdiger Nehberg für seine Dia-Vorträge warb. In ausverkauften Mehrzweckhallen schilderte der Abenteurer seine Ausflüge in die Wildnis, ob zu Amazonas-Eingeborenen oder durch eine unwirtliche Wüste. Oder, noch exotischer: Er schlug sich ohne Geld von Hamburg bis nach Oberstdorf durch die Republik und lebte nur von dem, was am Rande des Weges wuchs. Vielen galt er als Spinner, doch ganz sicher war man sich auch nicht. Vielleicht war das die neue Avantgarde? Ein Mann, der womöglich als einziger einer drohenden apokalyptischen Zukunft gewachsen war, die mit Nachrüstungsbeschluss und Tschernobyl in greifbare Nähe zu rücken schien. Untergangsvisionen waren damals en vogue.

Das Problem von Philipp Schönthalers Essay „Survival in den 80er Jahren. Der dünne Pelz der Zivilisation“ ist, dass die Figur Nehberg für ein ganzes Buch nicht genug hergibt. Er war zwar eine Zeiterscheinung, aber vor allem doch ein komischer Kauz. Einer, der sich im Dschungel aussetzen ließ, um so schnell wie möglich von dort wieder wegzukommen. Schönthaler bemerkt treffend: „Die Ironie des Survivals als romantisch überhöhte Rückkehr zur Natur, die in der Verschmelzungsphantasie artikuliert ist, liegt demnach darin, dass der Überlebenskünstler mit der Zivilisation zielbewusst jenem Ort zustrebt, den er zuvor mit allen Mitteln hinter sich zu lassen trachtete.“ Nehberg muss dann auch gleich ins Krankenhaus, um sich Dasselfliegen aus der Kniekehle entfernen zu lassen. Zu erzählen hat er nichts. Er hat überlebt, aber nichts erlebt, nichts erfahren. Er ist durchgekommen, die Reise hat ihn aber nicht verwandelt. Vermutlich musste er deswegen immer wieder von neuem losziehen – eine ständig scheiternde Initiation. Doch das ist nicht Schönthalers Thema.

Leider jedoch kommt Schönthaler auch nicht von Nehberg los, um ernsthaft die Angstphantasien der 1980er-Jahren in den Blick zu nehmen. Der Autor zieht es vor, stattdessen eine kleine Geschichte der Field Manuals nachzureichen. Und auch sein Ausblick in heutige Survival-Milieus bleibt seltsam matt. Lohnenswert wäre es ja; ein Großteil der rechtsgerichteten Bewegungen sieht sich tatsächlich wieder in einer Endzeit, in der es um das Überleben (neuerdings wieder des Volkes) geht. Doch auch das ist nicht Schönthalers Thema.

Dass die Lektüre zu einer Enttäuschung wird, liegt nicht nur an der inhaltlichen Beschränkung, sondern auch an der Schreibweise des Autors. Schönthaler liefert eine weitgehend freudlose Fleißarbeit in Hauptseminarprosa ab: „im Folgenden soll der Begriff im Hinblick auf das Survival historisch und theoretisch skizzenhaft kontextualisiert und differenziert werden.“ Sein Essay mäandert 260 Seiten lang vom journalistischen Nacherzählen der Nehberg-Projekte in merkwürdig behäbiger Action-Sprache zum Auswerfen weiträumiger Diskursnetze, in denen sich dann Derrida, Foucault, Agamben, Nancy, Levi-Strauss und die anderen üblichen Verdächtigen einfangen lassen. Einen eher skurrilen Einfallsreichtum beweist Schönthaler, wenn er Nehberg mit Franz Kafkas Rotpeter, Daniel Defoes Crusoe und David Morells respektive Ted Kotcheffs Rambo vergleicht.

Die fehlende Inspiration des Essays fällt umso mehr auf, da zwei Bücher, die in letzter Zeit über die 1980er-Jahre erschienen sind, eben wegen ihrer Entdeckerfreude und Leidenschaft überzeugten. Sven Reichardt hat 2013 mit „Authentizität und Gemeinschaft“ eine zwar tausendseitige, aber spannend geschriebene Kulturgeschichte des linksalternativen Lebens in den 1970er- und frühen 80er-Jahren vorgelegt. Philipp Felsch erzählt in „Der lange Sommer der Theorie“ (2015) geradezu liebevoll vom Lesen und Denken der intellektuellen Generation jener Jahre. Dies gelingt Philipp Schönthaler nicht. Dem Leser geht es mit seinem Essay schließlich wie Nehberg im Dschungel: Er springt hinein und versucht, so schnell wie möglich durchzukommen.

Titelbild

Philipp Schönthaler: Survival in den 80er Jahren. Der dünne Pelz der Zivilisation.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
281 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783957571496

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