Vom Tod herausgefordert

Der Frage, wie wir mit dem Endgültigen umgehen, widmet sich der von Friederike Felicitas Günther und Wolfgang Riedel herausgegebene Sammelband

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Friederike Felicitas Günther und Wolfgang Riedel herausgegebene Sammelband „Der Tod und die Künste“ mit seinem in 17 Beiträgen angebotenen, reichhaltigen Œuvre geht zurück auf eine an der Universität Würzburg abgehaltene Ringvorlesung. Er ist interdisziplinär angelegt und umfasst die Textwissenschaften Klassische Philologie, Mediävistik, Neugermanistik, Slavistik, Komparatistik und Theologie ebenso wie die Kunstgeschichte und die Musikwissenschaft. Damit wird ein breites Spektrum des Forschungsfeldes dargeboten, das sich sowohl zeithistorisch als auch themenspezifisch als komplex darstellt. Ferner war den Herausgebern das Aufzeigen der „Universalität“ und „Zentralität“ des Todesthemas, das die Künste seit jeher aufgreifen, ein Kernanliegen. Zugleich konstatieren sie aber auch, dass sich insbesondere die Literaturwissenschaften in jüngster Zeit verstärkt der Todesfrage zuwenden. Die zeitliche Weitfassung des Themas lässt es überdies zu, anthropologische und kulturhistorische Veränderungen zu konstatieren, die speziell mit der zunehmenden Säkularisierung seit dem 17./18. Jahrhundert greifbar werden.

Deutlich wird dies beispielsweise, wenn Hans Ulrich Gumbrecht dem nachgeht, was der Verlust an kollektiver Jenseitsorientierung für das „tragische Lebensgefühl“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausmacht und wie zudem das Zurückgeworfensein auf die unhintergehbare Realität des eigenen Todes sich in den Künsten jener Zeit abbildet. Gleichwohl ist durch alle Beiträge hindurch eine Konstante mit reflektiert, die als archetypische Lebensbedingtheit gelesen werden kann: Alles, was das Leben hervorbringt, ist dem Vergänglichkeitsprozess unterworfen. Das beständige Gestalten und Umgestalten von Formen zeichnet die Existenz aus. Damit sind nicht nur die Entstehung und das Verschwinden des Physischen gemeint, sondern generell das intrinsische Motiv der Bewegtheit beispielsweise im Denken, in den verschiedenen Künsten, im Tanz oder in der Musik. Während die Saite eines Instrumentes in Schwingung versetzt wird und der erste Ton anklingt, muss er schon wieder verklingen. Diesen feinsinnigen Bewegungsprozess von Ton und Tod nehmen wir mit Wohlbehagen als Musik wahr. Hingegen erscheint dem menschlichen Ohr das beständige Halten eines einzigen Tons ohne Variation als lärmendes Geheul.

Das reichhaltige Kompendium, das uns mit diesem Sammelband nun vorliegt, eröffnet Michael Erler mit seinem Beitrag „Tod als Teil des Lebens. Zur meditatio mortis bei Platon und den Epikureern“. Erlers Aufsatz nimmt Senecas Aufforderung, dass jeder Mensch zu jeder Zeit seines Lebens beständig den eigenen Tod vor Augen haben müsse, zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. „Im Sinn eines gelingenden Lebens“ kann nur die beständige Reflexion des eigenen Todes ein solches ermöglichen, so die griechische Auffassung. Daher führt Erler entsprechend aussagekräftig folgendes Erkenntniszitat des Epikureers Philodem ins Feld: „Der vernünftige Mensch“,

der erlangt hat, was für ihn zum glücklichen Leben hinreichend ist, der wandelt sein restliches Leben umher gleichsam eingehüllt in ein Leichentuch und der zieht aus einem Tag Gewinn als sei er die Ewigkeit. Denn ein solcher vernünftiger Mensch wird von nichts überrascht sein, was ihm begegnet, auch wenn ihm der Tod unversehens das Leben nimmt. Jeder andere aber wird wie eine Drohne leben und sogar, wenn er alt ist, keinen Gedanken an die Vergänglichkeit seiner Konstitution verschwenden.

Um diesem peinigenden Gedanken an die eigene Vergänglichkeit zu entkommen, unternimmt nun der Mensch zahllose Fluchtversuche. Vergnügungssucht gilt noch als harmlosere Form der Flucht, doch auch vor Verrat und krimineller Komplizenschaft wird nicht Halt gemacht, wie Erler mit Bezug auf Lukrez beobachtet. Dahinter steht die gedankliche Vermutung: Wenn ich vergänglich bin, dann nehme ich mir, was ich will, solange ich (noch) lebe. Doch wer „lebt“ hier? Philodems „vernünftiger Mensch“, der durch die Todestranszendenz besonnen die Ewigkeit erblickt, kann es kaum sein. Eher wird das seelenlose „Leichentuch“ selbst mit dem Lebenden verwechselt, indem durch die Inanspruchnahme der unendlichen Möglichkeiten, die die Materie aufbieten kann, versucht wird, dem Tod zu entkommen. Ein solches Bestreben ist der irrsinnige Versuch, die Naturgesetze zu unterwerfen, mehr noch, diese gar gänzlich auszuhebeln wegen der Uneinsichtigkeit in das definitive Vorhandensein des (eigenen) Todes. Die Besetzung des ‚unschuldigen Todes‘ mit Angst bewirkt die atemlose Raserei des Todesflüchtigen innerhalb einer Kette sinnloser Aktivitäten, die ihn mehr und mehr von seinem existenziellen Seinszustand entfremden. So führt denn die anfänglich latente Entfremdung zu einem „Leben geradezu wie in der Fremde“. Vor diesem Hintergrund bieten die bildlichen und literarischen ästhetischen Todesdarstellungen die Einlösung des epikureischen Prinzips der Todesschau, das dem besonnenen und „vernünftigen Mensch“ zu einem freudvollen Leben verhilft. Dies geschieht vor der Annahme, dass die Todesschau mit einer Transzendenz einhergeht, sodass das Bewusstwerden über die eigene Vergänglichkeit auf das eigene Glück verweist, das zum einen nur in der lebendigen Gegenwärtigkeit und zum anderen jenseits der unstillbaren Vergnügungsbegierde als gesichert gelten kann. Hieran wird auch ersichtlich, dass die ästhetische Vermittlung des Todes stets an einen anthropologischen Kontext gekoppelt ist. Das wird auch an Erlers Beispieldarstellungen aus Literatur und Kunst deutlich, etwa wenn er konstatiert, dass die „Pestdarstellung“ bei Lukrez „in ihrer Wirkung auf menschliches Verhalten vorgeführt wird“. Das Selbst-Bewusstsein des Todes soll bei Sokrates schon zu Lebzeiten durch das „Sterben üben“ erlangt werden. Einmal mehr wird solch eine, dem Tod zugewandte Haltung mit diesseitigem, gegenwärtigen Glückerleben assoziiert. Erler legt überzeugend dar, dass die „Vergegenwärtigung des Todes“ im Platonismus nach einem Memoria-Prinzip funktioniert, auf deren Grundlage epikureische literarische Motive und die Funktionalität von Literatur erklärbar werden.

Ganz anders beleuchtet Frank Fehrenbachs kulturwissenschaftlicher, medizinhistorischer Beitrag „Homo nudus vivus. Zur Anothomia (1345) des Guido da Vigevano“ die Grenze zwischen dem Toten und dem Lebenden. Er stellt in der Besonderheit der farbigen Miniaturen, die Vigevanos Anothomia dominieren, zugleich deren ästhetische und anthropologische Relevanz heraus, die ein zur Zeit des 14. Jahrhunderts ungewöhnliches Vorgehen zeigen. Gleichwohl verweist Fehrenbach auf ein Memoria-Konzept, nach dem sich das „nur schwer in Worte zu Fassende“ durch das Bildhafte visualisiert im „Gedächtnis einprägt“. Innerhalb der anatomischen „Bildgeschichte“ herrscht die Darstellung des „lebendigen Toten“ vor: „Guidos Tafeln sind so ein frühes Paradigma eines künstlerischen Ideals, das nicht einsinnig auf die Erzeugung des lebendigen Scheins zielt, sondern die Oszillation zwischen faktischem Tod und emergenten Leben zum Thema hat.“ Hierin erkennt Fehrenbach auch eine Art Widerstand gegen religiöse und epistemologische Verbote bezüglich der Lehre/Sektion der Anatomie. Als Beispiel für die starke Kontrastierung des Toten mit dem Lebendigen seien genannt „der starrende Blick aus blauen Augen“, „das helle Inkarnat“ sowie die Haltung eines „aufrecht Stehenden“, ergänzt um die Abbildung eines Kissens in Kopfhöhe, die selbst bei der Vornahme des anatomischen Schnittes beibehalten wird. Zudem weist nach Fehrenbach die Art und Weise der auffällig gestalteten körperlichen Nähe zwischen Anatom und dem Toten darauf hin, ein „Gegenbild“ beziehungsweise „lebendiges Double“ zu sein und zugleich die „Beweinung Christi“ zu reflektieren. Die dritte Abbildung der Anothomia zeigt den geöffneten Leib im Bereich des Bauchraumes als dreifach gefaltetes Triptychon und stellt somit die innere Leibesschau erneut in einen ikonografischen religiösen Kontext. In der nachfolgenden Darstellung der Öffnung des Thorax durch den Arzt erkennt Fehrenbach einen „gewalttätigen Akt“, da ein kraftintensiver Eingriff notwendig und sichtbar wird. Gleichwohl seien in seinem Gesicht sowohl Anteilnahme als auch „Abscheu“ zu erkennen. Nichtsdestotrotz wird die enge, teilweise umschlungene Nähe von Anatom und dem Toten beibehalten. Wenn der Anatom seiner Tätigkeit nachgeht und Einschnitte in den toten Körper vornimmt, weist dabei das abgebildete frische Blut einerseits erneut auf das Oszillieren zwischen Tod und Leben hin und stellt es andererseits der seitlichen Wunde Christi anheim.

Fehrenbach macht die interessante und „verwunderte“ Beobachtung, dass auf der zehnten Tafel das Geschlecht des leblosen Körpers mit dem anatomischen Interesse am Gehirn wechselt. In der „späteren anatomischen Bildtradition“ steht die Frau vor allem wegen ihres „Reproduktionsapparates“ im Mittelpunkt. An den Rändern des Gehirns lassen sich auf den Bildtafeln farbliche Akzente finden, die „die Ambiguität des mehr oder minder toten Präparats“ bestätigen: „Wie das Körperfragment für den ganzen Organismus einsteht, erlaubt der Kadaver Rückschlüsse über den Ort der lebendigen Seele und ihren physischen Agenten, den spiritus.“ In der bildlichen Darstellung der Schädelsektion erkennt Fehrenbach einen weiteren Hinweis auf religiöse Ikonografie, und zwar am „geraden Schulterschnitt“ und am Verzicht auf die Abbildung des restlichen weiblichen Körpers, die meist verwendet wurde, um weibliche Heilige darzustellen. Die Anothomia beendet ihre Sektionsdarstellungen mit Tastuntersuchungen des anatomischen Arztes am geschlossenen Leib und schließt damit nach Fehrenbach an den Beginn der Sektion an.

Friederike Felicitas Günthers Beitrag, der sich mit dem „irdischen Vergnügen am Überleben“ anhand des Gedichtes „Die auf ein starckes Ungewitter erfolgte Stille“ von Barthold Heinrich Brockes beschäftigt, setzt die Bedrohung des Menschen durch den allgegenwärtigen Tod in Beziehung zu den unkontrollierbaren Naturgewalten. Zunächst wird die Wirkung auf den lyrischen Betrachter konstatiert, der angesichts solch wuchtiger Gewalten einen „existenziellen Schrecken“ erfährt, denn „von jeder Welle scheint ein feuchter Tod, der unvermeidlich ist, uns gräßlich anzublecken“. An der Schnittstelle von Todesgefahr und Überlebensvergnügen versucht Brockes, das Naturell des Göttlichen aufzuspüren. So sind denn der Schrecken der destruktiven Gewittergewalt gegen seine regenbringende, erneuernde und die Luft reinigende Kraft gesetzt, die der Autor 1728 in „Gesang zur Zeit des Ungewitters“ lobpreist. In dieser Reflexion über die Ausbalancierung der gewaltigen Naturkräfte durch Brockes erkennt Günther die Demonstration „göttlicher Weisheit und Fürsorge in der göttlichen Anlage der Natur“, die im Anschluss an Carsten Zelle tatsächlich „als Teil eines größeren Plans erkannt“ werden kann. Günther weist jedoch auf eine genauere Betrachtung vor allem der letzten Strophe des Gedichts „Gesang zur Zeit des Ungewitters“ hin, durch die eine Zuordnung Brockes zur Physikotheologie als zu vorschnell erscheint. Denn die Schlussverse bitten Gott um „Erbarmen“, um „Gnade“, um die Abwendung von Schaden und „Noth“. Die „individuelle Erfahrung“ des beschriebenen Gewitters besagt aber auch, dass der Ausgang der Sache offen ist, dass nicht gewiss ist, ob ein persönlicher Schaden abgewendet bleibt.

Günther fokussiert auf die Schnittstelle zwischen (natur-)wissenschaftlicher Erklärung und gottbittender Schonung, in der letztlich die Naturwissenschaft doch im Gottglauben mündet. So ist ihre nachvollziehbare Schlussfolgerung: „Dass dies im Bereich des Ästhetischen geschieht, kommt nicht von ungefähr, denn es handelt sich um die individuell sinnliche Erfahrung des Todesschreckens, die sich offenbar nicht nachhaltig durch rationale Argumente entschärfen lässt.“ Nach Günther wertet die Ästhetik die Natur, das Irdische auf, wobei zugleich die Gottesgegenwart beibehalten wird. Dies führt zu einer Vergrößerung des Todesschreckens, da die Schwelle zum Aufgeben aller Dinge, vor allem der liebgewonnenen, sinnlichen, erhöht ist. Die Gnade Gottes, die Verschonung im Walten der mächtigen Natur wird als Erlösung deutbar, mit der eine Gottesfürchtigkeit und -dankbarkeit korreliert. Mit einem Exkurs auf Brockes biografische Schilderungen konstatiert Günther eine allgegenwärtige „Todesgrundierung“, die den Autor in seinem Gottesglauben nachhaltig geprägt hat. Die Nähe zum Tod steigerte sein Vergnügen am Irdischen. Insofern findet sich in den interpretierten Gedichten jeweils der „Umschlagpunkt von Ichauslöschung in Gnade“. Die sich an das Gewitter, an das Walten der Natur anschließende „Stille“ schafft überdies den Raum für das Schauen des Schönen, in dem sich das Göttliche selbst präsentiert. Es ist dies auch der Raum, in dem sich der zuvor den gefährlichen Naturgewalten ausgelieferte Mensch als „Überlebender“ erfährt. So führt die „Todesgrundierung“ zu einem „existentiellen Schrecken“, der die Voraussetzung für die individuelle Erfahrung des Schönen im Überleben, im Irdischen ist und mit Mitteln der Ästhetik spannungsvoll inszeniert wird: „Der Tod wird als ständige Option göttlicher Allmacht wachgerufen.“

Den Aufsatz „,Der Tod ist groß. Wir sind die seinen.‘ Tod und Sterben bei Rainer Maria Rilke“ beginnt Fred Lönker mit der Feststellung eines Faktums, das frappierend genug ist. Der gewählte Titel spiegelt ihn bereits wider: Rilke konfrontiert mit „Aussagen“ und „Vorstellungen“, die „aus den Abgründen einer besonderen, eben eigentümlich poetischen Subjektivität zu kommen“ scheinen, „die uns verschlossen bleibt“. Oder was ist von einer Formulierung zu halten wie dieser: „Der Tod verlangt selbst zu sterben“? Lönker macht deutlich, wie unsere Vorstellung und Erfahrung von Wissen unsere Gedankenwelt bestimmt und umgekehrt, wie unsere Form von Denken Lebens- und Erfahrungswelt mitbestimmt. Er konstatiert auch, wie schwierig es ist, von gewohnten Mustern innerhalb dieser Konzepte abzuweichen, selbst wenn „etwa Neurowissenschaftler darüber belehren, dass Vorstellungen wie die von einem Subjekt oder von einem Willen in Wahrheit unsinnig sind“. Interessant ist Lönkers Beobachtung, dass wegen dieses Konflikts eine tatsächlich veränderte Perspektive, die das Potenzial hat, Muster aufzubrechen, aus dem ästhetischen Feld kommen muss. So ist es nur folgerichtig, wenn Rilke dies mit poetischen Mitteln versucht. Hier kann er hoffen, auf eine metaphysisch-geistige Offenheit zu treffen, sodass seine Worte gleichsam eine innere Resonanz erzeugen können. Dies scheint auch Lönkers Eindruck zu sein, wenn er reflektiert, dass Rilkes Texte „mehr oder weniger fremd“ bleiben, dass sie selbst „kein Wissen“ anbieten, „das sich in der gewöhnlichen Weise mitteilen lässt“. Mehr noch, „man muss sogar sagen, dass diese Texte ihr Wesentliches verlieren, wenn man ihren Gehalt in die Sprache unseres Wissens übersetzt und glaubt, ihn in wenigen Sätzen zusammenfassen zu können.“ So ist Rilkes Protagonist Malte Laurids Brigge angetreten, den Rezipienten mit einer Erkenntnis zu konfrontieren, die fundamental ist, und stellt die Frage, ob es gar möglich ist, dass jeglicher Fortschritt, jede Kultur und jede (religiöse) Weisheit nur an der „Oberfläche des Lebens“ kratzt. Plötzlich erkennt Brigge seine Aufgabe, nämlich mithilfe der Sprache und des Aufschreibens die Wahrheit ans Licht zu bringen. Mithilfe der Ästhetik soll nicht weniger als eine geistige Revolution ins Rollen gebracht werden. Die Wahrheit scheint in dem auf, was Brigge in der Großstadt sieht. Zum Leben sind die Menschen hierhergekommen, was er aber sieht, ist das Sterben. Oder besser: das „Noch-nicht-sterben-müssen“, wie Lönker konstatiert. Leben und Sterben als Gegenüberstellung – das ist nicht unbedingt überraschend. Überraschend ist vielmehr, dass auf dieser Schnittstelle eine „anonyme Instanz“ „an die Stelle“ der erwartungsvollen Parisankömmlinge „tritt“. Diese Instanz zieht die Lebenshungrigen in den dunklen Orkus und „löscht“ ihre „Individualität aus“: „Also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“

Brigge beobachtet im Sterbeprozess seines Großvaters, wie sich der Tod, der in ihm wohnt, geradezu anarchisch durch die letzten Lebensdinge äußert. Lebenswille und Temperament setzen sich rücksichtslos durch, worin sich eine Formulierung wie „der Tod verlangt selbst zu sterben“ behauptet. Der intrinsische Tod tritt nirgends so kompromisslos zutage wie zum Zeitpunkt des Sterben-Müssens. In dieser Majestätik ist er unwiderlegbar „groß“, denn „wir“ werden „die seinen“. Lönker zeigt auch, wie wir die Seinen werden. Dies geschieht offenen Auges, denn das Prinzip des Sehens, das er für Rilke als zentrales herausstellt, führt uns jederzeit das „Schon-nicht-mehr“ vor Augen. Die Kategorie des darin enthaltenen „Zeitlichen“ verweist „auf den Prozess, in dem etwas seine Gestalt gewinnt oder ändert“. Wir sehen somit innerhalb des sich ständig umgestaltenden Vergänglichkeitsprozesses den Tod und werden in ihm sukzessiv die seinen. Je näher der Tod rückt, desto stärker ist am Beispiel von Brigges Großvater zu beobachten, dass sein Umgang mit den Dingen im Haus an Bedeutung verliert, da sie sehr bald keine Bedeutung mehr für ihn haben werden. Da die Dinge jedoch gewissermaßen in eine sukzessive Zeitlichkeit eingebunden sind, bedeutet der Verlust ihres Umgangs nicht weniger als ein „Heraustreten aus der Zeitlichkeit“. Vergangenheit und Zukunft hören auf zu existieren, sodass der gegenwärtige Moment zur Endlosigkeit – im Sinne eines „ohne Zeit“-sein – werden kann.

Dass der Tod, und zwar nicht als Abstraktum des Todes der Anderen, sondern als der eigene, das „Lebensgefühl“ innerhalb von Zeitabschnitten changiert, stellt uns Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Beitrag dar. Im Anschluss an Martin Heideggers Begriff des Todes als „jemeiniger“, schlüsselt Gumbrecht auf, wie im 20. Jahrhundert durch den Verlust der in die bisherige Lebenswirklichkeit eingebundenen metaphysischen Vorstellung des Übergangs in eine andersgeartete, unsichtbare Lebensdimension der Mensch vor eine bislang nicht dagewesene Herausforderung gestellt ist. Die einst wirksamen, kollektiven Vorstellungskonzepte eines Jenseits existieren nicht mehr, sodass der Mensch auf seinen Tod als „jemeinigen“ zurückgeworfen ist; konfrontiert mit seinem eigenen „absoluten Ende“. Dadurch wurde „aus dem Tod als einer Schwelle der Tod als ein Teil der Existenz“. Gumbrecht konstatiert diese Verhältnismäßigkeit als „neue Erlebensform des Todes“ mit der auch eine neue Form von Angst verknüpft ist. Die Sicherheit der jenseitigen Dimension existiert nicht mehr, sodass die Unsicherheit in die diesseitige Dimension der Existenz einbricht. Was nicht weniger bedeutet, als dass „menschliche Existenz zum ersten Mal in der Geschichte des Westens – ohne in Aussicht stehender Transzendenz – ausschließlich auf sich selbst verwiesen war“. So ist es nur folgerichtig, dass aus der modernen Erwartbarkeit des „Nichts“ nach dem Tode, das mit einem Vorstellungsverlust einhergeht, Angst vor dem Existenzende resultiert. Wie Gumbrecht formuliert, entsteht der „Eindruck“, „über einem ,Abgrund‘ zu leben“. Hieraus erwuchs jedoch auch eine „existentielle Intensität“, die sich in „Tanz“ ausdrückt. Dies meint zuvorderst die spezifische Form des Bewegens und weniger den künstlerischen Ausdruck.

Interessant ist die Beobachtung Gumbrechts, wie die unmittelbare existentielle Herausforderung durch den Tod für das moderne Individuum zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Kunst und in der Architektur ihren Niederschlag findet. Denn er findet nichts weniger als die Bauten der Neuen Sachlichkeit und des Bauhauses mit der Unruhestellung begründet, die die Abwesenheit des Aufgehens des „jemeinigen“ Todes in kollektive jenseitige Wirklichkeitssicherheit bewirkt hat. Mit anderen Worten: Die modernen Bauten und Kunstrichtungen entstehen unmittelbar aus dem neuen Anspruch an das Subjekt, aus dem Umgang mit den diesseitigen Dingen eine Antwort auf den eigenen Tod zu geben. Daher, so Gumbrecht, sind Kunst und Architektur der Moderne von einer ganz spezifischen Intensität durchdrungen, die letztlich im „tragischen Lebensgefühl“ ihren Ursprung hat. So sind die Kunstdinge von Paul Klee, André Breton oder Louis Aragon erzeugt von einer „produktiven Unruhe“ während sie zugleich „die existenzielle Stimmung eines Tanzes über dem Abgrund“ bezeugen. Gleichwohl spiegelt sich in diesem Verhältnis „ihre neue Beziehung zur Materialität der Welt“. In dieser Beziehung findet die Selbstvergewisserung in der Moderne statt, die Gumbrecht am seinerzeit zentralen Begriff der „Tat“ ausmacht. Demnach sollte die Tat weniger auf das Handeln an sich abzielen, als vielmehr auf „eine Selbsteinschreibung in bestehende Ordnungen“: „Nicht um Veränderung ging es in jener Gegenwart, sondern um eine Gewissheit der eigenen Existenz in ihrer materiellen Umwelt“. In anthropologischer Hinsicht konstatiert Gumbrecht überdies den bemerkenswerten Fakt, dass die Goldenen Zwanziger mit zahlreichen physischen Rekorden einhergingen, wie etwa mit dem Durchschwimmen des Ärmelkanals oder der Besteigung des Mount Everest. Diese Disposition erklärt sich aus der existentiellen Realität zur Todesnähe, die in den Extremsportarten virulent wurde und nun angesichts ihrer erfahrenen „Intensität in eine existentielle Ruhe umschlagen“ konnte. Dieser Umschlagpunkt zwischen Fast-Tod und Doch-Leben markiert eine „Rückkehr“ aus dem fast verschlingenden „Nichts“, die mit einem „Wiederfinden einer ursprünglichen Ordnung“ korreliert. Zurück aus dem „Nichts“ können wir uns wieder der Dinge versichern, über deren materiellen Zugriff wir uns unserer Selbst vergewissern. So gerät die Orientierung anhand der Dinge zur Orientierung des Selbst, das vor die Herausforderung seines eigenen Todes gestellt ist ohne die Option auf einen jenseitigen Kollektivbezug.

Titelbild

Friederike Felicitas Günther / Wolfgang Riedel (Hg.): Der Tod und die Künste.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2016.
418 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826055553

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