Neverending Troubadour

Bob Dylan wird 75. Ein Blick auf sein Lebenswerk

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Bob Dylan wird 75, und fast könnte man meinen, er hätte es sich in den vergangenen Jahren nach und nach auf dem Altenteil gemütlich gemacht. Mit Fallen Angels veröffentlicht er pünktlich zum Jubiläum ein neues Album, das, wie schon der Vorgänger Shadows in the Night, ausschließlich aus Coverversionen amerikanischer Standards besteht. Diese neu entdeckte Liebe sei, so Dylan in einer Erklärung zur Veröffentlichung vor zwei Jahren, ‚the attempt to uncover these songs’, sie also von der Staub- und Schmalzschicht zu befreien, unter der sie seit Jahrzehnten darbten; sie zu ihrem Ursprung zurückführen, sie auszuziehen und als das wiederzuentdecken, was sie in seinen Augen wirklich sind: ein Teil amerikanischer Kulturgeschichte. Daher sollten, wie auch Heinrich Detering in seinem ebenfalls gerade erschienenen Buch zum Spätwerk Dylans, Stimmen aus der Unterwelt, fordert, vorschnelle Kritiker vorsichtig sein, denn Dylan macht mit dem traditionellen Liedgut nichts anderes, als was er zuvor in den 1960er-Jahren mit dem Folk gemacht hat: Auch ihn hat er seinerzeit von einer dicken Staubschicht befreit, ihm die negativen Konnotationen entrissen, die ihn heimsuchten, und ihn für ein jugendliches Publikum neu kontextualisiert. Mit dieser durchaus nachvollziehbaren Herangehensweise kann man mitunter alles erklären und ins rechte Licht rücken, was der Meister macht; selbst nicht nur auf den ersten Blick erratisch wirkende Alben mit krächzend vorgetragenen Weihnachtsliedern.

Doch ein tieferer Blick auf die Karriere Dylans zeigt auch einen anderen, weitaus verwirrteren, mitunter unsicheren Musiker, dessen künstlerische Schritte bei Weitem nicht immer nachvollziehbar waren, auch von ihm selbst nicht. Und vielleicht ist es gerade das Mysterium, das aus seinem erratischen Verhalten entsteht – der Spagat zwischen großer Kunst und aus der Not geborener Banalität, jene Zerrissenheit, die Bob Dylan erst zu einem großen Künstler machen.

Als Robert Zimmerman Anfang der 1960er-Jahre nach New York kam, fand er schnell eine Heimat in der Folk-Revival-Szene. Die bestand aus jungen Menschen, die sich um ein Wiederaufleben der vergessenen Folk-Tradition Amerikas bemühten. Einige Jahre zuvor hatte Harry Smith mit seiner Anthology of American Folk Music ‚field recordings’ und Studio-Aufnahmen gesammelt und diese in einer umfangreichen Box veröffentlicht. Die Folk-Revival-Szene um Pete Seeger, Joan Baez und Dave Van Ronk entdeckte das aufrührerische Potential der Lieder, das ihr soziales Bewusstsein ansprach. Die Musiker gefielen sich in der Rolle der Mittler, die den jungen Menschen diese Lieder näherzubringen versuchten. Dylan stieß mitten in diese Szene hinein, wie Joan Baez in ihrem 1975 veröffentlichten Lied an den ehemaligen Liebhaber schrieb: „Well, you burst on the scene already a legend, / the unwashed phenomenon, the original vagabond“. Doch war es, wie man heute weiß, Dylan nie so ernst mit dieser Szene; er teilte nicht Baez’ und Seegers missionarischen Eifer, ihm ging es um etwas anderes, er benutzte sie auch als Mittel zum Zweck. Dylan entdeckte nämlich einen Weg, anhand der Verbindung von Folk und der gerade aufkommenden Rockmusik etwas vollkommen Neues zu schaffen. Und darin liegt sein gesamter Mythos begründet.

Dylans Texte vermittelten zunächst weiterhin eine dem Folksong implizite sozialkritische Botschaft, jedoch wagt er ab 1965 mit dem Einsatz elektrisch verstärkter Instrumente die seinerzeit skandalöse Verbindung von Folk mit dem musikalischen Universalismus der textlich bis dahin unbedarften Pop- beziehungsweise Rockmusik. Damit verleiht er dem Song kraft seiner lyrischen Aussage die Rolle eines verbindenden Elements zwischen intellektuellem Performer und einem jugendlichen, vom Rhythmus angelockten Publikum. Dies hat sowohl für die Folk- als auch für die Popmusik, vor allem für ihre bislang strikte Trennung, weitreichende Folgen: Das der Popmusik stets implizite identitätsstiftende Moment erhält mithilfe einer sprachlich artikulierten zeitkritischen Position einen Universalismus, da der Anschluss an das ästhetisch autonome, geschriebene Wort gesucht wird, das eigentlich im Folk zuhause ist.

Dieses von Dylan bereitete Feld erfährt im Laufe nur weniger Jahre einen steten Bedeutungszuwachs, begünstigt nicht zuletzt von einer radikalen Weiterentwicklung: Mit Dylans Abkehr von politischen Themen geht nämlich, und hier ist eine zweite revolutionäre Vorgehensweise sichtbar, eine verstärkte Zuwendung hin zu literarisch tradierten Stoffen und Motiven einher: Gedichte von den französischen Symbolisten Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire, von modernen Lyrikern wie T.S. Eliot, dessen Waste Land Dylan in Desolation Row rezipiert, von Bertolt Brecht, dessen Seeräuberjenny in When The Ship Comes In verarbeitet wird, halten Einzug in den Pop-Song. Der Songtext löst sich in der Folge auch bei Leonard Cohen, Joni Mitchell oder Bruce Springsteen (um nur einige wenige zu nennen) von seiner reduzierten Funktion als semantisch entleerte Begleitung von Popmusik beziehungsweise als reiner Vermittler einer gesellschaftskritischen Aussage und erhebt den Anspruch, ein autonomes Kunstwerk zu sein.

Die Folk-Revivalisten konnten diese Wendung nicht so nachvollziehen. Drei Momente des Widerstands gegen Dylans ‚Verrat’ der Folkideale sind dabei in die Annalen der Popmusik eingegangen und gelten gleichsam als magische Momente, die den Mythos Dylan entscheidend mitgeprägt haben. Erstens der Auftritt beim Newport Folk-Festival, auf dem Dylan plötzlich mit elektrischer Verstärkung in Form einer Rockband auflief und Publikum wie Mitmusiker schockierte. Angeblich soll Pete Seeger mit einer Axt hinter der Bühne gestanden haben, um die Stromkabel zu durchtrennen. Zweitens der Auftritt auf der England-Tour 1966 in Manchester, als aus dem Publikum der Ruf „Judas“ ertönte und Dylan antwortete: „I don’t believe you, you’re a liar!“, um sich wenige Augenblicke später zu seiner Band umzudrehen und zu fordern „Play fuckin’ loud!“. Drittens, weniger bekannt und trotzdem symptomatisch für das große Missverständnis innerhalb der Folkgemeinde: Joan Baez’ 1971 erschienener Song To Bobby, in dem sie Dylan auffordert, doch bitte wieder anzufangen, politische Songs zu schreiben und mit den ehemaligen Gefährten auf der Straße zu marschieren. Sie wisse ja, wo seine wahren Prioritäten liegen – und außerdem: „There is work to do!“

Dylan dachte gar nicht daran, seine Kunst zur Arbeit für die gute Sache zu degradieren. Nach einem nicht weniger mythenumrankten Motorradunfall zog er sich für den seinerzeit in der Popszene unfassbar langen Zeitraum eines Jahres aus der Öffentlichkeit zurück und lebte ein ruhiges Familienleben auf einer Farm nahe Woodstock. Zuvor war Dylan, als Folge jener Verschmelzung von Folk, Blues, Rock und Lyrik, zum Superstar geworden, er hatte mit Bringin’ it all back Home, Highway 61 Revisited und Blonde on Blonde drei revolutionäre Alben veröffentlicht, die bis heute das Fundament seines weit verbreiteten Rufs als größter Popmusiker aller Zeiten sind: Dylan verband Folk mit Rock und Blues, vor allem aber schrieb er Texte, die in erster Linie einen literarischen Anspruch verfolgten, ohne plakativ oder plagiatorisch zu wirken.

Zeitgenossen erzählen heute noch verwundert, wie die Kunst regelrecht aus ihm herauszusprudeln schien. So erinnerte sich die Singer-Songwriterin Judy Collins vor wenigen Tagen auf einem Deutschland-Konzert daran, wie sie nach einer Party im Haus von Dylans Manager Albert Grossmann von sanften Gitarrenklängen mitten in der Nacht erwachte, nach deren Quelle suchte und Bob Dylan fand: „Was machst du da?“, fragte sie ihn. „Ach, ich schreibe gerade einen Song“, antwortete dieser. Und der Song, den er da mitten in der Nacht nach einer durchzechten Nacht runterschrieb, war Mr. Tambourine Man – sofern man der Geschichte glaubt, die zu der Sorte Geschichten gehört, die den Mythos stetig füttern.

In Woodstock aber wollte sich Dylan von all jenen Fesseln befreien, von jenem Ruf des Messias, des Innovators, dem oft bemühten Titel ‚Stimme einer Generation’. Die Songs wurden, musikalisch wie textlich, simpler. Er veröffentlichte 1970 ein grauenhaftes Album mit Coverversionen und halbfertigen Songs, das er frech Self Portrait nannte und zu dem der renommierte Kritiker und spätere Dylan-Experte Greil Marcus seinerzeit schrieb: „What is this shit?“ Und doch ist gerade Self Portrait bei der Spurensuche nach dem wahren Gesicht Dylans, wie er im Titel des Album ja bereits offenbart, ein zentrales Indiz: Die Verwirrtheit, das Unentschlossene, der Hang zum Unfertigen, Fragmentarischen, nicht zu Ende Gedachten. Bereits in seiner Hochphase Mitte der 1960er-Jahre bestand Dylan mitunter auf schnellen Takes im Studio, und bereits damals wählte er, wie das im vergangenen Jahr erschienene Boxset mit Aufnahmen aus jener Zeit zeigt, nicht immer die besten aus.

Mitte der 70er begann die Trennungsphase von seiner Frau Sara, was ihm zu einem zweiten kreativen Frühling verhalf: Die Alben Blood On the Tracks und Desire waren noch einmal Meisterwerke; vor allem waren sie auch musikalisch zu Ende gedacht, große Kompositionen, gerade auf der, wie man so schön sagt, Mutter aller Trennungsalben, Blood on the Tracks. Doch was dann folgte, war noch erratischer als sein Verschwinden nach dem Motorradunfall: Ende der 70er konvertierte der Jude Bob Dylan und wurde zum ‚Wiedergeborenen Christen’; fortan spielte er Gospels und predigte von der Bühne über Erweckung und der Wiederkehr Jesu. Dazu nahm er drei Alben auf, denen man nur mit sehr viel gutem Willen ein Fünkchen Kreativität abgewinnen kann.

Zwar überlegte Dylan es sich bald anders, doch wie undurchschaubar sein kreativer Prozess weiterhin war, zeigt eine Anekdote zum ersten ‚regulären’ Album nach der Bekehrung, Infidels. Das Album enthält eher durchschnittliche bis schwache Songs, dabei hatte Dylan mit der Südstaaten-Ballade Blind Willie McTell eines der besten Stücke seiner Karriere geschrieben. Das wunderbar, gemeinsam mit Mark Knopfler arrangierte und aufgenommene Stück, dessen Sound meilenweit von der blechernen Inszenierung des Mutteralbums entfernt ist, wurde jedoch von Dylan ignoriert und ins Archiv verbannt. Erst Jahre später kam es auf dem ersten Teil der Bootleg Series an die Öffentlichkeit; gemeinsam mit anderen Songs der Zeit wie Carribbean Wind oder Foot of Pride, die dem meisten damals offiziell Veröffentlichten weit überlegen sind.

Doch es kam noch schlimmer: In den 1980er-Jahren verlor sich Dylan vollends im Sumpf synthetischer Klänge und nicht einmal halbgarer Songs. So, wie er Mitte der 60er mit seinen Alben eine wunderbare, künstlerisch herausragende Trilogie geschaffen hatte, schuf er nun zwischen 1985 und 1988 eine Trilogie des Grauens: Empire Burlesque, Knocked Out Loaded (mit Ausnahme des mit dem Dramatiker Sam Shephard geschriebenen, epischen Songs Brownsville Girl) und Down in the Groove markierten endgültig den Tiefpunkt im Schaffen Dylans. Er galt als erledigt, ausgebrannt, am Ende. Und hatte – wieder einmal – die rettende Idee: Dylan rief die Neverending Tour ins Leben, eine Tour, die, wie der Name schon sagt, immer weitergehen sollte. Kein branchenübliches Album-Tour-Album-Tour-Schema mehr, sondern einfach spielen, wie, wo und wann es sich gerade anbietet. Er wollte sich als Performer neu erfinden, wollte seinen alten Stücken neues Leben einhauchen, dem häuslichen Leben eines abgehalfterten Prominenten, dem er immer mehr verfiel, Lebewohl sagen. Die Tour hält übrigens tatsächlich bis heute an.

1989 nahm er mit dem U2-Produzenten Daniel Lanois mit Oh Mercy auch noch ein sehr gutes Album auf; als jedoch alle dachten, Dylan sei wieder in der Spur, verlor er sich erneut. Es folgte nur zwei Jahre später ein zwar von Don Was produziertes, aber dank extrem schwacher Songs – es handelt sich tatsächlich größtenteils um vertonte Kinderreime – schreckliches Album namens Under the Red Sky (doch auch hier sollte nicht übersehen werden, dass der Titelsong überragend ist, was im Zuge des missratenen Rests der Platte ziemlich unterging). Die Kritik setzte dem Künstler sichtlich zu, er plante also seinen nächsten, unerwarteten Schritt: Plötzlich und ohne Vorwarnung besann er sich auf seine Folk-Wurzeln, nicht auf die des Folk-Revivals, sondern auf viel, viel älteres Material, das ihn in seiner Jugend geprägt hatte: Er veröffentlichte zwei Alben mit Folk-Standards, staubtrocken unterproduziert, seinerzeit ein Skandal, heute, retrospektiv, für die meisten seiner Biographen die Stunde seiner Wiedergeburt. Und der Beginn seines Spätwerks.

Was ist zu diesem Spätwerk zu sagen? Dylan ist, das haben Forscher wie Heinrich Detering oder Sean Wilentz minutiös nachgewiesen, zum Meister der Collagentechnik geworden. Er jongliert spätestens seit seinem 2001 erschienenen Album ‚Love & Theft’ (die Anführungszeichen sind ein erstes Indiz) mit Zitaten aus der Weltliteratur, aus Sachbüchern, Filmen und aus der populären Musik, jedoch ohne jemals etwas zu kennzeichnen. Dylan bewegt sich in einem offenen Textuniversum, dessen er sich bedient, wie es ihm gerade gefällt. Dabei konstruiert er scheinbare Sinnzusammenhänge, die mal mehr, mal weniger Sinn ergeben, den Hörer beziehungsweise Leser jedoch zu einer detektivischen Suche nach den Quellen zwingen. Gesungen werden diese neuen, mysteriösen Songs auch nicht mehr von ‚Bob Dylan’, sondern von verschiedenen Figuren, Sprechern, meist anonym, meist keiner bestimmten Zeit zuzuordnen. Und doch, wie er auf die Frage eines Journalisten vor ein paar Jahren antwortete, als dieser ihn fragte, wer all diese Figuren seien, die seine neuen Songs erzählen, antwortete er: „Diese Figuren sind alle Ich.“

Man kann zu diesem Spätwerk stehen, wie man will: Einige sehen in ihm die Vollendung von Dylans Kunst, ein endgültiges Verschwinden hinter den Masken, die er ja zeitlebens immer wieder anprobiert hat. Das Verschwinden eines Künstlers, der die Weltliteratur in sich aufgesogen hat, der über ein enzyklopädisches Wissen verfügt, das es ihm erlaubt, diese Zitate immer wieder aus dem Ärmel zu schütteln. Andere sehen Dylans Kunst als willkürlich an, ein Zitieren nach Belieben ohne weitreichende Reflexion.

In den letzten Jahren hat sich der Meister zudem, wie anfangs angesprochen, aufs Covern alter Standards verlegt. Musik, die er vielleicht in seinen jüngeren Jahren vehement abgelehnt hätte, Musik von Menschen jedenfalls, gegen die er und das Folk-Revival künstlerisch angekämpft haben. Warum? Wo ist der tiefere Sinn? Vielleicht ist es tatsächlich einfach der Spaß an der Sache; die Freude mit einer hervorragend und seit Jahren eingespielten Band zu musizieren, sich treiben zu lassen in ihrem rhythmischen Sog. Dylans Konzerte in den letzten Jahren bestätigen diesen Eindruck: Da steht ein alter Mann ohne ihn schützende Gitarre, gibt den Conferencier (freilich ohne ein Wort an das Publikum zu richten) und singt locker-leicht seine Lieder, während seine Band die mühsamere Arbeit verrichtet. So kann man getrost eine Neverending Tour noch lange weiterführen und sich selbst gebührend feiern. Verdient hat er es allemal.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz