Ästhet und Provokateur

Harro Zimmermanns Biografie über den Publizisten, Kritiker und Nazi-Karrieristen Friedrich Sieburg

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Literaturkritiker werden – sieht man einmal von Marcel Reich-Ranicki ab – eher selten Biografien geschrieben. Umso ungewöhnlicher daher der Fall Friedrich Sieburg: Über diesen Kritikerpapst der Adenauer-Ära (1893–1964) ist innerhalb weniger Jahre nun schon die dritte Lebensbeschreibung erschienen. Und das obwohl nur noch wenige Leser seinen Namen kennen dürften und gerade einmal ein Buchtitel von ihm lieferbar ist. Warum sollte man sich ausgerechnet mit diesem Kritiker beschäftigen und nicht, sagen wir, mit Alfred Kerr?

Weil Sieburg – von Ernst Jünger als „Weltjournalist“ gerühmt, von Alfred Andersch dagegen als „größte, stinkende Kanalratte“ des Literaturbetriebs geschmäht – zu den interessantesten und schillerndsten Persönlichkeiten gehört, die es im 20. Jahrhundert gegeben hat, wenn man sich mit der Geschichte der Intellektuellen in Deutschland im Banne der Macht befassen will. Für Harro Zimmermann, ehemaliger Literaturchef von Radio Bremen und Verfasser der jüngsten Sieburg-Biografie, gehört der Kritiker sogar zu den intellektuellen Mitbegründern der Bundesrepublik: „kraft seiner beharrlichen Streitlust, seines Memorialfurors und seiner normativen Stilbrillanz trug der Intellektuelle Friedrich Sieburg wesentlich dazu bei, dass sich im Nachkriegsdeutschland, über manche politische Hysterie hinweg, ein reißfester, selbstreflexiver und zunehmend weltoffener Zivilgeist entwickeln konnte.“

Zimmermanns kenntnisreiche Lebensbeschreibung zeigt: Im „Banne der Macht“ stand der aufstiegshungrige Sieburg sein ganzes Leben. Schon früh fühlte sich der 1893 geborene Sohn eines Eisenbahnbeamten, aber eben auch einer adligen Mutter, zu Höherem berufen: Als Student buhlte er mit symbolistischen Gedichten um die Gunst Stefan Georges, seines „Meisters und Herrschers“, und durfte im elitären George-Kreis verkehren. Weil sich der junge Sieburg aber als ‚Unwürdiger‘ entpuppte, wurde er bald schon mit Schimpf und Schande davongejagt.

Nach 1918 verwandelte sich der Kriegsheimkehrer vom Lyriker zum Journalisten und Publizisten: Sieburg schrieb in den Weimarer Jahren für das berühmte Feuilleton der Frankfurter Zeitung, neben klangvollen Namen wie Siegfried Kracauer, Walter Benjamin oder Joseph Roth. 1926 ging Sieburg als Korrespondent nach Paris – und entdeckte vom Ausland aus, sozusagen parallel zum Aufstieg der Nazis, sein Deutschtum in sich: „Das deutsche und das französische Wesen verkörpern zwei verschiedene Arten des Menschseins – nicht die einzigen Arten, aber die beiden Pole.“

So heißt es schon 1929 in „Gott in Frankreich?“, dem Buch, das Sieburg berühmt machte. Pünktlich zur Machtübernahme Hitlers träumte der Publizist dann unter dem Titel „Es werde Deutschland“ von der konservativen Revolution. Als Kollegen wie der Theaterkritiker Alfred Kerr nach 1933 fliehen mussten, setzte Sieburg seine Karriere nahtlos fort, und zwar ausgerechnet in der Emigrantenstadt Paris. Von seiner Luxuswohnung am Place du Panthéon aus brauste er mit seinem weißen Sportwagen von Salon zu Salon und lobte Hitler als Friedenskanzler; seine geflohenen Landsleute waren für ihn nur „hochverräterische Ignoranten der großen Weltverwandlung“. Genoss Sieburg schon zuvor einen zweifelhaften Ruf als Opportunist, beschimpften ihn nun Emigranten wie Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger als „Agenten des Propagandaministeriums“. Eine Rolle, die Sieburg 1939 sogar ganz offiziell einnahm, als er unter Hitlers Außenminister Ribbentrop in den diplomatischen Dienst wechselte: Im inzwischen besetzten Paris erklärte er französischen Intellektuellen, warum allein der deutschen Kultur die Zukunft gehöre.

Nach 1945 gab sich Sieburg geläutert: Als einer der ersten und lautesten forderte er die Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Persönlich wollte er freilich ebenso wenig das Büßerhemd anziehen wie ein Gottfried Benn oder Ernst Jünger. In seiner ersten Buchpublikation nach dem Krieg, „Unsere schönsten Jahre“ (1950), schrieb er: „Ich verhalf einer Zeit zum Aufstieg, die sich selbst mit Blut und ihre Opfer mit Schmutz bedeckte. Aber ich wusste, dass ich nicht ihr Schöpfer, sondern nur ihr Zeuge war.“

Sein Biograf beschönigt nichts: Für Zimmermann ist Sieburg „eben nicht nur der brillante Autor und kultivierte Intellektuelle, sondern auch ein gewiefter Mitläufer, der seine privaten und beruflichen Interessen genau im Auge hat und dafür ein – oft selbstquälerisches – hohes Maß an Tarnungs- und Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellt.“ Trotzdem sei Sieburg differenzierter als bislang zu beurteilen, sei er doch weder ein Antisemit noch ein Nazi gewesen, auch den Krieg habe er nicht gewollt, sondern sei in die Diplomatie gegangen, weil er gehofft habe, dort, ähnlich wie Gottfried Benn in der Wehrmacht, eine Art aristokratische Form der Emigration zu finden: „Nähe und Distanz Sieburgs zum Nationalsozialismus bleiben letzten Endes nicht vollkommen aufklärbar, ein gewiefter, oft ergebener Mitläufer ist er gewesen, ein genuiner Nazi zu keiner Zeit.“

Der menschliche Preis, den Sieburg für seine Karrieregeilheit zahlen musste, war hoch. Umso mehr als auch für ihn die von Hitler angezettelte Katastrophe immer sichtbarer wurde: Carl Zuckmayer ging 1938 ins Exil und sah, als er den Journalisten in Paris traf, einen Suizidkandidaten vor sich; Sieburg sei voller Verzweiflung, Ekel und Scham gewesen: „Er [Sieburg] war totenblass, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Hände zitterten, er wirkte wie ein Selbstmörder. […] Hier war wirklich ein Mann mit seinem Teufel konfrontiert. Er trank viel Cognac, obwohl er in der Nacht noch einen Leitartikel schreiben musste und verabschiedete sich plötzlich in einer hektischen und fast betrunkenen Wendung – mit einer Umarmung […] und einem geflüsterten: ‚Mensch, wie ich Dich beneide.‘“

In der Nachkriegszeit sollte Sieburg das Stigma seiner Nazi-Vergangenheit nicht mehr loswerden; für Arno Schmidt etwa war er ein „Lump“ und „Arschloch“. Das war aber nicht der einzige Grund, warum der inzwischen zum Literaturchef der FAZ Avancierte zum erklärten Feind der jungen Autoren wurde. Vertreter der Gruppe 47, die von einer „Stunde Null“ in der Literatur sprachen, waren für Sieburg nur „aalglatte Schwätzer“: „‚Namen nennen‘, hört man hier deutlich rufen, worauf man nur sagen kann: ‚Alle‘.“

Die so Gescholtenen revanchierten sich auf ihre Weise: Im Winter 1960/61 erhielt Sieburg tagelang per Post Gartenzwerge zugesandt – wohl aus Spott über seine vermeintlich zipfelmützigen Literaturideale. Solche Generationenkonflikte sind in der Literaturgeschichte natürlich nicht ungewöhnlich und halfen auch in diesem Fall beiden Seiten bei der Profilschärfung. Und doch stellt sich die Frage, ob die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur nicht auch anders hätte laufen können – mit einem Friedrich Sieburg als eine Art Mentor der „Gruppe 47“, denn es gab eine ganze Reihe von ähnlichen Einschätzungen, wie Zimmermann betont. So sei Sieburg ein großer Verehrer der radikalen Moderne und aufmüpfigen Literatur der 1920er-Jahre gewesen und habe für die Anarchie des Intellektuellen und eine Literatur mit gesellschaftlichem Protestpotenzial plädiert: „all das hätte ihn eigentlich in die Nähe der Gruppe 47 führen müssen“. Statt dessen habe Sieburg sehen müssen, wie die Gruppe 47-Autoren die Tradition ablehnten und einen radikalen Neuanfang wollten, was Sieburg „vollkommen zuwider“ war, so Zimmermann. 

Sieburgs Vorwurf an die jungen Autoren, sie seien nur machthungrige Karrieristen, würde ein Psychoanalytiker wohl als Projektion deuten. Dennoch sei Sieburgs Bedeutung für die kulturellen Debatten der Adenauer-Zeit bislang unterschätzt worden, glaubt Harro Zimmermann und bezeichnet den selbstverliebten „Ästheten und Provokateur“ als „intellektuellen Mitbegründer der Bundesrepublik“, dessen Bücher es verdienten, wiederentdeckt zu werden. Gerade Sieburgs nach 1930 entstandenen Werke wie seine Studie über „Robespierre“ oder sein Reisebericht „Neues Portugal“ seien „Erkundungsfahrten im geschichtlichen Vorhof des Totalitarismus“ gewesen, angetrieben von einer aufregenden „Genauigkeitsfantasie“.

Entsprechend zitierfreudig und quellennah ist Zimmermanns verdienstvolle Sieburg-Biografie geschrieben. Die Lust, neben dem Leben auch das Werk dieses schillerenden Geistesaristokraten wiederzuentdecken, vermag sie aber nicht zu wecken: Nicht nur weil Sieburgs „leidenschaftlich hoher Ton“ auch heute noch reichlich verzopft anmutet. Sondern auch weil Zimmermann die Reflexionen und Positionen dieses Kritikers mit buchstäblich erschöpfender Ausführlichkeit rekonstruiert.

Titelbild

Harro Zimmermann: Friedrich Sieburg – Ästhet und Provokateur. Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
488 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317222

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch