Eine unglückliche Liebe

Wolfgang Koeppen und Sybille Schloß

Von Hiltrud HäntzschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hiltrud Häntzschel

I. „Ihrem Gesicht verfallen zu sein, bedeutet den Untergang.“

Am 5. September 1933 kann man im Feuilleton des Berliner Börsen-Couriers einen kleinen Essay lesen mit dem Titel: Die Furchtbarste. Beim Anblick der Sybillen des Michelangelo. Verfasser ist der zur Redaktion gehörende Journalist Wolfgang Koeppen. Die fünf weiblichen Gestalten im Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle in Rom, die Sibyllen, sind den Propheten zugesellt. Diese gehören der alttestamentarischen Religion an, die Sibyllen entstammen heidnischen Kulturen. Beide besitzen sie die Gabe der Weissagung, nach Übereinkunft der Kunstgeschichte ist ihre Rolle in der Bildwelt des Deckenfreskos die Verheißung der Erlösung durch Jesus Christus. Der Autor des Feuilleton-Textes legt etwas ganz anderes in diese Sibyllen, etwas Bedrohendes, Furchterregendes. Am furchtbarsten aber erscheint ihm weder die kolossale, finstere, martialische Gestalt der cumäischen Sibylle, auch nicht die persische und die lybische (von der erithräischen ist nicht die Rede), sondern die delphische:

Ganz aber wie von Sonnenlicht umflossen, lieblich beinahe und wärmend, bietet sich die delphische Sybille dem Auge an. Sie scheint ohne Fehler zu sein, zart gegliedert, jung, ein Kind fast noch und offenen Blicks den scheuen Blick des Fragenden erwidernd. Und doch ist sie die furchtbarste der Sybillen! […] Sie ist ein Kind und sie ist schön. Die Amerikaner sprechen verzückt von ihrem Engelsantlitz, das keinem eine Hoffnung bietet. Es macht ihr Spaß zu täuschen und zu trügen aus einer Lust heraus, die durchsichtig ist und klirrend zerbrechlich wie Glas. Ihrem Gesicht verfallen zu sein, bedeutet den Untergang. Das Liebliche verfolgt. Und leicht kann es einem Herrn aus New York passieren, daß ihre Augen ihn schrecken bis in die Untergrundbahn unter den Wolkenkratzern seiner Stadt, wenn er dort nach einem Tag schwerer und nicht Verlust bringender Geschäfte eine Erscheinung sieht, die im Erinnern ihn versteinern läßt.

Was, wen hat der Verfasser da gesehen? Welches Engelsantlitz, das ihm keine Hoffnung bietet? Dem er verfallen ist, rettungslos? Das Antlitz einer anderen Sibylle – das der Schauspielerin Sybille Schloß.[1]

Er weiß, wovon er spricht, er hat die Tragödie schon hinter sich, dem Untergang ist er nur knapp entkommen.

Wolfgang Koeppen, der schüchterne, wohl auch ein wenig gehemmte Zwanzigjährige aus dem provinziellen Greifswald lebt seit 1927 im „gelobten Land“, in Berlin, voll hochfahrender, großartiger Pläne. Schriftsteller will er werden, allenfalls Dramaturg. Das Leben kennt er bislang nur aus der Literatur, auch die Liebe. Im Übrigen ist er nahezu am Verhungern. Die Literatur und das Leben sucht und findet man im legendären Romanischen Café, dem Tempel im gelobten Land, „da schien mir der Tempel zu strahlen, wie mein Verlangen es mir verkündet hatte, ich lauschte den Dichtern und Philosophen, hörte den Malern und Schauspielern zu, […] ich liebte die Anarchisten und die anarchischen Mädchen, die bei ihnen saßen […].“[2] Wie die Kamera mit dem Zoom ist Koeppens Text Ein Kaffeehaus auf die Szene zugefahren, auf Sybille Schloß, die anarchische Siebzehnjährige.

Sybille Schloß ist 1910 in München geboren, das Kind einer illegalen Leidenschaft. Der Vater Karl Schloß, Sohn eines jüdischen Fabrikanten aus Alzey, Literat und Lyriker, hatte eine Liebesbeziehung zur geschiedenen Frau seines Freundes und Dichterkollegen Wilhelm Michel. Die 28jährige war bereits Mutter von sechs Kindern, als die Halbschwester Sybille zur Welt kommt. 1933 muss Sybille Schloß als sogenannter Mischling emigrieren und lebte vor ihrem Tod im Jahr 2007 in New York. Sie erzählte gerne in ihrem charmanten Emigrantendeutschenglisch, wie sie als kecke Sechzehnjährige im September 1926 auf eine Anzeige in der Literarischen Welt stieß, jener von Willy Haas herausgegebenen Berliner literarischen Wochenzeitung, die Filmeleven zu Probeaufnahmen suchte, und bei Eignung mit einem Engagement lockte.

Ich hab mich da drauf gestürzt und da hab ich ein großes Foto geschickt und hab dazugeschrieben an Willy Haas: ich denke, dass ich ausgezeichnet bin für Filme, denn ich bin vollkommen hemmungslos, Und dann hab ich gedacht, der wird mir nicht antworten, ich muss da hinfahren. So hab ich zu meinen Eltern gesagt, ich fahr nach Berlin. Was? Hab ich gesagt, ja, ich fahr nach Berlin. Und bin hin und bin gleich zur Redaktion gegangen und der Willy Haas war so aufgeregt und da ist er rumgelaufen ‚die Hemmungslose ist da, die Hemmungslose ist da’ und alle haben sie mich angeguckt und so bin ich da hingekommen.[3]

Sie wird für einige Zeit Haas’ Geliebte und lernt rasch die entscheidenden Leute kennen. Wohl durch Vermittlung von Gustav Gründgens findet sie Aufnahme in die Max Reinhardt-Schauspielschule, zu den Freunden zählen Wilfried Seyferth, erfolgreicher Filmheld in den 30er und 40er Jahren, und Wolfgang Koeppen; später stößt Herbert Kluger dazu.

Sie hat kleine Filmrollen, im Juli 1931 strahlt ihr verführerisches Porträt auf Scherls Magazin, einer auflagenstarken Illustrierten in der Weimarer Republik, vom Zeitungskiosk.

Ihr, dieser unbeschreibbar Schönen, ist Koeppen rettungslos verfallen.

Komisch. Es gelingt mir nicht. Ich möchte von dir erzählen, möchte eine Geschichte über dich schreiben […]. Es gelingt nicht. Schon der erste Satz sprengt die Form, so harmlos er auch beginnt. ‚Sybille winkt’. Es geht nicht. Ja, wenn es ein Mädchen wäre, irgend eine, die da winkt – die Geschichte würde von selbst sich schreiben. Was ist nicht von einem Mädchen aus zu beginnen? Wir könnten sie leben oder sterben lassen nach dem strengen Gesetz des literarischen Zufalls. Aber Sybille? Das geht nicht.

———-

’Sybille winkt’! Gehen wir vom äußersten aus, dem Tuch, mit dem sie winkt, und gleich begreifen wir erschreckt, dass es ja ihr Tuch ist, mit dem sie winkt, dass ihre Hand es ist die es hält, und Tuch und Hand bereiten schon die Schauer, die weit, weit über eine Geschichte hinaus wirken.

———-

Sybille winkt, wie winkt sie denn – Ja, das zu gestalten wäre Titanentat und Geniewerk, der Rausch der Schöpfung und der Rausch des Wahns. Wie winkt Sybille von den Fingerspitzen (Buch der Finger) bis zum Herzen? Der Arm, nein erst die Hand und dann der Arm, also die Hand, der Arm, der Hals (Blaue Adern), der Leib, der Kopf darüber und die Glieder in Verbundenheit, dazu das Blut, der Nerv, der Trieb, der winken lässt (o Bücher, Bücher, Bücher von den Teilen) und plötzlich, endlich: die Gestalt! Du! Marmorne Form und voll Leben! Statue, die d u  b i s t, die man fassen kann wie den gehauenen Stein der Meister (Michelangelos Stein, Rodins Stein, Lehmbrucks Stein), und die dann doch sich löst und schmiegsam ist, ein Kälbchen, ein junges Pferd, leichter Rotz unter der Nase und ein trockenes Fell, das dich zusammenhält.

Liebe Sybille.[4]

Das Konvolut ‚Sybille’, das Koeppen lebenslang aufbewahrt hat, offenbart ein Liebesdrama. Die Angebetete lockt und entzieht sich, flirtet und erhört ihn nicht, verspricht die nächste Nacht und überlegt es sich wieder anders, macht den Liebestollen mit anderen Männern rasend.

Sein Begehren ist von einer Zähigkeit, die die Grenze der Selbsterniedrigung weit überschreitet. Der Liebeskranke, der so unbedingt Dichter werden will, liebt und schreibt, leidet und schreibt, tobt und schreibt: winselnde Briefe, der er nie abschickt, Rechtfertigungen, furiose Anschuldigungen, zerknirschte Selbstprüfungen. Die Handschrift gerät immer wieder außer Kontrolle, vieles ist nicht entzifferbar.

Sybill, ich habe diese Nacht geschrien! Gebrüllt! Ich kann nicht reisen! Mein Leben ist restlos zerstört! Bedenken Sie, 22 Jahre alt und total erledigt sein! Ich laufe als Ruine rum. Nie kann ich irgend einen Menschen lieben! Ich kann keine Zeile schreiben! Ich fühle mich elend und unwert! Ich kann nicht weiter leben, wenn Sie mich nicht retten! Geben Sie eine klare Antwort: wenn ich diese Nacht in Erfüllung Ihres Wortes zu Ihnen kommen darf, können Sie es ertragen ohne tragisch erschüttert für immer zu sein! Wenn ja, flehe ich Sie an, mir dies zu gewähren und froh und sicher werde ich reisen! Wenn nicht, Sybill auch dann liebe ich Sie, ist es aus mit mir! Entscheiden Sie klar und bestimmt![5]

Die alte Dame in New York verneint heftig die Frage nach irgendwelchen Erfolgen des rasend Liebenden bei ihr:

Geküsst? Nein, nein nein, es kam gar nicht in Frage. Da war something revolting für mich. Ich weiß es nicht, warum, ich hab keine Ahnung, aber es war da und es war nicht zu überwinden. Ich habe nicht daran gedacht, mit ihm ein Verhältnis anzufangen. Ich war ja ein sehr junges Mädchen, das hat mir ganz gut gefallen, dass da einer so verrückt war nach mir, ich war mir vielleicht nicht völlig bewußt, wie stark und gefährlich das war für ihn. Und war mir auch wurscht wahrscheinlich.[6]

———-

Sybill,

Sie haben gesiegt! Ihre prügelwerte Rohheit der Freitagnacht, schlägt mich in die Flucht.

Ich liebe Sie, Sybill, trotzdem.[7]

———-

Ich kann nicht mehr klar denken. Ich knirsche nur noch die Zähne! Ich bin im höchsten Grade blutvergiftet. Es geht dem Ende zu! Nie wurdest du mehr geliebt, begehrt!

Meine verfluchte völlige Geldlosigkeit und die Reizbarkeit eines leeren Magens lassen mich die nächsten Tage nichts Glückliches unternehmen. Ich werde wahrscheinlich erst nach dieser Periode wieder in Erscheinung treten. Ich werde aber, und das bestimmt, heute, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag jeden Abend von 11 –12 hoffen.[8]

———-

Wird sie ein Engel sein und noch kommen zu mir heut nacht?

Nein. Montag 10.VI.[9]

Es scheint ihm ans Leben zu gehen. Wenn er daneben stehen muss und zusehen, wie andere sie umarmen, arglos küssen, wird ihm die Eifersuchtsqual unerträglich:

Mir, der ich in zerquältesten Stunden brennend liege im lechzenden Durst nach einem Kuß von Dir (der mir nie gestillt wurde!), mir, dem täglich vielmal die Wunschvorstellung erbeben lässt, Deine Hand zu halten, meinen Arm um Dich legen zu dürfen, mir, dem aber im Gegenteil die leichteste zarteste Berührung (die schon in der Bewegung stecken bleibt) kränkendst verübelt wird, mir können nicht mehr diese Gewährungen, anderen zugedacht, „harmlos“ erscheinen[…]

Und dann schwächt so enorm und macht nervös das sichere Wissen um die Hoffnungslosigkeit meiner Bemühungen. Es wird Dir einfach nicht möglich sein, Dich zu ändern, solange ich mich nicht ändere. Erst wenn ich aufhören würde, Dich zu lieben, wenn Deine Existenz mit gleichgültig würde, dann erst – zu spät –, halte ich es für nicht ausgeschlossen, dass Du aufhören würdest, mich nicht zu lieben. Das ist wohl Schicksal und ich kann nichts dazu tun!

Deine Antwort wird Schweigen sein; ich liebe Dich.[10]

Es ist die Paradoxie einer Liebe, die ihm zum Grundmuster wird, die sich in seiner späteren Ehe wiederholt und manifestiert in der immer wiederholten Formel „leider liebe ich dich“ oder „ich liebe dich – dennoch“.All diese Notate, angefangene, nicht abgeschickte Briefe, sind so weit sie entzifferbar sind, todernst im wörtlichsten Verständnis, keine Spur von Ironie – aber von Literatur.

II. „Ich liebte damals nach Büchern“

Dieses Bekenntnis stammt aus Koeppens Essay Die Beschwörung der Liebe und gilt dem Thomas Mann des Tod in Venedig.[11] Wie genau er nach Büchern fühlte und liebte, zeigt ein Blick in seine bevorzugten Lektüren dieser Jahre.

Der junge Koeppen findet sich und die spröde Geliebte wieder in Friedrich Rückerts Sonettenkranz Amaryllis von 1813.[12] „Ich war glücklich, Amaryllis zu begegnen, als ich jung war und litt“, bekennt Koeppen in seiner Interpretation des 6. Sonetts für die Frankfurter Anthologie 1978. „Die Strophen gingen mir ein, stiegen aus dem Herzen, berauschten den, der schon vergiftet war. Amara, die Liebste, die Liebe, so bitter wie vor hundert Jahren. Das Sonett von Rückert war 1930 ein modernes Gedicht, es ist es heute und wird es morgen sein; zeitlos in seiner Bitterkeit und Süße.“[13] Amara – die Bittere, gilt seit der antiken Lyrik als Verkörperung der Schönen und der Spröden, die das Werben des Liebenden nicht erhört, sie gilt zweitens als Zauberin. Und in ihrer dritten Bedeutung ist die Blume Amaryllis „zugleich die natürliche Schönheit, um die der gelehrte Dichter wirbt.“[14]

Amara, bittre, was du tust ist bitter,
Wie du die Füße rührst, die Arme lenkest,
Wie du die Augen hebst, wie du sie senkest,
Die Lippen auftust oder zu, ist bitter.

Ein jeder Gruß ist, den du schenkest, bitter,
Bitter ein jeder Kuß, den du nicht schenkest,
Bitter ist, was du sprichst und was du denkest,
Und was du hast, und was du bist, ist bitter.[15]

Wir begegnen in diesem Gedicht Zeile für Zeile Koeppens Erfahrungen aus den späten zwanziger Jahren und hören Rückerts Ton durch die flehenden Ergüsse Koeppens. „Wahrlich ein leidenschaftliches Werk,“ setzt der Interpret fort und spricht, als ob er seine damalige Erfahrung mit Sybille Schloß rekapituliere, „der Monolog, die Raserei des Liebenden, in Liebe Gefallenen, Gefesselten, mit Liebe Geschlagenen. Ihm ist etwas widerfahren, gegen das er tobt und doch sich nicht wehren möchte. Er klagt liebend gegen eine Nichtliebende, vielleicht nicht einmal Liebenswürdige. Er macht sich über die Spröde keine Illusionen und könnte nicht ohne sie leben.“[16] Koeppen soll Sybille auch den Namen Amaryllis gegeben haben.

Zurück zu den Texten der ‚Sybille’-Mappe: Fortgesetzt gibt Koeppen den Wörtern, die ihm zu schwach dünken, durch Sperrung oder Unterstreichung Nachdruck, jeder zweite Satz endet mit einem Ausrufezeichen oder mit zweien. Abgerissene, elliptische Sätze, rhetorische Reihungen, Wiederholungen. Das Muster ist unverkennbar: Es ist die 0-Mensch-Rhetorik des Expressionismus. Aber nicht nur die Sprache ist Expressionismus, auch das Lebensgefühl und die Liebe. Koeppen hat die literarischen Initiationserlebnisse – nach dem Kinderglück durch die Märchen, die ihm die Mutter vorgelesen hatte – als Jüngling bei der Lektüre expressionistischer Dichtung erfahren: „Mein Gesangbuch waren die schwarzen Hefte der expressionistischen Dichter im ‚Jüngsten Tag’“[17] des Kurt Wolff Verlages. Die Hefte finden sich zuhauf in seinem Nachlass: von Gottfried Benn, Walter Hasenclever, Franz Werfel, Franz Kafka, Oskar Kokoschka. Der Expressionismus als Stilrichtung (und viele seiner Vertreter) sind mit dem ersten Weltkrieg untergegangen; um das Jahr 1929, in dem wir uns jetzt befinden, hat sich auch die Neue Sachlichkeit schon wieder erledigt, ist das kulturelle Klima in Deutschland politisch aufgeladen und extrem polarisiert. In allen Straßen Berlins wird die Dreigroschenoper gepfiffen. Nichts davon in Koeppens ‚Sybille’-Mappe, die Notate scheinen wie aus der Zeit gefallen. Wie anhaltend prägend für Koeppens Kunstverständnis und für sein Schreiben allerdings der Expressionismus am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde, hat Koeppen immer wieder betont, sein literarisches Werk beweist es durchgehend.

Koeppens jugendliche Faszination für den Expressionismus ist noch über einen anderen Autor vermittelt, einen Autor des 19. Jahrhunderts: Gustave Flaubert. 1924 hat Koeppen Gustave Flauberts Roman November gelesen, ein Werk des 20jährigen Autors, das erstmals 1910 mit den Œuvres complètes veröffentlicht wurde. Ein Werk extremster Gefühlslagen, mit der totalen Desillusionierung eines ungestümen Jünglings beginnend, die sich in der kalten absterbenden Novemberlandschaft spiegelt, aufsteigend zu rasender Leidenschaft und Wollust, steht es für einen radikalen Expressionismus. Die erste deutsche Ausgabe von 1916 aus dem Kurt Wolff Verlag befindet sich in Koeppens Nachlass.

Ich war achtzehn, als ich die Memoiren eines Jünglings las und nicht aufhörte, das Buch November zu lieben […] das begeisterte mich so, daß ich ewig mit seiner Melancholie, der Todeserwartung und Sehnsucht und den Träumen von Liebeslust sein wollte. […] Mein Entzücken, meine Lesefreude war naiv. Ich fühlte mich angesprochen und endlich verstanden.[18]

So beschreibt Koeppen seine frühe Lektüreerfahrung zu Flauberts 100. Todestag am 7. Mai 1980. „November entsprach meiner zerrissenen Jugendstimmung und meiner eigenen Revolte gegen die etablierte Gesellschaft.“[19]  Bei den „Memoiren eines Jünglings“, die Koeppen hier erwähnt, handelt es sich um die nicht für die Veröffentlichung bestimmte und ebenfalls posthum (1900/01) erschienene Erzählung Mémoires d’un fou , die Koeppen vermutlich in der Übersetzung mit dem Titel Erinnerungen eines Narren in den zwanziger Jahren gelesen hat. Als Koeppen im Winter 1925/26 nach dem Tod der Mutter einige Monate in Greifswald verbrachte, kam ihm seine Verzweiflung und sein Weltschmerz wie ein Echo aus diesen Flaubert-Texten entgegen. Der zu Koeppens Lebzeiten unveröffentlichte Text Der Tod meiner Mutter Maria von 1926 ist ganz deren Vorbild geschuldet, sowohl in der Thematik wie in der Diktion: bei beiden das Bewusstsein des Besonderen und das pathetische Auskosten des Scheiterns hochfahrender Jugendträume noch vor dem Leben. „Als Kind habe ich von der Liebe geträumt; als junger Mann vom Ruhm; als Mann vom Grab – jener letzten Liebe derer, die keine mehr haben.“[20] Koeppens Text intoniert schon im Auftakt das Echo auf Flauberts November: „November war es, als das Leiden begann: es kamen die Schmerzen.“ Und noch einmal huldigt er dem Vorbild Flaubert: „November war es, Schneeflocken zogen den Himmel entlang, als man Dich in die Erde senkte.“[21] Die desillusionierte schmerzhafte Rückschau des 20jährigen Koeppen auf das Leiden und Sterben der Mutter mündet in eine Elegie auf das Scheitern der eigenen Träume in Berlin und ist von Flaubert-Formulierungen gesättigt:

Ich wollte Alles dort erringen. Wahr sollten alle Träume werden. Und ich habe nichts gewonnen als neue Träume in Stimmungen in der Stadt. Ich habe obdachlos, von Fieber geschüttelt, im Schneetreiben gefroren, bin durchnäßt und hungrig durch die jagenden Straßen getaumelt, habe geweint über einen Hund, der überfahren wurde, über Larven, die „Prost Neujahr“ schrien, über blinde Bettler, über die ganze Welt und über mich in kalten, fremden Zimmern. Und ich habe Verse geschrieben. [Bei Flaubert heißt es: „Ich habe gelesen, ich habe gearbeitet mit der Inbrunst der Begeisterung, ich habe geschrieben. Ach! Wie war ich glücklich da!“[22]] Habe im romanischen Café mich erwärmt am Leben. Habe mich an blanken, in Sonne blitzenden Automobilen erfreut. Habe voll Lust schönen Kindern zugelacht. Und habe meinen großen schwarzen Hut gezogen vor alten, müden Droschkenpferden. Und viele haben über mich gelacht. Du aber warst um mich in allem, ich dachte Dich überall. Dann war ich, im realen Leben, nichts in Berlin als ein ewig Schiffbruchleidender, ein Alles-Besitzloser. Mußte zurück nach Greifswald in die Wohnung, die Du Dir schufst, aus der Du gingst und die nun die meine. Quälen aber tun mich die Menschen, die mich umgeben hier. Doch schön ist der alte Friedhof, wo Dein Grab.[23]

Was Flaubert Koeppen vorgelebt und vorgedichtet hat, ist das Begehren nach der Liebe: „Ich wurde bald von dem Verlangen zu lieben gepackt, ich wünschte die Liebe mit einem unendlichen Gelüste herbei, ich träumte von ihren Qualen, ich war jeden Augenblick auf ein Stechen gefaßt, das mich mit Freude erfüllt hätte.“[24]

Die Liebeskonstellation in Flauberts November ist eine andere als in Koeppens erlebter Geschichte mit Sybille Schloß, d.h. die Vorzeichen sind verkehrt. Bei Flaubert wird das Liebesbegehren erfüllt, der nach der Liebe sich verzehrende, schüchterne Jüngling erlebt mit der Prostituierten Marie leidenschaftliche Hingabe und Wollust. Einen großen Teil der Erzählung macht der Lebensbericht dieser Marie aus, die von Liebhaber zu Liebhaber weitergereicht, sich rasend und verzweifelt nach der wahren, nach einer ebenbürtigen, hingebenden Liebe verzehrt und in diesem Jüngling findet, ein einziges Mal: „Ich habe sie nicht mehr wiedergesehen.“[25] Für Flauberts Helden folgt eine Zeit öder Vereinsamung, dann reist er orgiastisch durch exotische Länder auf der Suche nach dem Vergessen und stirbt am Ende an seinem Gram. Das Gemeinsame dieser literarischen Liebe mit Koeppens Liebe (zumindest in ihrer literarischen Hinterlassenschaft) ist das Begehren nach ihrer absoluten Form. „Der Typ, nach dem fast alle Männer suchen, ist vielleicht die Erinnerung an eine im Himmel oder in den ersten Tagen des Lebens erdachte Liebe; wir sind auf der Suche nach allem, was sich darauf bezieht.“[26] Gemeinsam ist ihnen das steile Pathos, hier wie dort „die Welt der großen Leidenschaften und der schönen Tränen“.[27] Man bedenke, wir sind im Jahr 1929!

Oder Marcel Proust: Koeppen liest Proust und findet sich auch hier wieder: „Der Erzähler könnte aufhören, er hat vielleicht schon aufgehört, Albertine zu lieben. Aber der Eifersüchtige kann sie nicht freigeben. Er liebt seine Qual“, so charakterisiert Proust den eifersüchtigen Erzähler in Marcel Prousts À la Recherche du Temps perdu, „er ist der Gefangene Albertines […] der Gefangene der Summe ihrer Möglichkeiten, ihrer Möglichkeiten, Verbindungen mit jedermann einzugehen, Verbindungen mit jedermann haben zu können.“[28] Hier wie dort zeigt sich, wenn auch bei Koeppen noch verdeckt, ein ihn später immer stärker faszinierendes Grundmodell: die Liebe des Dichters und der Hure. Bei Flaubert eindeutig thematisiert, ist es in der Geschichte zwischen Koeppen und Sybille Schloß in deren Promiskuität angedeutet. In der 15 Jahre späteren Liebesgeschichte zur 16jährigen Marion Ulrich, die zahlreiche Parallelen zum Sybille-Erlebnis, auch die zähe Werbung des Mannes und die lang anhaltende Abweisung durch das Mädchen, aufweist, benennt Koeppen dieses Liebesmodell direkt, wenn er in der ‚Marion’-Mappe (um 1944) notiert:

Nicht meine Marion, aller Welt Marion also, gut – so große Schönheit, so starker Reiz dürfen der Welt nicht entzogen werden. Ein Hurenkind gehört allen. Genau, wie ein Bild allen gehört, wie eine Statue allen gehört, ein Gedicht, eine Musik oder sonst ein Kunstwerk, wenn es nur vollkommen ist, so wie du vollkommen bist.

Ich sage, ein Hurenkind und ein Gedicht gehören der Welt. Es ist eine halbe Wahrheit, ein äußerer Anschein, der trügt. Ein Gedicht gehört nicht einmal dem Dichter, der es schuf. Eine Marion gehört nicht der Marion, nicht den Männern, die Marion so wollten, wie Marion ist. Ein Gedicht ist etwas Absolutes. Es gehört höchstens sich selbst. Auch Marion gehört nur sich selbst. Ein Gedicht bleibt ein Gedicht, auch wenn niemand es liest. Marion ist Marion, auch wenn keiner sie anschaut.[29]

Die Liebestragödie um Sybille Schloß zeigt ein noch ein anderes Koeppensches Grundmuster: Er erlebt eine Liebe und er ist zugleich der Protagonist einer unglücklichen Liebes-Erzählung. Er erlebt die Liebe literarisch, er ist die Romanfigur. Er führt mit wilden Sätzen Buch über die Ereignisse – und das „Buch“ diktiert die weiteren Handlungsschritte in der realen Geschichte. Er braucht das Unglück für die Literatur, sonst hätte er – wie jeder andere – nach so viel Zurückweisungen von Sybille Schloß doch wohl den Rückzug angetreten. „In Liebe fallen, ist ein schönes, ein unheimliches Wort. Da dies einem Schriftsteller geschah [Koeppen spricht hier von Thomas Mann und seiner Begegnung mit dem Knaben Tadzio], hat er es überlebt und den Tod in Venedig geschrieben, wie Goethe den Werther. Literaten haben ihre unglücklichen Lieben, aber sie sterben nicht an ihnen, die nähren sie.“[30]

Nur folgerichtig also, was nun – in Koeppens erlebter Geschichte – passiert:

III. „Der Tod ist ebenso sinnlos wie das Leben“

Im Mai/Juni 1929 scheint die Qual der Eifersucht den Höhepunkt erreicht zu haben, sie ist nicht mehr auszuhalten. Einer seiner manisch bekritzelten Notizen der ‚Sybille’-Mappe ist soweit entzifferbar, dass zu erkennen ist, dass es tödlich ernst wird. „Umbringen“ und „Mord“ schreibt er da in obsessiver Wiederholung und immer bizarrer vergrößerten Lettern. Offensichtlich legt sich nun übermächtig Werthers Schatten über den verzweifelt Liebenden: „Ich liebte damals nach Büchern.“

Ein Freund schickt ihm einen Revolver mit Gebrauchsanweisung und dem Rat „Mach keine Dummheiten. Auf Wiedersehen“. Die Abschiedsbriefe an Sybille, an die Tante Olga, die einzige Verwandte, die Koeppen geblieben ist, hat er sorgfältig aufbewahrt, die Verfügung über seine bescheidene Hinterlassenschaft getroffen: „Alles Schriftliche, das ich hinterlasse und das zu vernichten mir keine Zeit mehr bleibt, ist zu verbrennen.“[31] An den Freund Wilfried Seyferth, dem Sybille Schloß wohl den Vorzug gab:

Meine letzte, ehrlichste, schärfstens bedachte Meinung ist diese: ich bin das Opfer eines Missverständnisses! Es ist mein nicht zu erschütternder Glaube, dass Sybil für mich bestimmt war. D. h. ich weiß nicht nur, dass sie das einzige Wesen ist, dessen Existenz mich erschüttert, dessen ich bedürftig bin, das ich so liebe, dass ich ohne es eben nicht mehr leben kann; d.h. ich glaube auch zu wissen, dass ich – wäre es mir gelungen das Missverständnis zu erkennen und zerstören, – der einzige Mensch wäre, ihr überirdisches Verlangen nach Freude zu stillen.

Nach dreieinhalb dicht vollgeschriebenen Seiten, in denen der Verzweifelte die ganze Tragödie noch einmal reflektiert, sagt der Unglückliche Lebewohl:

Ich denke an Sybille mit innigster Liebe und preise mich, trotz allem glücklich, sie erlebt zu haben. Hätte ich auch nur einen Funken Religion im Leib, ich würde heiter sterben in der Hoffnung, sie als Engel wieder zu sehen. So aber bleibt mir nur die luftabwürgende, herzpressende Bitterkeit seinem einmaligen, strahlenden, nie, nie wieder zu erlangenden Glück – das, grade dieses Glück, mir bestimmt war, da nur mir seine ganze Allheit, seine unermeßliche Seligkeit bewußt geworden ist – zwar im Raum und in der Zeit begegnet zu sein, es erschaut und erkannt, aber seine Glückseligkeit nicht genossen zu haben. Der Tod ist ebenso sinnlos wie das Leben. Ich ertrage nur den Schmerz des Lebens nicht mehr: wie eine Uhr tickt, immer, immer, immer, in jeder Sekunde: Sybil! Andere schlafen mit ihr, ich liebe sie.[32]

Nun, Koeppen hat sich nicht erschossen und ob es die andere Variante gab, „die somewhat melodramatic episode mit dem revolver“ so wie sie Sybille Schloß erzählt[33] und wie sie Koeppen im Roman Eine unglückliche Liebe gestaltet hat, geht aus dem Nachlass nicht hervor: dass nämlich der rasend Liebende von Sybille verlangte, dass sie ihn erschießen solle. Es blieben alle Beteiligten am Leben.

Auffällig – und das haben Koeppens Sybille-Notate mit Flauberts November gemeinsam – ist das völlige Fehlen eines sozialen und historischen Kontextes. Es ist – und soll sein – das zeitlose, ja ewige glücklose Begehren nach der Liebe.

In Koeppens Nachlass befindet sich ein kleiner Feuilletontext, der verblüfft, weil er all die Merkmale, die hier bisher über die persönlichen Notizen zur Sybille-Katastrophe genannt wurden, in ihr Gegenteil verkehrt. Der unglücklich liebende Romanheld fällt hier vollständig aus der Rolle, wird zum ironischen Feuilletonisten und macht sich über sein alter ego nach Kräften lustig. Die kleine Geschichte mit dem Titel Beschwingte Melancholie beginnt so:

Der junge Mann hat keine Frühlingsbraut! Das heißt, er hat schon eine, die er für die Liebste hält, aber sie kann ihn nicht ausstehen. So hat er Kummer! Und sehr viel Zeit und gar kein Geld, weil er faul ist und nichtsnutzigen Grillen nachjagt.

Kein Wunder, daß er da eines schönen Tages sich erschießen will! Schnell gepumpt ist ein kleiner Revolver mit zwei Schuß für alle Fälle; und dann badet er lange, holt das letzte saubere Hemd aus dem Schrank, macht sorgfältigste Toilette, bestellt bei der Wirtin einen extra starken Kaffee, trinkt ihn, liest zur seelischen Bereitung ein Paar Seiten Marcel Proust, schaut das Bild der Geliebten an – und es soll geschehen!

Aber, zum Donnerwetter, die Sonne scheint, der Frühling weht, warum soll er gerade in der häßlichen möblierten Bude sterben, warum nicht erst spazieren gehen, und es dann, irgendwo, bei guter Gelegenheit tun.

Also: der Revolver wird eingesteckt, und bald promeniert der junge Mann den Kurfürstendamm auf und ab.

Er schlendert an den Geschäften vorbei. „Aber dann kommt ein Laden mit Büchern, und das geht ihn direkt an. […] ,Schade, ich wollte auch immer ein Buch schreiben. Wie merkwürdig, daß ich dazu nicht gekommen bin?’“ In einem Plattenladen hört er „den Alabama-Song aus ,Mahagonny’ und ,Wie man sich bettet, so liegt man’. Die Lotte Lenja singt es.“ Und er genießt den angenehm milden Abend auf einer Terrasse beim Wermut und geht „nach Hause. Denkt erst noch eine Weile ,Götz von Berlichingen’ und dann: ,Das Leben ist doch schön’.“[34] Der Text ist gekürzt und verändert unter dem Titel Der letzte Tag am 25. März 1930 in der Neuen Berliner Zeitung erschienen.

Zwei Tage später, am 27. März 1930, hat Sybille ärgerlich an Koeppen geschrieben: „Nichts wäre mir angenehmer, als wenn du Berlin verlassen würdest.“[35]

IV. Komplexe

Koeppens Liebes- und Leidensgeschichte ist noch keineswegs zu Ende. Aber der Schauplatz wechselt nach München zum Kabarett „Die Pfeffermühle“.

Das Münchner Kabarett und Wolfgang Koeppen – wie kam es zu dieser Verbindung? Die Koeppen-Forschung hat allerlei Vermutungen angestellt, und Koeppen hat jede Menge Legenden in die Welt gesetzt. In kaum einem Interview, in dem seine Lebensgeschichte zur Sprache kommt, erwähnt er nicht die Mitarbeit bei der „Pfeffermühle“, gestaltet sie um zur Zugehörigkeit zum Ensemble, verlängert sie bis weit ins Exil. Sie wird ihm zum Alibi einer Resistenz im Nationalsozialismus. Der Nachlass erzählt eine viel simplere Geschichte.

1931 wurde Sybille Schloß an die Münchner Kammerspiele engagiert. Dort gründet Erika Mann, die begabte Schauspielertochter Thomas Manns, zusammen mit dem Pianisten Magnus Henning, mit Kolleginnen von den Kammerspielen, darunter Therese Giehse und eben Sybille Schloß, das Kabarett „Die Pfeffermühle“. Am 1. Januar 1933 geht in der Bonbonnière eine umjubelte Premiere über die Bühne. Man spielt allabendlich vor ausverkauftem Haus: Chansons, Tanzeinlagen mit Claire Eckstein, Solotexte, meist von Erika Mann selbst geschrieben, einige wenige auch von ihrem Bruder Klaus, dazwischen ein Gedicht von Walter Mehring. Man arbeitet bereits am zweiten, am Februarprogramm. Und da hat sich Sybille Schloß an ihren schreibenden Verehrer erinnert. Am 12. Januar schreibt sie an „Wölfchen“ Koeppen einen kurzen diktatorischen Brief,  „L.W. Du mußt umgehend hier erscheinen „die Pfeffermühle“ ansehen, und mir etwas dichten fürs Februarprogramm. Ich wohne ab Sonntag Pension Romana Akademiestr. 7. Da kannst du auch wohnen. Dalli dalli deine Sybille.“[36] Sybille winkt und Koeppen gehorcht, nimmt einen kurzen Urlaub bei seiner Redaktion und verbringt die letzte Januar-Woche in München. Er dichtet ihr die Träumerei[37], einen Song, der die neue Wohlstands-Mode Psychoanalyse aufs Korn nimmt. Unter dem gewiss passenderen Titel Komplexe macht Sybille Schloß damit nach Presseberichten einen „entzückenden“ Eindruck.[38]

Am 30. Januar 1933 reist Koeppen zurück nach Berlin. Bei der Premiere seines Liedes am 1. Februar ist er nicht dabei. Hoffnungen, von Sybille Schloß nun endlich erhört zu werden, sind offensichtlich wieder einmal bitter enttäuscht worden und münden in tiefe Resignation. Ein langer Briefentwurf an die „Liebe Sybille“ aus dem Nachlass zeigt schon die Literarisierung dieser Liebesgeschichte, die ihre Erfüllung im Unglück sucht.

Als ich von dir gegangen war und vor dem Staatstheater auf die Straßenbahn zum Bahnhof wartete, war die Gelegenheit (das schreibe ich, um jedes Pathos zu meiden, aber ich meine das Schicksal) versäumt. Ich stand ausgeleert, ausgewühlt, ausgelitten, eigentlich fühllos in einem dumpfen Schmerz da und versteint. Ich hatte der Meduse ins Antlitz gesehen. Es gab keine Hoffnung mehr.

Und weiter:

Was mir vom Leben bleibt, wer will mich hindern, es der Macht einer Liebe, die ich nun als Schicksal und Verdammung anerkenne, zu unterordnen? [!] Ich werde versuchen, sie zu gestalten, ein Dokument zu schreiben. […] Ich liebe Sybille Schloss, verwest da nicht jedes fremde Fleisch?…

Nun, ich bin verzweifelt. Mein Zimmer ist ein Sarg. Berlin ist ein Sarg. Ich bin ganz allein. Ich friere. […] Hoffnungslos? Ja. Ich beginne morgen ein Buch zu schreiben, den Roman ‚Das Haupt der Medusa’. Ich fühle mich da verpflichtet.[39]

Zu einem dritten „Pfeffermühle“-Programm in München kommt es nicht mehr. Erika Mann, Sybille Schloss, Therese Giehse, Magnus Henning – fast das gesamte Ensemble also – flüchten im März 1933 in die Schweiz und starten am 30. September 1933 in Zürich ihr nächstes, ihr erstes Exil-Programm. Bei diesem und allen weiteren Programmen der „Pfeffermühle“ wurde der Song Komplexe, abgesehen wohl von einer Aufführung am 27. 8. 1934 in Ascona, offensichtlich nicht mehr vorgetragen. Es blieb auch bei diesem einen Koeppen-Beitrag. Was Koeppen später als Nähe, gar Zugehörigkeit zum Kabarett-Ensemble hingestellt hat, erweist sich als Geschichtsklitterung. Ein Artikel im Berliner Börsen-Courier vom 5. September 1933, aus jener kurzen Zeit also, in der Koeppen durchaus Strategien der Anpassung praktiziert hat, um im neuen Deutschland seine soeben gefestigte Position als Journalist halten zu können, kann nicht anders gelesen werden denn als eine entschiedene Distanzierung von einem politischen Kabarett à la „Pfeffermühle“, wenngleich der Autor es geschickt versteht, sich mit seinem eigenen Urteil bedeckt zu halten. Der Artikel trägt die Überschrift Das Kabarett gestern und heute und ist unterzeichnet mit einem seiner viel gebrauchten Kürzel, mit „Kn“. Nach einer geschichtlichen Darstellung des Kabaretts in Deutschland nähert sich der Verfasser der Gegenwart:

Die letzten Jahre waren Jahre des politischen Kampfes. Die Parodie verschmähte natürlich diesen ihr besonders gemäßen Vorwurf nicht. Sie bemühte sich (meist mißverstanden) aktuell zu sein und glossierte die Leitartikel der Tagespresse. Nachdem nun der Kampf sich entschieden hat, glauben viele, [eine bedeckte Formulierung, die seine eigene Meinung scheinbar verschleiert] daß die Zeit des politisch-kritischen Kabaretts zu Ende sei. Das trifft nur bedingt zu. Die Politik, soweit sie Parteipolitik war, ist verschwunden und somit auch kein Objekt des Spottes mehr. Und die verbliebene Politik ist im höchsten Maße Sache der Staatsautorität. Daß die Satire sich dieser neuen Zeit gegenüber anders zu verhalten hat, ist selbstverständlich. Aber es ist dies nur eine Sache der Form und genauer noch des Taktes. Daß es nicht unmöglich ist, dem Kabarett weiter den politischen Tageswitz zu geben (soweit es ihn braucht), zeigte schon das Frühjahrsprogramm der ‚Katakombe’, das gerade in den Tagen der Revolution von einer ausgezeichneten Sicherheit des Humors war, die aber nirgends Anstoß erregte.[40]

Ende Dezember 1933 geht der liberale Berliner Börsen-Courier in der schon immer rechtsgerichteten Berliner Börsen-Zeitung auf. Für Koeppen hat man keine Verwendung mehr. Er macht sich im Frühjahr 1934 mit einem Honorar-Vorschuss des Verlegers Bruno Cassirer auf den Weg nach Italien. Dessen Lektor Max Tau hat Koeppens dichterische Begabung entdeckt und ihn in dem Vorhaben bestärkt, einen Roman zu schreiben. Er macht offensichtlich zunächst Station in Zürich und begegnet dort den neuen Ensemblemitgliedern, z.B. dem Exilrussen Igor Pahlen, der für einige Jahre Sybilles Schloß Liebhaber wird.

Nach dem Ende der Spielzeit reist Sybille Schloß, wenn sie sich recht erinnert (wie im Roman Eine unglückliche Liebe) Koeppen nach Italien nach, man trifft sich in Venedig, zum Glück gereicht es keinem von beiden. Oder doch: Koeppen kommt so zu seinem Romanstoff.

V. „Sie ist für mich bestimmt“

Koeppens Erstlingsroman Eine unglückliche Liebe lehnt sich erstaunlich eng an die Ereignisse, mehr noch an die Personen an. Wir finden den Berliner Freundeskreis nur gering verändert in den Romanrückblenden wieder: Willy Haas bekommt den Namen Walter, Beck ist der Schauspielerfreund Winfried Seyferth, der Kriegsinvalide Bosporus hieß im wirklichen Leben Herbert Kluger, und Koeppen war nach 1945 Lektor seines Verlages, in dem die Aufzeichnungen aus einem Erdloch von Jakob Littner erschienen. (In den Notaten der autobiographischen ‚Sybille’-Mappe heißt er aus nicht aufgeklärten Gründen „der Ammersee“.) Sybille bleibt – fast – mit sich identisch, nur i und y vertauscht der Romancier. Dem Protagonisten des Romans gibt er den Namen Friedrich, vielleicht mag man darin eine Seelenverwandtschaft zu Caspar David Friedrich sehen, Koeppens geliebtem Maler seiner Heimatstadt Greifswald, aber vor allem seiner Grundstimmung, der Melancholie. Das Kabarett-Ensemble ist durch kleine individuelle Attribute markiert: „der Römerkopf“ (Erika Mann), „die derbe Gestalt einer Bäuerin aus früheren Zeiten“ (Therese Giehse), „ein langaufgeschossener Albinomensch mit wäßrigen Augen“ (Magnus Henning, der Pianist und Mitbegründer des Kabaretts), „Ania, ein Kind“ (die Tänzerin Lotte Goslar), „Fedor, der Mann im Sweater“ (Igor Pahlen).[41]

Ein schlichtes und wenig ereignisreiches Handlungsgerüst, sozusagen das Skelett, stützt den eigentlichen Körper des Romans: Friedrich hatte sich in Berlin rasend in ein junges Mädchen, in die schöne Sibylle verliebt, war aber nicht nur nicht erhört worden, sondern hatte durch andere Rivalen, denen sie den Vorzug gab, vor Eifersucht so sehr den Verstand verloren, dass er sich einen Revolver verschaffte und Sibylle aufforderte, ihn zu erschießen. Sie lenkt den Schuss auf sein Bild im Spiegel, es fließt kein Blut. In Zürich, in der „Fremdenstadt“ sucht er Sibylle in ihrem etwas schmierigen Keller-Theater auf, in dem er sie für gänzlich deplaziert hält und muss erleben, dass sie einem neuen Liebhaber gehört, dem Kollegen Fedor. Friedrichs Bitte, mit ihm nach Italien weiterzureisen, folgt sie scheinbar und löst einen Glückstaumel aus, der rasch verglüht, denn Sibylle hat ihn hintergangen. Nicht sie, sondern die von ihr geschickte Ania kommt zum Bahnhof und nimmt das für Sibylle reservierte Schlafwagenbett ein. In Neapel begegnen die beiden einem mysteriösen Japaner, der Ania mit in seine Heimat nimmt. Friedrich reist zurück, bittet Sibylle telegraphisch um ein Treffen in Venedig. Sie kommt leibhaftig an, sie streunen durch Venedig wie zwei Kinder, sein Begehren, ihre Abwehr sind immer gegenwärtig. Am Ende erfindet sich Koeppen für seinen Helden den selbst so sehr entbehrten sekundenkurzen Abschiedskuss: „[…] und es war das Glück […] es war das Überirdische, das ihn heiß durchströmte.“[42]

Dies also das Skelett des Romans, sein Körper sind die leidenschaftlichen Bekenntnisse zur Liebe, oder genauer zum Begehren nach der Liebe. Sein Thema: das Verfehlen der Liebe. Es ist ausgiebig auf die Leitmotive dieses Romans hingewiesen worden, auf das Motiv der Grenze, der trennenden Wand aus Glas.[43] Zentrales Leitmotiv aber ist ein anderes, es ist der Satz: „Sie ist für mich bestimmt.“ Diesen zur Formel geronnenen Satz „sie ist für mich bestimmt“ oder seine Negation, wenn von einem der Rivalen die Rede ist, „Er ist nicht für sie bestimmt“ positioniert der Romanautor fast lithurgieartig in jede der langen Reflexion über die Rolle des Helden, über die Rolle Sibylles, über die Beziehungen zu den anderen Männern in dieser unglücklichen Liebesgeschichte. Es sind leitmotivische Akkorde, die mitten im Satz, ohne syntaktisch eingebaut zu sein, meist in eckigen Klammern, dem Leser die Wahrheit einhämmern, an der es für Friedrich nicht den geringsten Zweifel gibt. Wir kennen diese Formulierung aus Koeppens Abschiedsbrief an Wilfried Seyferth: „Meine letzte, ehrlichste, schärfstens bedachte Meinung ist diese: ich bin das Opfer eines Missverständnisses! Es ist mein nicht zu erschütternder Glaube, dass Sybil für mich bestimmt war.“[44] Es ist das Schicksal, das sich geirrt hat. Es ist ein Missverständnis der Natur, das schmerzhafte Verfehlen einer Bestimmung: „Ich glaube an diese meine Liebe“, erklärt Friedrich, ehe er Sibylle die Waffe reicht, „als an eine Tatsache, die irgendwie determiniert und mir bestimmt ist; ich kann mich jedenfalls nicht entschließen, sie für eine fixe Idee aus dem Katalog des Irrsinns zu halten. Was geschieht, ist meiner Überzeugung nach ein Mißverständnis. Ich muß es lösen, oder an ihm zugrunde gehen.“[45] Das Ende des Romans nach jenem beglückenden Kuss kehrt zum Anfang zurück, das Missverständnis bleibt unauflösbar „[…] sie wußten, daß sich nichts geändert hatte, und daß die Wand aus dünnstem Glas, durchsichtig wie die Luft und vielleicht noch schärfer die Erscheinung des anderen wiedergebend, zwischen ihnen bestehen blieb. Es war dies eine Grenze, die sie nun respektierten; und Sibylle blieb für ihn bestimmt; und Friedrich war der Mensch, der ihr gehörte. Es hatte sich nichts geändert.“[46]

VI. Koeppen und die Geschwister Mann

Im Jahr 1934 ist der Roman geschrieben und erschienen, unumgänglich also, nach dem historischen Kontext zu fragen, obgleich er in diesem Roman so seltsam abwesend ist.

Koeppen hat mit einem hochsymbolischen Ereignis die Datierung für das Romangeschehen fixiert. Sibylles Geburt nämlich, so erzählt der Roman, fällt in jene Nacht, da der Halleysche Komet am Himmel erschien und Friedrichs Vater mit seinem Ballon aufgestiegen und zu Tode gestürzt war. Auf die Implikationen dieser symbolträchtigen Konstellation, etwa den literarischen Mord am Vater, gehe ich hier nicht ein, sie sind hinreichend interpretiert. An jenem „Tag des Weltuntergangs“ jedenfalls, auch das wird erwähnt, war Friedrich sechs Jahre alt. Der Komet erschien 1910 am Himmel, also ist Friedrich 1904 geboren. Bei den aktuellen Ereignissen des Romans ist er 27 Jahre alt, demnach hat Koeppen das Handlungsgeschehen 1931 angesiedelt. Man ist geneigt, zu mutmaßen, dass dies nicht ohne Absicht geschah, enthebt diese Datierung den Autor doch einer wie immer gearteten Einbettung in die politischen Umwälzungen. Aber gerade das geschieht, wenn auch nicht explizit. Warum nämlich beschreibt Koeppen das Ensemble, mit dem Sibylle in die „Fremdenstadt“ gezogen ist, so überaus abfällig? Er schildert russische Emigranten, zwielichtige Typen, eine halbseidene Gesellschaft, ein heruntergekommenes Varieté-Theater, Hungerleider, „die ihr Geschäft mit dem Hautgout der Finsternis zu treiben scheinen.“[47] Es sind ausschließlich pejorative Attribute, mit denen sie charakterisiert werden. Und sie decken sich erschreckend genau mit den Attributen, mit denen die deutsche Propaganda-Presse seit 1932/3, seit die Ströme von Exilanten aus Deutschland fliehen, den Flüchtigen hinterher schreit. In polemischen Artikeln und Karikaturen werden die von der „Emigranzia“ Befallenen, heißen sie nun Albert Einstein oder Thomas Mann oder Bert Brecht, als vaterlandslose Gesellen, als Feiglinge beschimpft, die, statt sich am Aufbau des neuen Deutschland zu beteiligen, im Sumpf der Feindesländer untertauchen und Deutschland verraten. Der Roman repetiert diesen Grundton. Koeppen verhielt sich auch in seiner journalistischen Arbeit im Jahr 1933 durchaus nicht politikabstinent. Zum Beispiel mit seinem Artikel Paris in diesem Frühjahr vom 4. Juni 1933. Wer wachsam war, in Deutschland wie im Ausland, wusste, worauf hier angespielt wurde: Gottfried Benn hatte am 25. Mai 1933 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung einen vielbeachteten offenen Brief veröffentlicht: Antwort an die literarischen Emigranten (sie war tags zuvor schon im Rundfunk verlesen worden). Benns Polemik richtete sich gegen Klaus Mann und seine Gesinnungsfreunde, die Benn mit Enttäuschung und Verbitterung seine enthusiastische Haltung zum neuen Staat vorgeworfen hatten. Vier Tage später, am 4. Juni also, liest man im Berliner Börsen-Courier Koeppens Impression: Vom Caféhaustisch des Pariser Boulevards aus versucht er alle Konflikte mit dem neuen Deutschland herunterzuspielen, Normalität zu suggerieren: „Jedenfalls sind die Gerüchte über eine deutsche Emigration in Paris genau so übertrieben wie die Gerüchte über Deutschland unter diesen Emigranten. Eine wirkliche deutsche Emigration im Sinne der russischen z.B. gibt es in Paris überhaupt nicht. Die Deutschen, die sich dort aufhalten, haben fast alle die Absicht, in ihre Heimat zurückzukehren.“[48] Erinnert sei auch an den schon erwähnten Artikel über Das Kabarett gestern und heute, mit dem er dem politischen Kabarett die Daseinsberechtigung rundherum absprach und einem Projekt, wie der „Pfeffermühle“ geradewegs in den Rücken fällt. Koeppens damaliger Haltung mögen Eifersucht und der Kummer des Zurückgesetzten zugrunde liegen, heute drängt sich bei der Lektüre dieser Feuilletons das Bild eines durchaus Angepassten auf.

Koeppens Lebensabschnitt von 1933 bis 1945 ist nach dem Krieg weitgehend aus der Biographie verschwunden. Die fünfziger Jahre sind die Erfolgsjahre des Schriftstellers Wolfgang Koeppen. Mit der Romantrilogie und den Reisebüchern gilt er als der zeitkritische Narrator der frühen Bundesrepublik und der Beobachter der Welt. Der Schriftsteller Wolfgang Koeppen hat in Berlin als Journalist begonnen, jetzt ist er einer der führenden Autoren.

Erst in dem Moment, da mit der Studentenbewegung nach 1968 der Nationalsozialismus in den Blick rückt, mit ihm Fragen nach dem Holocaust, nach der literarischen Produktion in der Emigration, da die Öffentlichkeit mit einer Figur wie Klaus Mann bekannt gemacht wird und von seinem Wirken im Exil erfährt und er allmählich als Ikone eines politischen Engagements gegen den Faschismus gilt, in diesem Augenblick beginnt Wolfgang Koeppen, sich in Interviews in die Nähe zu Klaus und Erika Mann zu rücken. Aus der Nähe wird Freundschaft, aus seinem einzigen Beitrag vor der Machtergreifung wird eine Zugehörigkeit zum Kabarett-Ensemble: auch dies eine unglückliche Liebe und keine sehr aufrichtige. Es spricht aus diesen ‚Auskünften’ der verspätete Wunsch, Teil jenes anderen, besseren Deutschland gewesen zu sein, das den Mut hatte, ohne ideologische Kompromisse zu leben.

In einem Interview im Jahr 1983 nach der Situation für junge Schriftsteller 1933 befragt, kommt Koeppen empört auf die Kontroverse zwischen Klaus Mann und Gottfried Benn zu sprechen: „Die jungen Schriftsteller sahen ihren Nestor [G. Benn] in geistige Umnachtung gefallen. Es war unbegreiflich. Klaus Mann veröffentlichte seine Antwort gegen Benn, die ein Entsetzensschrei war, in einer ausländischen Zeitung, wurde aber in deutschen Blättern noch ausführlich zitiert. Er sprach für uns alle. Er hatte eine politische Stellung bezogen […].“[49] In Auskünften über die Zeit in Holland, die er nun oft, nicht immer, zum Exil umstilisiert, heißt es nun fast stereotyp:

Ich habe in Holland in einem – ja, ich muß sagen – freundschaftlichen Kontakt sowohl zu Erika Mann als auch zu Klaus Mann gestanden. Oft haben wir uns in Amsterdam im Café Amerika getroffen. Klaus Mann hatte den Namen des Vaters und war überhaupt ein Mann, der sich zu einer Zentralfigur des Widerstandes gegen diese deutsche Sache entwickelt hat. Und Erika Mann mit ihrem Kabarett „Die Pfeffermühle“ auch, an dem ich mitgearbeitet habe.[50]

Um sich dann zu winden in Rechtfertigungen für sein Publizieren in Deutschland im Dritten Reich: „Und als ich einmal für das tapfere Feuilleton der Frankfurter Zeitung eine phantastische, völlig unpolitische Feuilletongeschichte schrieb, da hätte mir Erika Mann fast die Augen ausgekratzt. Wenn ich dann sagte, daß ja die Bücher von ihrem Vater auch damals noch alle in Deutschland bei Fischer erschienen – ja, das war was anderes.“[51] Koeppens Geschichte Ein Fremdenheim ist am 6. Mai 1939, also nach Koeppens Rückkehr nach Deutschland in der Frankfurter Zeitung erschienen, da hat Erika Mann keine Gelegenheit gehabt, Koeppen die Augen auszukratzen, da war sie längst in den USA.Thomas Mann hatte endgültig und auf Drängen Erikas Anfang 1936 öffentlich mit Deutschland gebrochen und sich mit den Emigranten solidarisiert. Sein Verleger Gottfried Bermann Fischer war längst aus seinem ersten Exilort Wien nach Stockholm weitergeflohen. Ein anderes Mal erzählt Koeppen: „Ich fuhr alle acht Tage nach Amsterdam und traf Klaus Mann im ‚Club Amerika’.“[52] Zur Neuauflage des zweiten Romans Die Mauer schwankt von 1935 in der Gesamtausgabe schien Koeppen ein rechtfertigendes Vorwort vonnöten, und er erfindet, auf raffinierte Weise zwischen Fakten, Andeutungen und Umdeutungen changierend, seine Lebensgeschichte dieser Jahre neu. Auch hier die Geschichte der Freundschaft zu Klaus und Erika, hier beginnt sie schon in der Berliner Jockey-Bar. Er erzählt von seinen Schwierigkeiten als junger Autor in Holland und berichtet dann: „Erika Mann gastierte  mit ihrem mutigen, stolzen Kabarett ‚Die Pfeffermühle’. Ich liebte dort ein Mädchen. Ich machte ein Chanson für sie.“[53] Und später heißt es dort: „Ich leistete Widerstand, wenn auch versteckt.“[54] Im Interview mit Volker Wehdeking Die Last der verlorenen Jahre (1989) erzählt er von der Zeit nach der Rückkehr nach Deutschland: „Als ich von Holland zurückkam, war dies gefährlich. Ich hatte für die Pfeffermühle, Erika Manns Kabarett, geschrieben und mit Juden gelebt, der Gestapo-Mann mitten unter uns, an der Lesetafel des Grand-Hotels in Den Haag. Erika Mann haßte mich von dem Augenblick an, als sie erfuhr, daß ich nach Deutschland zurück wollte. Aber ich habe mich in meinem Haß auf Hitler nicht zu einer endgültigen Trennung von Deutschland durchringen können.“[55]

Obwohl Klaus Mann, der akribische Diarist doch so minutiös seine Unternehmungen, jede seiner Begegnungen, notiert, findet sich in den veröffentlichten Tagebüchern keinerlei Erwähnung Koeppens, aber auch in den unveröffentlichten Passagen habe ich bislang keine Erwähnung gefunden. Auch nicht den Besuch von Klaus Mann bei seiner Rückkehr nach Deutschland als GI im Mai 1945 in Feldafing. Koeppen wohnte damals in der Villa seines späteren Schwagers Georg Siedhoff in Feldafing im eleganten Souterrain (und keineswegs in einem Kellerloch, wie mittlerweile ausführlich recherchiert[56]). Klaus Mann besuchte einen alten Freund der Familie Mann, Rolf von Hoerschelmann, der ihn wohl von Koeppens Anwesenheit in Feldafing erzählte. Er trifft Koeppen aber nicht an, nur seine Freundin Marion Ulrich. Klaus Mann notiert seine Telefonnummer und die Adresse beim 7th Army Press Camp in Rosenheim und rät Koeppen, sich bei der neuen Zeitung der Amerikaner zu melden: „Man sucht dort dringend nach zuverlässigen Journalisten und Redakteuren.“[57] Diesen Besuch instrumentalisiert Koeppen sein Leben lang zu einer engen Bekanntschaft. Über Erika Manns Urteil über den Roman Eine unglückliche Liebe, und ob sie ihn gekannt hat, ist nichts bekannt. Spekulieren könnte man sehr wohl darüber, ob ihr immer wieder von Koeppen erwähnter Hass auf ihn nicht eben dem Roman und seiner negativen Schilderung ihres Kabaretts gegolten hat.

VII. Nimm fort die Amarylle

Zurück zur Geschichte zwischen Sybille Schloß und Wolfgang Koeppen und damit zu ihrem Ausklang:

Im November 1934, kurz vor Erscheinen des Romans Eine unglückliche Liebe bei Bruno Cassirer in Berlin, übersiedelt Koeppen also mit der jüdischen Familie Michaelis, die ihm Kost gewährt und ein Dachzimmer für den Dichter bereithält, nach Den Haag, bleibt aber in Reinfeld bei der Tante polizeilich gemeldet. Sybille Schloß hatte noch an den großen Tourneen der „Pfeffermühle“ in der Schweiz, durch die Tschechoslowakei und in die Niederlande teilgenommen und hat dann im Frühjahr 1935 mit Igor Pahlen die Truppe verlassen. 1936 besucht sie Koeppen in Den Haag, dort ist auch der Sohn seiner Gastfamilie zu Besuch, der Anwalt Thomas Michaelis, der seit Berliner Tagen mit Koeppen befreundet ist und für homosexuell gilt. Daß ausgerechnet Sybille Schloß und Thomas Michaelis sich umgehend heftig verlieben und ein Paar werden, wird für Koeppen zur Kränkung, die nicht schmerzlicher sein könnte. Es bleibt nicht bei einer Affäre. Thomas Michaelis gibt seinen Beruf auf und begleitet Sybille im Herbst 1936 nach New York, denn sie ist beim Neustart der „Peppermill“ in den USA wieder dabei. Allerdings wird die amerikanische Neuauflage aus vielerlei Gründen ein Misserfolg. Im September 1937 heiraten die beiden, aber auch diese Ehe ist nicht von langer Dauer.

Sybille Schloß erzählt später, wie sehr sie den Roman Eine unglückliche Liebe geschätzt habe, auch über den Text Jugend schreibt sie Koeppen 1976 begeistert. Noch einmal, im Oktober 1986, begegnet der 80jährige bei einer New York-Reise seiner unglücklichen Liebe, und die erzählt:

Wir sind gegangen in ein gutes Restaurant. Da saßen wir nun. It sounds very funny, but we had nothing to say to each other. It was a painful evening. Und da hat er dann noch gesagt, er will mich einladen zum Plaza Hotel in das vornehme Restaurant nächsten Tag und am nächsten Morgen hab ich ein Gedicht geschickt von Gottfried Benn. Und hab gesagt, es tut mir leid, aber wir brauchen uns nicht zu sehen heute. Und ich denke, er war wahrscheinlich froh.[58]

Der Absagebrief und Benns Gedicht in Sybilles Handschrift hat Koeppen aufbewahrt. Es ist das Altersgedicht Nimm fort die Amarylle:

Ich kann kein Blühen mehr sehn,
es ist so leicht und so gründlich
und dauert mindestens stündlich
als Traum und Auferstehn.[59]

Igor Pahlen, Ensemblemitglied und über Jahre der glückliche Liebhaber von Sybille Schloß und lebenslang ein Freund, beschreibt Koeppens Rolle in dieser Beziehung wohl zutreffend: „Es war wirklich ein Freund. Sie wollte nur seine Liebe nicht. Aber was hätte Koeppen gemacht, wenn er nicht unglücklich gewesen wäre. Dann wäre er nicht Koeppen geworden.“[60]

Eine unglückliche Liebe, die ihn, den Schriftsteller nährte, sein Leben lang.

Der Beitrag ist unter demselben Titel erschienen in: treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre. Hg. v. Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner und Roland Ulrich 2(2006), S. 28-51. Er war 2006 als Vortrag mit Bild- und Tondokumenten im Begleitprogramm zur Ausstellung „Ich wurde eine Romanfigur. Wolfgang Koeppen 1906-1996“ im Münchner Gasteig konzipiert worden. Die umfangreiche Untersuchung von Jörg Döring und die Recherchen von Sabine Mahr, vor allem beider Gespräche mit Sybille Schloß, wurden dankbar verwendet, ohne dies – von Zitaten abgesehen – immer ausdrücklich zu erwähnen. Der Text ist für die erneute Veröffentlichung in literaturkritik.de geringfügig überarbeitet worden.

Anmerkungen

[1] In der Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes ist hier ein Porträtfoto platziert, an späteren Stellen sind weitere Fotos veröffentlicht,  die wohl in der Mehrzahl im Atelier Robertson in Berlin aufgenommen wurden, einem Atelier, das sich auf Tanzfotografie spezialisiert hatte, berühmt sind die Aufnahmen der Ausdruckstänzerin Mary Wigmann.

[2] Koeppens Werke werden, wenn nicht anders angegeben, zitiert nach Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke in sechs Bänden [GW]. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Zitat hier: Bd. 3, S. 167.

[3] Zitiert nach Sabine Mahr: „Nehmen Sie mich, ich bin vollkommen hemmungslos“. Die Schauspielerin und Kabarettistin Sybille Schloß. Rundfunkmanuskript, Erstsendung SWR 2, 24.8.2002, S. 4.

[4] Wolfgang Koeppen: Liebe Sybille! In: Ders.: Auf dem Phantasieroß. Prosa aus dem Nachlaß. Hg. von Alfred Estermann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 162 f.

[5] Wolfgang-Koeppen-Archiv (WKA), Mappe ‚Sybille’, KB 16 22757.

[6] Mahr: „Nehmen Sie mich“, S. 13.

[7] WKA, Mappe ‚Sybille’, KB 16 22755.

[8] WKA, ebd., KB 16 22759.

[9] WKA, ebd., KB 16 22741.

[10] WKA, ebd., KB 16 22726.

[11] GW, Bd. 6, S. 199.

[12] Vgl. Christoph Haas: Wolfgang Koeppen – eine Lektüre. Würzburg: Ergon Verlag 1998, S. 27 f.

[13]  GW, Bd. 6, S. 448.

[14] Friedrich Rückert: Gedichte. Hg. von Walter Schmitz. Stuttgart. Reclam1988, Kommentar, S. 246.

[15] GW, Bd. 6, S. 447.

[16] GW, Bd. 6, S. 448.

[17] GW, Bd. 5, S. 251.

[18] GW, Bd. 6, S. 123 f.

[19] GW, Bd. 6, S. 124 f.

[20] Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. In: Ders.: November. Zürich: Diogenes Taschenbuch 1991, S. 65

[21] Koeppen: Auf dem Phantasieroß, S. 18 f.

[22] Flaubert, Memoiren, S. 59.

[23] Koeppen: Auf dem Phantasieroß, S. 19

[24] Flaubert: November, S. 150.

[25] Ebd., S. 247

[26] Ebd., S. 249

[27] Ebd., S. 216

[28] Marcel Proust und die Summe der Sensibilität, GW, Bd. 6, S. 178.

[29] WKA, Mappe ‚Marion’, M196.

[30] GW, Bd. 6, S. 201.

[31] WKA, Koeppen an Olga Köppen, 10.6.1929.

[32] WKA, Koeppen an Wilfried Seyferth, 30.5.1929

[33] Vgl. Jörg Döring: „… ich stellte mich unter, ich machte mich klein …“ Wolfgang Koeppen 1933 – 1948. Frankfurt am Main: Stroemfeld 2001, S. 81.

[34] Koeppen: Phantasieroß, S. 58 f.

[35] WKA, Mappe ‚Sybille’, KB 16 2278.

[36] WKA, KB 16 22798.

[37] Monacensia, Literaturarchiv der Münchner Stadtbibliothek, Nachlass Erika Mann; zit. nach Helga Keiser-Hayne: Erika Mann und ihr politisches Kabarett „Die Pfeffermühle“ 1933-1937. Reinbek 1995, S. 50 f.

[38] Münchener Neueste Nachrichten, 3. Februar 1933.

[39] Koeppen: Phantasieroß, S. 163-167.

[40] Zeitungsausschnitt WKA.

[41] GW, Bd. 1, S. 18. – Helga Keiser-Hayne hat in ihrem Buch über die Pfeffermühle, s. Anm. 28, S. 195, die Identität der Koeppenschen Romanfiguren aufgedeckt.

[42] GW 1, S. 157.

[43] Vgl. Haas: Wolfgang Koeppen, S. 26 ff.

[44] S. Anm. 23.

[45] GW, Bd. 1, S. 109 f.

[46] GW, Bd. 1, S. 158.

[47] GW, Bd. 1, S. 19.

[48] GW, Bd. 5, S. 75 f.

[49] Wolfgang Koeppen: „Einer der schreibt“. Gespräche und Interviews. Hg. von Hans Ulrich Treichel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 170.

[50] Ebd., S. 178.

[51] Ebd., S. 178 f.

[52] Ebd., S. 215.

[53] GW, Bd. 1, S. 163.

[54] GW, Bd. 1, S. 164.

[55] Ebd.

[56] Vgl. Jörg Döring: „…Ich stellte mich unter…“

[57] WKA, KB 19 18151.

[58] Ebd., S. 25 f.

[59] Gottfried Benn: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hg. von Dieter Wellershoff. Wiesbaden: Limes-Verlag 1960/63, Band 3, S. 274.

[60] Mahr, „Nehmen Sie mich“, S. 25.