Das große Schweigen und das kleine Reden

Die jüngste Ausgabe des Jahrbuchs „treibhaus“ thematisiert den Umgang mit „der großen Schuld“ und streift dabei auch Wolfgang Koeppen

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich war Wolfgang Koeppen kein Vertreter der Kahlschlag-Literatur. Der Autor, der bereits Mitte der 1930-er Jahre die beiden Romane „Eine unglückliche Liebe“ und „Die Mauer schwankt“ beim Cassirer-Verlag in Berlin veröffentlichen konnte, verweigerte sich in seinem ersten Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ (1951) einer nüchternern, sprachlich reduzierten und desillusioniert gebenden „Stunde Null“. Stattdessen schloss Koeppen da an, woran er durch die Zeit des Nationalsozialismus unterbrochen und gehemmt wurde: an die ästhetische Moderne, insbesondere an Alfred Döblin, John Dos Passos und James Joyce.

„Tauben im Gras“ wurde bei seiner Veröffentlichung – und wird bis heute – als Dokument äußerst ätzender Zeit- und Kulturkritik gelesen. Vielschichtig im Aufbau, in seiner Montagetechnik vergleichbar mit „Berlin Alexanderplatz“, „Manhattan Transfer“ und „Ulysses“, zeichnet Koeppens im Auftaktroman seiner späteren Nachkriegstrilogie ein pessimistisches Bild der jungen Bundesrepublik: Die NS-Mentalität wirkt weiter fort, es bestehen unverhohlene antijüdische Ressentiments bis hin zum offenen Rassismus gegenüber den Besatzungsmächten, die weltpolitische Krisensituation steht kurz vor dem Abgrund.

Kurz: Koeppen beschreibt ein Land, das sich nur einen Schritt entfernt von der Apokalypse befindet. Dabei erweist sich Koeppen als Solitär. „Diese offen kritische Seite des Romans fiel im Kontext seines Entstehungsjahres völlig aus dem Rahmen des damals literarisch Üblichen“, argumentiert der Kölner Literaturwissenschaftler Dieter Liewerscheidt im neuen „treibhaus“ und verweist auf die gängige Norm: ein starkes Harmonisierungsbedürfnis und literarische Harmlosigkeit. Allerdings ist auch zu konstatieren, dass Koeppens Bestrebungen misslingen, an bestimmte literarische Traditionen der Vorkriegs-Moderne anzuknüpfen.

Der anfängliche Willen zur Aufarbeitung schwächte sich im Kalten Krieg schnell ab

Zwischen der Weimarer Republik auf der einen Seite sowie BRD und DDR auf der anderen Seite steht der Nationalsozialismus, stehen unzählige NS-Verbrechen. Wer nach 1945 schreibt, muss sich in ein Verhältnis zu ihnen setzen. Die Herausgeber des „treibhaus“ – ein Jahrbuch, das seit 2005 verlässlich die Literatur und Kultur der fünfziger Jahre in immer neuen Anläufen sondiert – fragen nach dem Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen, der „großen Schuld“, fragen, so in der Einleitung, „wie die Literatur im Land der Täter die ungeheuerlichen Verbrechen thematisiert hat, die im Namen dieses Landes begangen wurden.“

Wie die 17 Beiträge des Bandes zeigen, wurde nach Kriegsende die „große Schuld“ allerdings oft gar nicht oder nur versteckt thematisiert. Der Überblick des Historikers Harald Schmidt diagnostiziert für die Zeit zwischen 1945 und 1960, dass sich der anfängliche gute Willen zur Aufarbeitung unter den Vorzeichen des Kalten Krieges alsbald abschwächte. Eine kollektive Verantwortung wurde abgelehnt. Während die einen an den militärischen Widerstand am 20. Juli 1944 und die Weiße Rose erinnerten, glorifizierten die anderen kommunistische Opposition. Deportation und Ermordung Millionen von Juden aus ganz Europa spielten kaum eine Rolle.

Daher hieß auch die hauptsächliche Strategie deutschsprachiger Autoren in den fünfziger Jahren: Beschweigen. Oder wie im Fall Erwin Guido Kolbenheyer: Verleugnen. Der Schriftsteller, heute wohl nur noch einem kleinen Leserkreis ein Begriff, gehörte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu den bekanntesten Literaten. Zu seinen Werken zählten lang(atmig)e Romane, Theaterstücke, Lyrisches, aber auch naturwissenschaftlich-philosphische Traktate. Person wie Schaffen waren hochdekoriert, zum Beispiel durch den Adalbert-Stifter-Preis (1926), Wartburgrose (1932) oder den Sudetendeutschen Kulturpreis (1959).

Doch Kolbenheyer wurde auch von den Nationalsozialisten hofiert und mit Preisen überhäuft. 1940 trat der „Großschriftsteller“ schließlich der NSDAP bei. Nach dem Krieg wies er jedoch alle Anschuldigungen geistiger Mittäterschaft brüsk zurück, sprach gar der zuständigen Spruchkammer die geistige Befähigung ab, sein Werk bewerten zu können, wie Hiltrud Häntzschel aus den Akten zu Kolbenheyers Entnazifierungsverfahren pointiert nachzeichnet. Das Besondere daran: Zahlreiche Schriftsteller der Emigration wurden von der Anklage gebeten, eine Stellungnahme abzugeben.

Die Einschätzung Erich Kästners – Kolbenheyer sei ein „geistiger Paladin“ des Nationalsozialismus gewesen – findet sich in Gänze im vorliegenden Band abgedruckt und liefert nebenbei auch einen atmosphärischen Eindruck der ersten Jahre nach 1945. Diese stellen sich auf den zweiten Blick als komplexer und widersprüchlicher dar als gedacht. Denn neben ästhetischen Strategien, die große Schuld klein zu reden oder abzuwiegeln, gab es auch Versuche, sie zu benennen. Solchen Anstrengungen widmen sich der zweite und dritte Teil des Jahrbuchs, „Erinnern“ beziehungsweise „Versuche der Verarbeitung“ überschrieben.

Einige Versuche, die große Schuld zu benennen, zeigen Wirkung

Dass Kunst auch „etwas bewirken“ zu vermag, zeigt zum Beispiel der Beitrag des Filmwissenschaftlers Helmut G. Asper. Er rekonstruiert die Geschichte des Rundfunkfeatures „Die Vergessenen“ (1955) sowie der darauf aufbauenden Fernsehdokumentation ein Jahr später. Peter Adler, damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk, thematisierte in seinem Feature die deutsch-jüdischen Emigranten in Paris. Zehn Jahre nach Kriegsende lebten sie immer noch unter erbärmlichen Zuständen, selbst die Entschädigung, die ihnen eigentlich von Seiten der Bundesrepublik zustand, wurde ihnen durch bürokratische Hürden verwehrt.

Zog schon das Feature nach seiner bundesweiten Ausstrahlung großes Aufsehen auf sich, kam dem gleichnamigen Dokumentarfilm noch ein weitaus bedeutenderer Erfolg zuteil. Adler kooperierte mit dem Journalisten Peter Dreesen für den Film, der nun anhand einer kleinen  Gruppe das erschütternde Elend der Emigranten zeigte. Das Echo war überwältigend, eine zeitgleich durchgeführte Spendenaktion erbrachte eine halbe Million DM. Der Deutsche Bundestag griff das Thema auf und überarbeitete das Entschädigungsgesetz grundlegend. Das Beispiel zeigt, wie Ende der fünfziger Jahre die Aufarbeitung langsam Fahrt aufnahm.

Wie schwierig die Aufarbeitung im Einzelfall ausfallen kann, lässt sich am Werk Johannes Bobrowskis ablesen. Der Lyriker gehörte dem Nachrichtenregiment der Wehrmacht an, hatte Massenerschießungen von Juden an der Ostfront selbst erlebt. Der Gießener Literaturwissenschaftler Norman Ächtler unterzieht in seinem Aufsatz nun Bobrowskis Gedicht „Kaunas 1941“ (1958 erstmalig publiziert) einer genauen Lektüre. In dem Gedicht hatte Bobrowski, so Ächtlers These, seinen Erlebnissen eine besondere literarische Gestalt gegeben, die „einen künstlerischen Ausdruck auch für das Unsagbare“ zu finden sucht.

Aufgrund seines selbstreflexiven und anspielungsreichen Stils gilt Bobrowski vielen bis heute als „dunkler“, „geheimnisvoller“ beziehungsweise „hermetischen“ Autor. Doch wie Ächtler in seiner Analyse zeigt, lässt sich durch eine genaue Lektüre und Kenntnis der literarischen Bezüge die scheinbare hermetische Geschlossenheit ein Stückweit öffnen. Erkennbar wird ein Autor, der mit moralischem Anliegen und poetischer Ausführung ringt, der „ein komplexes Bezugssystem aus mnemonischen, historischen, mythologischen, intertextuellen und interkulturellen Referenzen“ aufbaut, das erst ‚Authentizität’ verbürgen kann.

Bobrowski nutzt aber nicht nur das gesamte ihm zur Verfügung stehende kulturelle Archiv und setzt auf die Pathosformeln der literarischen Tradition, sondern akzeptiert die hermetische Leerstelle als Grundvoraussetzung für Kunst. Die Formel „benannt – gebannt“ hält er für einen Kurzschluss, der die individuelle Auseinandersetzung des Lesers mit dem Thema unterbindet. So sehr Bobrowski damit gegen die ästhetischen Normen des Sozialistischen Realismus verstößt – ein „engagierter“ Schriftsteller im Sinne Jean-Paul Sartres will er auch nicht sein. Schreiben ist für ihn dagegen kontemplative Erinnerungsarbeit, die Warnzeichen setzt.

Schlaglichter auf prägnante Einzelfälle, Schattierungen der „großen Schuld“

Und Koeppen? In seinem Roman „Tauben im Gras“ erweist er sich als Antipode zum Lyriker Bobrowski. Keine Kontemplation, stattdessen ein Überschuss an Aggressivität, wie Dieter Liewerscheidt in seinem Beitrag resümiert, der die Ausgabe des „treibhaus“ abschließt. Eine aufgestaute Verbitterung bricht sich Bahn, die von keiner literarischen Strategie kanalisiert werden kann. Die Lesarten des Romans als zeit- und kulturkritisch, als Großstadtroman oder als Wiederaufgreifen neusachlicher Schreibweisen: sie alle scheitern, sogar die Selbststilisierung des Autors als Opfer der Nazi-Jahre.

Die „große Schuld“ – wahrlich ein großes Thema für ein Jahrbuch. Doch die Wahl ist für das „treibhaus“ durchaus logisch und zwingend. Schon in früheren Ausgaben wurde die Thematik immer wieder einmal berührt, hier zeigen sich nun deutlich die verschiedenen Facetten. Besonders verdienstvoll sind die Beiträge zu den Erinnerungs- und Verarbeitungsstrategien der „großen Schuld“. Sie zeigen, dass es neben dem großen Schweigen auch schon immer ein kleines Reden gegeben hat, an das spätere Generationen anknüpften konnten.

Dabei können und wollen die Herausgeber Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner natürlich nicht das ganze Thema aus einem Guss zeigen. Doch die Beiträge, die sie versammelt haben, werfen Schlaglichter auf besondere Fälle, auf exemplarische Romane, Filme, Theaterstücke, Rundfunkfeatures und ihre Autoren. Dies hilft, das Bild der „großen Schuld“ zu differenzieren und seine Schattierungen wahrzunehmen. Das gelingt nicht allen Autoren gleich gut, manche verkomplizieren unnötig die Betrachtung oder finden erst auf der Zielgeraden Anschluss an den thematischen Fokus des Jahrbuchs.

Doch insgesamt ist die aktuelle Ausgabe des „treibhaus“ ein informativer und lesenwerter Band, der die Nachgeborenen begreifen lässt, dass das Sprechen über Holocaust und Kriegsschuld erst hart erarbeitet werden musste.

Titelbild

Günter Häntzschel / Ulrike Leuschner / Sven Hanuschek (Hg.): Die große Schuld. (treibhaus. Jahrbuch für Literatur der fünfziger Jahre. Band 11).
edition text & kritik, München 2015.
410 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783869164403

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