Vom Fuchs und der Wachholderdrossel

Der erste Band der Tagebücher von Henry David Thoreau ist erschienen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Osten erglänzte in einer schmalen, aber undeutlichen Lichtsichel, wobei sich das Blau des Zenits in allen möglichen Graden mit der Lachsfarbe des Horizonts mischte. Und jetzt telegrafieren die benachbarten Berggipfeln uns armen Kriechern der Ebene das goldene Zeichen des Monarchen im Osten, und bald fallen ‚seine langen waagrechten Linien‘ nach und nach ein, und die Fenster der bescheidensten Hütten begrüßen ihren Herrn.“ Das schreibt Henry David Thoreau am 16. Dezember 1837 in sein Tagebuch – und fährt fort: „Wie unerlässlich für ein genaues Studium der Natur ist doch die Wahrnehmung ihrer wirklichen Bedeutung.“

Am 22. Oktober 1837, mit 20 Jahren, begann Thoreau sein Tagebuch, das er bis zu seinem Tod 1862 führte. Anfangs noch ein Sammelsurium mit anarchistischen Ideen und bildhaften Naturbeschreibungen, esoterischen Gedanken, mehr oder weniger gelungenen Aphorismen und Notizen zu seiner Lektüre und seinem Liebeskummer, wurde es wenige Jahre später zu einem Arbeitsbuch zu seinen Hauptwerken, zu denen vor allem „Walden, oder Leben in den Wäldern“ und „Über die Pflicht zum Ungehorsam“ zu zählen sind. Für diese beiden Bücher (letzteres ist eine Sammlung von Essays) wurde er zur Ikone, zum Vorbild von Mahatma Gandhi und Martin Luther King sowie der Hippiebewegung, die „zurück zur Natur“ wollten.

Doch auf diesen Status musste er sich mühsam hinarbeiten. Der Anfang war noch unreif und manchmal sogar krude, etwa wenn er die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen als „Heilmittel gegen Falten“ anpreist oder sich als Aphorismus notierte: „Was ein Mensch weiß, das tut er.“ Immerhin schreibt er schon in seinen Jugendjahren, dass der Mensch in der Natur eigentlich ein Störenfried, dass die Gesellschaft, jede Gesellschaft, krank und Gesundheit nur in der Natur zu finden sei – das werden seine lebenslangen Themen bleiben.

In zwölf Bänden, so ist geplant, soll etwa die Hälfte seiner Tagebücher im kleinen Verlag Matthes & Seitz erscheinen. In ihnen wird man Thoreaus Weg zum Widerständler mitverfolgen können, der sich aus Protest gegen den Krieg gegen Mexiko weigerte, Steuern zu bezahlen, der den Widerstand gegen den Staat für eine Pflicht hielt, der drei Jahre lang in Massachusetts im Wald, auf dem Grundstück des Philosophen Ralph Waldo Emerson, lebte, dessen Privatsekretär er war. Mit seinen Tagebüchern begründete Thoreau ein neues Genre, das sogenannte Nature-Writing, weil er die Natur ernstnahm und beobachtete, penibel, aber auch poetisch, mit Leben erfüllt, und sie fast als einen Teil von sich wahrnahm.

Schon im ersten Band beschreibt er die vielen Formen der Eisschollen auf dem Fluss, schreibt vom Schnee an den Kiefern, vom Fuchs, der „auf dem Schnee mit der Sorglosigkeit der Freiheit über den gefrorenen Teich eilte“. Ihm schien, „als hätte die Sonne noch nie so stolz und hell auf den Hang hinabgeschienen, und Wind und Wald waren in Zuneigung verstummt. Ich überließ ihm, der ihr wahrer Besitzer war, Sonne und Erde. Er ging nicht im Sonnenschein, sondern der Sonnenschein schien ihm zu folgen.“ Oft überhöht er die Natur mythisch, aber immer ist da auch eine Distanz zu ihr, die er nie aufheben würde wie andere Nature-Writer, die sich mit ihr ineins gesetzt fühlten. Thoreau reflektiert ständig über die Natur und schreibt: „Zumeist habe ich schlecht gelebt. Weil ich mir selbst zu nahe war.“ Dennoch ist die Natur seine Zuflucht: „Beim Maihauch, den ich einatme, werde ich daran erinnert, dass die Zeitalter nie so weit zurückreichen wie zuvor. Die Wachholderdrossel ist ein modernerer Philosoph als Platon oder Aristoteles. Jene sind jetzt ein Dogma, aber die Drossel predigt den Schatz dieser Stunde.“

Leider ist dieser erste Band der neuen Ausgabe, die uns Thoreau nahebringen könnte, schlecht gemacht. Es fehlen die Jahreszahlen auf den Seiten, stattdessen steht dort der Verfassername sowie „Tagebuch I“ – das wird man sowieso wissen, wenn man den Band zur Hand nimmt. Es fehlen Karten und eine Zeittafel; auch die 108 sehr kurzen Anmerkungen des Übersetzers sind so knapp gehalten oder seltsam formuliert, dass man von ihnen kaum etwas lernt: Zu den „langen waagerechten Linien“ erfährt man: „Von Milton in seinem Gedicht ‚Comus‘ verwendetes Bild; es spielt auf Werkzeuge an: ‚level‘ – Wasserwaage; rule – Lineal.“ Einmal heißt es: „Bezieht sich auf Kaiser Domitian“ – das ist richtig, das Interessante daran wäre jedoch zu erfahren, auf welche Art und Weise es das tut. Als er einen „R.W.E.“ erwähnt, kann man lesen, dass damit Ralph Waldo Emerson gemeint sei, aber nicht, wieso Thoreau bei ihm ist und welche Rolle er für ihn spielt. Ein erläuterndes Nachwort gibt es überhaupt nicht. Und auch die Übersetzung ist an vielen Stellen misslungen. Sehr schade, denn das verdirbt einem die Freude an der endlich begonnenen Übersetzung der Tagebücher sehr. Dennoch ist es ein schönes Projekt, das man mit Freude und Spannung weiterverfolgen wird, eine wunderbare Entdeckung eines sich entwickelnden Autors, der oft genug quer zu den Erwartungen seiner Mitmenschen und der Gesellschaft lebte und deswegen noch immer ein Vorbild in einer normierten Welt ist.

Titelbild

Henry David Thoreau: Tagebuch I.
Übersetzt aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt u.a.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
326 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783957571472

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