Aufbewahrung, Organisation und Bereitstellung von Wissen in der Frühen Neuzeit

Ein Tagungsband zeigt die Vielfalt neuer Wissensspeicher und -formen als Folge des Buchdrucks

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heutige Speichermedien und Datenträger künden von der digitalen Revolution, die riesige Volumina an Informationen in komprimierter Form organisierbar und zugreifbar hält. Die Medienrevolution vor rund 500 Jahren, die vorrangig durch die Erfindung des Buchdrucks ausgelöst worden war, hat zu neuen, teilweise innovativen Formen der Wissensspeicherung geführt. Chroniken, Zeitschriften, Staatskalender und Florilegien etwa waren bedeutende Speichermedien der Frühen Neuzeit. Funktional und prototypisch stellt der Sammelband entsprechende Wissensformate und -medien exemplarisch und quellengestützt vor. In drei großen thematischen Abschnitten liefern insgesamt vierzehn Aufsätze, die von sechzehn ausgewiesenen Fachleuten verantwortet werden, einen Einblick in die Heterogenität des Wissens bzw. der Wissenskonservierung in der betrachteten Epoche.

In einem knappen Einleitungskapitel loten die beiden Herausgeber Anette Snydikus und Frank Grunert die Relevanz des Themas aus. Sie postulieren die These, dass Wissen ein „Ergebnis seiner formierenden Speicherung“ sei. Damit distanzieren sie sich von konkurrierenden Ansätzen, die Wissen kategorisch als „gerechtfertigte wahre Überzeugung“ verstehen, was für die funktionale Betrachtungsweise wenig zielführend sei. Hingegen konstituiere sich Wissen als „Effekt eines Anerkennungsaktes“, wobei Kriterien für die Anerkennung von Wissen zu ermitteln und als Produkt soziokultureller Vereinbarung zu analysieren seien. Grunert und Syndikus gelangen nach der Diskussion der einschlägigen Forschungsliteratur zu der erkenntnisleitenden Definition, die den Sammelband umrahmt: Unter „Wissen“ wollen sie „referenzialisierbare Aussagen“ verstanden sehen, „die während einer unbestimmten (…) Dauer erfolgreich kommuniziert werden.“ Gegenstand des Sammelbandes bilden folglich jene Faktoren für erfolgreiche Wissensgenese, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert in Europa, vor allem aber im deutschsprachigen Raum, etabliert haben. Gestützt auf Vorarbeiten und Konzepte von Peter Burke und Olaf Breidbach betrachten die Beiträge des Sammelbandes Wissen als „strukturierte Information“, wobei das wesentliche Merkmal die Ordnung darstelle, in der Wissen präsentiert werde. Mit anderen Worten: Das Wissen als verarbeitete und systematisierte Information lässt sich perspektivisch mit Blick auf die jeweiligen Adressaten, Quellen, Funktionen und spezifischen Wissensspeicher erforschen. Insofern sei es das Anliegen des Bandes, „unterschiedliche Wissensspeicher als Exemplare eines abgrenzbaren Gattungskomplexes“ zu analysieren und zugleich nach den Kategorien „gelehrtes Wissen“, „gemeines Wissen“ und Lebensweltorientierung zu ordnen.

In drei Teilen werden dementsprechend im Sammelband verschiedene Wissensbereiche und damit korrespondierende Wissensspeicher in den Blick genommen. Teil eins ist den politischen Informationen gewidmet. Der Hamburger Wissenschaftler Bernhard Jahn betrachtet dazu als Quellenbasis gedruckte sächsische Chroniken aus dem 16. Jahrhundert, genauer die „Saxonia“ von Albert Krantz (um 1520) und die „Sächsische Chronik“ Spangenbergs (um 1585). Er sieht sie als „edierte Archive“ und ordnet ihnen tagespolitische, juristische und ordnungspolitische Funktionen zu. Ferner zeigt er verschiedene Techniken, um Ordnung in Chroniken zu etablieren, beispielsweise das chronologische, das genealogische und das topische Prinzip. Neben der Vielfalt an Chronikformen sei es das Bemerkenswerte, welch heterogenes Wissen unterschiedlicher Provenienz und Art in den Chroniken Eingang gefunden habe. Peter Brachwitz und Susanne Friedrich widmen sich einem Klassiker des politischen Wissens: der Entstehung und den Funktionen historisch-politischer Zeitschriften. Arndt Brendecke richtet den Fokus auf einen Bereich, der mit der Entstehung von Verwaltungsorganisationen in der Frühen Neuzeit korrespondiert: Er analysiert Tabellen als Basisformular der Wissensverwaltung und hebt die Relevanz der visualisierten Ordnung empirischer Informationen als grundlegende Innovation hervor. Der Mehrwert der Tabelle bestehe nicht zuletzt darin, dass Beziehungen zwischen Daten hergestellt werden können und damit ein Machtinstrument der fürstlichen und königlichen Herrschaftspraxis kreiert werde. Volker Bauer schließlich zeigt am Gegenstand der Hof- und Staatskalender des 18. Jahrhunderts, welche Gestaltungsmöglichkeiten und Gebrauchsformen mit diesem weit verbreiteten Medium gegeben waren, welches vorrangig als Instrument politischer Repräsentation mit klarer Binnengliederung fungierte.

Der zweite Teil des Sammelbandes fokussiert in fünf Beiträgen die medialen Hilfsmittel der Gelehrsamkeit, die als Fundament für die Generierung weiteren Wissens dienten. Gilbert Heß geht intensiv auf Genese, Wirkungsweisen und Transformationen frühneuzeitlicher Kompilationsliteratur am Beispiel der Textgattung „Florilegien“ ein. Er zeigt an dieser lexikonartigen Sammlung von rhetorisch nutzbaren Bildmustern, Sentenzen und Redensarten, wie in der Frühen Neuzeit mit Wissen aus zweiter Hand umgegangen wurde und wie sich der hohe Verbreitungsgrad der Florilegien erklären lässt. Besonders die Funktion als Materialquelle für die weitere produktive Verwendung im Kontext von Rhetorik und Poetik sowie der Anspruch auf enzyklopädischen Umfang generiert Vergleiche mit modernen, digitalen Wissensspeichern (beispielsweise Wikis). Dirk Werle zeigt in diesem Kontext die Genese von bibliographischen Informationsmitteln anhand der „Bibliothecae“. Diese repräsentieren „Wissensspeicher zweiter Ordnung“, die eine pragmatische Ordnung für das zu erfassende Material herstellen. Der Beitrag von Merio Scattola widmet sich den politischen Bibliographien als Wissensspeicher und betrachtet sie aus epistemologischer, propädeutischer und pragmatischer Perspektive. Einer Spezialform frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit, den sog. Disputationsschriften, und Fragen nach der Speicherung logifizierten Wissens geht Hanspeter Marti nach. Er argumentiert, dass sich in diesem Massenprodukt aufgearbeitetes und konsultierbares Wissen in sachlicher Form präsentiert, das eine besondere Qualität durch die Bearbeitung eingegrenzter Fragestellungen gewinne, welche Herausforderungen wegen der Sammlung und Zugänglichkeit der Informationen evoziert habe. Grunert und Syndikus thematisieren abschließend die Geschichte der Gelehrsamkeit, indem sie anhand der Gattung „Historia literaria“ den Aufstieg und das allmähliche Scheitern einer Gattung nachzeichnen, die genuin klassisch-universelle Ansprüche am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr mit gewandelten Bildungsbedürfnissen neuer Wissensträger und -nutzer in Einklang bringen konnten.

Im dritten Teil des Sammelbandes finden sich fünf Beiträge zum „Wissen der Praxis – Orientierungswissen“. Markus Friedrich betrachtet zunächst das frühneuzeitliche Wissenstheater und zeigt unter anderem, mit welchen Mitteln der Visualisierung es gelang, einen schnellen Zugriff auf disparate Wissensgegenstände zu ermöglichen. Der Heidelberger Forscher Wilhelm Kühlmann stellt im Folgenden eine Typologie frühneuzeitlicher „Buntschriftstellerei“ vor, die vor allem den seriell-journalistischen Aspekt funktionell-pragmatisch beleuchtet. Andreas Kilcher betrachtet den Roman in der Frühen Neuzeit als polyhistorische Gattung, welche im Epos eine „Einheit des Wissens“ anstrebe. Am Beispiel des „Arminius“-Romans von Daniel Caspar von Lohenstein erläutert er Formen und Funktionen der literarischen Wissenskonstitutionen. Während sich der Beitrag von Friedrich Vollhardt der sozialen Selbstdeutung des Individuums im 17. und 18. Jahrhundert zuwendet und dazu eine spezifische Ausdrucksform, die sog. Moralischen Wochenschriften, als Vermittlungsmedium thematisiert, geht es in Michael Maurers Beitrag abschließend um die Textsorte „Reisebericht“, Maurer zeigt die Nähe des Reiseberichts zum expressiven Selbstzeugnis, welche die Subjektivität des reisenden Verfassers widerspiegele. Unterhaltende, propagandistische, psychologisierend-subjektive sowie kritisierende Funktionen zeigen sich in dieser Textsorte, welche zugleich sachlich-valides Wissen über bereiste Länder bzw. Landstriche bereitstelle.

Abgerundet wird der Sammelband durch ein umfangreiches Namenverzeichnis, das eine schnelle Orientierung erleichtert und den gezielten Zugriff ermöglicht.

Es gilt zu konstatieren, dass Grunert und Syndikus einen lesenswerten und thematisch wegweisenden Sammelband vorgelegt haben, der wichtige Diskussionen und Ergebnisse mehrerer DFG-Sonderforschungsbereiche dokumentiert. Dass die dem Bande zugrundeliegende Tagung vor mehr als zehn Jahren stattgefunden hat, verleiht der Publikation eine besondere Note. Viele Beiträge wurden für die Publikation aktualisiert und sind bibliographisch auf den aktuellen Forschungsstand gebracht worden. Insgesamt fällt auf, dass verschiedene Texte ein deutliches Interesse an der Alltagskultur einerseits und anderseits der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit artikulieren Die Lektüre des Sammelbandes verweist nicht zuletzt darauf, dass das Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit einen wichtigen Forschungsgegenstand repräsentiert, der keineswegs abschließend respektive umfassend bearbeitet ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Frank Grunert / Anette Syndikus (Hg.): Wissensspeicher der frühen Neuzeit. Formen und Funktionen.
De Gruyter, Berlin 2015.
424 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783050043296

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