Mit Messern durch die Seele

Hans Jürgen von der Wenses documenta-Wanderungen ins Glück

Von Jürgen RöhlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Röhling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So viel Begeisterung können sich die documenta-Macher unserer Tage nur wünschen: „Phänomenal“, „imposant“, „übergewaltig“ – so beschreibt Hans Jürgen von der Wense, eine der großen Außenseitergestalten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, die erste documenta von 1955; besser: seinen Besuch, seine Eindrücke und die Wirkung, die die Ausstellung moderner Kunst in ihm auslöste. Wense, der früh als Avantgardekomponist von sich reden machte und als unvollendetes Universalgenie in Kassel und Göttingen sein Leben fristete, hat kaum ein Werk je abgeschlossen. Aus depressiven Phasen erlösten ihn Wanderungen durch Nordhessen und Südniedersachsen sowie Reisen beispielsweise zur documenta. Tagebuch und Briefe füllten sich mit enthusiastischen Wortkaskaden, gewürzt mit Unterstreichungen und auch gerne einmal fünf Ausrufezeichen hintereinander. Das passt zu einem, der 30-stöckige „Glaspaläste“ in Kassel sah, wo tatsächlich gerade ein paar Neubauten aus den Kriegstrümmern aufragten. Wenses Credo: „Was kunst wirklich ist, weiß nur der, dem alles mit messern durch die seele geht“ – dabei geht es nicht unbedingt genau zu, dafür aber gewaltig.

Arnold Bode, der Erfinder der Kasseler Kunstausstellung, deren Erfolg 1955 nicht zu erahnen war, konnte sich keinen besseren Besucher wünschen für seine Schau, die zuallererst als Re-Education der Deutschen in Sachen Kunst und Kultur gedacht war. „Komm sofort!! Du musst es sehen“, lockte er Freunde herbei zur d1, auf der vor allem das gezeigt wurde, was seit Hitler verboten, „entartet“ war – auch dieser Begriff, notiert Wense, war in den Reaktionen auf die documenta 1 schon wieder zu hören. Zu lesen sind Wenses Begeisterungstexte, die zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieben, jetzt in einem kleinen „groschenheft des weltgeistes“, herausgegeben und mit einem kundigen, die Primärtextlänge locker erreichenden Nachwort versehen von Harald Kimpel, Kunsthistoriker in Kassel. Seine endgültig letzte Wanderung trat Wense 1966 an, die documenta 2 von 1959 (die ihn anödete) und 3 von 1964 (die ihn wieder zu langen Elogen des Entzückens trieb) besuchte er noch, „betrat“ die Bilder und schöpfte Mut und Lebensenergie. Für Kassel-Kenner jenseits der Kunstausstellungen ist auch Wenses Liebe zur modernen „in Sturmeile aufgemauerte[n] übermoderne[n]“ Stadt bemerkenswert, wo doch heute längst als Konsens gilt, dass der Neuaufbau missraten ist. Auch hier gilt es, Wenses Euphorie zu entdecken und womöglich gar zu teilen oder zumindest nachzuempfinden – die Euphorie eines Autors, der vor einigen Jahren noch fast gänzlich unbekannt war und der das vielstimmige Konzert der Literatur des 20. Jahrhunderts um einen sehr eigenen Ton bereichert.

Titelbild

Hans Jürgen von der Wense: documentaWanderungen.
Blauwerke Verlag, Berlin 2015.
74 Seiten, 1,00 EUR.
ISBN-13: 9783945002032

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