Eine Topologie der Menschlichkeit

By Feiyu entschlüsselt in „Sehende Hände“ die Phänomenologie der Tuina-Massage

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die brasilianische Künstlerin Lygia Clark gab 1966 ihrem Werk „Hand Dialogue“ Form. Auf der Fotografie sind zwei Hände zu sehen, die durch ein elastisches Möbiusband miteinander verbunden sind. Das Möbiusband – diese bekannte und faszinierende Fläche – ist ein nicht orientierbares Objekt; eine Unterscheidung zwischen oben und unten ist nicht möglich. Beginnt man mit dem Finger über die Oberfläche zu fahren, gelangt man nicht zum Ausgangspunkt der Bewegung. Und trotzdem befindet man sich nicht auf der anderen Seite. Die Berührung verliert sich in der Bewegung.

Berührung, die auf viele Arten und Weisen geschehen kann, ist das Thema von Bi Feiyu Roman „Sehende Hände“. Dem Übersetzer Marc Herrmann ist es zu verdanken, dass das mit dem Mao Dun Prize ausgezeichnete Buch nun auch in deutscher Sprache vorliegt. Dabei ist es Herrmann gelungen eine Atmosphäre zu kreieren, die sich beispielsweise auch in den Texten Mo Yans in der Übersetzung von Martina Hasse oder Peter Weber-Schäfer findet. Ob die Übertragung gelungen ist und dem Originaltext entspricht, sollte von diesbezüglich fachkundigeren Personen beurteilt werden.

Berührung ist auch das Kernelement der Tuina-Massage, die Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin ist, die nun auch in Europa zu zunehmender Beliebtheit gelangt. Schieben, Greifen, Drücken und Streichen sind die grundsätzlichen Bewegungen der ganzheitlichen Massagepraxis, die sich im Vergleich zur westlichen Massagepraxis weniger auf den Bewegungsapparat bezieht als auf den Organismus als Ganzes. Anregung und Öffnung sind Ziele – wenn dies für fernöstliche Praxis überhaupt so gesagt werden kann.

Die Praxis der Tuina-Massage, die Feiyu in seinem Roman beschreibt, wird in China hauptsächlich von blinden Masseurinnen betrieben. Und deren Alltag, ihr Leid und ihre Freude, wie sie sich verlieben, wie sie sich streiten und wie sie ihr Leben leben, greift Feiyu darin auf. Er liefert eine fast schon romanförmige Ethnografie der Tuina-Masseurinnen und gibt denjenigen eine Stimme, die sonst in der chinesischen Gesellschaft kaum gehört werden. Feiyu schafft es über die Beschreibung von Berührung der Masseurinnen untereinander und dem haptischen Begreifen der Welt im Allgemeinen eine im Roman oft ausgeblendete Ebene zu erschließen. Da den Masseurinnen die Möglichkeit der visuellen Erschließung von Welt schlicht fehlt, ist es nötig, über eine andere Form der Beschreibung ihre Erfahrungen begreifbar zu machen.

Der Roman wird aus der Perspektive von blinden Masseuren und Masseurinnen, sehenden Empfangsdamen oder den Chefs des Massagezentrums erzählt. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Geschichte, die in der jüngeren Vergangenheit angelegt ist, werden durch Rückblenden auf die individuellen Biografien und kurze Traumpassagen ergänzt – alles fügt sich ineinander, die Geschichte entfaltet sich spannungs- und bildreich. Die Passagen, in denen die Leserin einen Eindruck von der inneren Welt der verschiedenen Personen bekommt, sind dabei durchweg bündig und kurzweilig. Dabei tritt das Spezifikum der Blindheit in den Hintergrund. Es geht nicht darum, dass die Protagonistinnen blind sind,  vielmehr geht es darum, dass sie erleben und erdulden, was die Sozialität mit anderen Menschen für sie bereithält. Es werden Familienkonflikte thematisiert, die Liebe, die Schönheit, Wirtschaftsfragen und der eigene Umgang mit der Arbeit. Der Realismus Feiyus trifft den Kern dessen, was man als den ‚modernen Menschen‘ verstehen kann. Besonders hervorzuheben ist die allgegenwärtige Angst des Verlusts der Selbstständigkeit oder der existenziellen Grundlage.

Die Geschichte ist jedoch viel mehr als nur eine gute Erzählung, die sich mit anthropologischen Existenzialien beschäftigt. Sie ist zugleich eine geschliffene Gesellschaftskritik in der Deskription der realen Verhältnisse. Die Volksrepublik China ist der bevölkerungsreichste Staat der Welt. Rund 1,4 Milliarden Menschen leben dort, der Unterschied von Stadt und Land ist weiterhin sehr groß. Selbiges gilt für das Einkommen der Menschen, Gastarbeiterinnen gehören zum Bild der großen Städte. Und so gilt auch für die Masseurinnen, dass sie dorthin ziehen, wo das Geld fließt; sie wollen Anteil am großen Aufschwung, der ihnen Sicherheit verspricht.

Die hohe Anzahl an Menschen im sozialen Nahraum – so auch die Interpretation Feiyus – führt allerdings dazu, dass die Verantwortung für den anderen sinkt. Warum ich? Warum ist es meine Aufgabe zu helfen? Warum sollte ich mich mit dem Anderen auseinandersetzen? Besonders für Menschen mit Behinderung ist das in China ein Problem. Sie werden als Menschen zweiter Klasse gesehen, abgewertet und nicht integriert. Gerade behinderte Kinder- und Jugendliche haben kaum Chancen. Für die blinden Masseurinnen des Tuina-Zentrums war die körperliche Tätigkeit oft die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen und so ein wenig Unabhängigkeit zu erringen. Diese Unabhängigkeit halten sie wortwörtlich fest – es entwickelt sich ein enges Geflecht an persönlichen Beziehungen, gegenläufig zu der oben angesprochenen fehlenden Bezugnahme auf die Anderen. Andere Möglichkeiten als diese bleiben oft nicht. Die Sozialität ist so zugleich Fluch und Segen. Sie bedeutet Verpflichtung, aber auch Sicherheit.

In Übereinstimmung mit der Realität in China werden die beiden Möglichkeiten für Blinde in China dargestellt: entweder Musikerin oder Masseurin. Scheitert das eine, ist es zwangsläufig das andere, was versucht wird. Dies ist aber nicht nur Ergebnis der kulturellen Umstände, sondern schlichtweg institutionelle Diskriminierung, der blinde Menschen ausgeliefert sind. Das Gaokao, die wohl relevanteste Prüfung für junge Chinesinnen, und die damit verbundene Möglichkeit des Hochschulzugangs war bislang für Blinde schlichtweg unmöglich. Nun ist die Teilnahme auch für sie möglich. Dies kann zwar als Schritt in Richtung Inklusion gewertet werden, die segregierten Schulen für Blinde bleiben aber weiterhin bestehen; an ihnen wird nur für ein begrenztes Tätigkeitsspektrum ausgebildet. Auch die Umsetzung eines Studiums für Blinde an Hochschulen ist noch nicht abschließend geklärt.

Behinderung ist ein Thema, mit dem sich nicht nur die chinesische Gesellschaft auseinandersetzen muss. Bi Feiyu fühlt den lebensweltlichen Verhältnissen blinder Menschen nach und ermöglicht es, ihr Leben besser zu verstehen. Hierbei gelingt es ihm ohne Viktimisierung eine Atmosphäre des Mitgefühls zu erzeugen, die auch für das generelle Miteinander von Menschen anzustreben wäre. Das Buch ist dabei aber alles andere als moralinsauer – es ist eine extrem kurzweilige, lustige, anregende und durchdachte Geschichte. Die Leserin folgt Menschen durch ihr Leben und erkennt sich bestenfalls selbst im Text wieder. Das alles gelingt dem Autor sehr gut; er schafft es zudem, eine andere Perspektive auf den Alltag einzunehmen, die es ermöglicht, aus dem ständigen Trott herauszutreten und sich selbst nicht nur passiv gut zu unterhalten, Feiyu regt auch aktiv zum eigenen Denken und Handeln an.

Titelbild

Bi Feiyu: Sehende Hände. Roman.
Übersetzt aus dem Chinesischen von Marc Hermann.
Blessing Verlag, München 2016.
414 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783896675651

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