Zwei zerstrittene RAF-Terroristinnen und eine reuelose Jungfrau

Elfriede Jelineks sprachgewaltige Dramen „Ulrike Maria Stuart“ und „Das schweigende Mädchen“

Von Yvette RodeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvette Rode

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elfriede Jelinek wurde nicht grundlos im Jahr 2004 der Literaturnobelpreis verliehen; sie erhielt ihn insbesondere „für den musikalischen Fluß von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“, wie es in der Begründung der Schwedischen Akademie heißt. Dies wird auch in ihren Dramen Ulrike Maria Stuart und Das schweigende Mädchen deutlich, in denen der linke bzw. rechte Terror in Deutschland thematisiert wird. Ulrike Maria Stuart und Das schweigende Mädchen wurden am Theater aufgeführt, bevor sie in Buchform im Rowohlt Verlag publiziert wurden. Beide Dramen handeln von Frauen, die Gewalt anwenden, um Macht über bestimmte Bevölkerungsschichten zu erlangen, um am Ende doch als gescheitert verurteilt zu werden. Beide Dramen beruhen auf wahren Begebenheiten.

Ulrike Maria Stuart wurde am 28. Oktober 2006 im Hamburger Thalia Theater uraufgeführt und im selben Jahr mit dem Kulturnews-Award ausgezeichnet. Jelinek lässt in dem Drama die verfeindeten Königinnen Maria Stuart und Elisabeth I. als die ebenfalls zerstrittenen RAF-Terroristinnen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin aufeinandertreffen, die ihre kriminellen Machenschaften, den Stammheim-Prozess, den Untergang der RAF und ihrer beider Verhältnis zueinander Revue passieren lassen. Die reale Parallele liegt darin, dass auch Ensslin sich von Meinhof distanzierte, als sie im Mai 1972 im Alleingang ein Attentat auf den Hamburger Hauptsitz des Axel Springer Verlags begangen hatte, bei dem 36 Mitarbeiter verletzt wurden.

Jelinek hat die Publikation und Verbreitung der Textvorlage von Ulrike Maria Stuart zunächst ausdrücklich untersagt und den Originaltext ausschließlich Theaterregisseuren zugänglich gemacht. Wie bei ihren anderen Inszenierungen gibt Jelinek den Regisseuren auch bei Ulrike Maria Stuart die Freiheit, Sätze umzustellen oder auszulassen und so aus ihren Theatertexten eigene Stücke zu machen und als Co-Autoren zu fungieren. Die Tatsache, dass der Originaltext von Ulrike Maria Stuart nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist, hat nicht nur die Neugier von sechs Theatern geweckt, die vor der Uraufführung Interesse daran signalisierten, das Stück ebenfalls aufzuführen, sondern auch Anhänger und Kritiker von Jelinek. Bis heute ist nicht bekannt, wieso Jelinek Ulrike Maria Stuart zunächst nicht publizieren wollte und aus welchen Gründen sie ihre Meinung geändert hat. Einige Literaturwissenschaftler mögen darüber spekulieren, ob Jelinek durch eine Unterbindung der Publikation einer möglichen Vereinnahmung durch die Literaturwissenschaft entgehen wollte; andere mögen vermuten, dass dies ein Teil ihrer Selbstinszenierung ist, weil Ulrike Maria Stuart kurze Zeit nach dem Gewinn des Literaturnobelpreises entstand, durch den sie weltweite Aufmerksamkeit und Medienpräsenz erlang. Zwischenzeitlich hat Jelinek den Originaltext für einige Tage auf ihre Homepage gestellt; wenig später jedoch wieder entfernt und der Jelinek-Forschung übergeben. Den Wissenschaftlern wurde allerdings untersagt, aus dem Text zu zitieren. 

In Das schweigende Mädchen, das am 27. September 2014 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde, greift Jelinek den NSU-Prozess auf. Am 6. Mai 2013 wurde Beate Zschäpe vor dem Münchner Oberlandesgericht angeklagt, gemeinsam mit ihren verstorbenen Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos – beide, wie Zschäpe, Mitglieder der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) – neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine deutsche Polizistin ermordet zu haben. Die Hauptverdächtige Zschäpe hat zweieinhalb Jahre vor Gericht geschwiegen und erst am 9. Dezember 2015 in einer schriftlichen Erklärung, die über ihren Anwalt verlesen wurde, ihre Unschuld beteuert. Die vorangegangene Zeit des Schweigens zählt zu den großen Rätseln des NSU-Prozesses. Jelinek verleiht der Hauptverdächtigen nun eine Stimme und inszeniert sie als eine Frau, die von den anderen als Jungfrau wahrgenommen wird, aber zwei „Erlöser“ geboren hat – Böhnhardt und Mundlos. Einige Rezipienten mögen vermuten, dass Jelinek bei der Konstruktion der Jungfrau von der biblischen Darstellung der Jungfrau Maria beeinflusst wurde, deren Sohn Jesus Christus ebenfalls als Erlöser aller Menschen bezeichnet wird. Wie Zschäpe verteidigt auch die Figur der Jungfrau in dem Drama die Morde, die von Böhnhardt und Mundlos begangen wurden. Zudem treten ein Engel und ein Prophet auf, die als Verteidiger der Jungfrau fungieren und auf Unschuld plädieren.

Ulrike Maria Stuart und Das schweigende Mädchen unterscheiden sich in ihrem dramaturgischen Aufbau erheblich: Ulrike Maria Stuart wurde von Jelinek in drei „Teilstück[e]“ unterteilt. In den ersten beiden Teilstücken treten nacheinander Meinhof und Ensslin auf, von Jelinek als konträre Figuren entworfen. Dabei ist Meinhof als reumütige Sünderin konstruiert, die ihre kriminellen Machenschaften bei der RAF bereut und es für gerechtfertigt hält, dass der Staat „die Schlimmen, ja, die Schlimmsten unter ihnen [Mitglieder der RAF] fassen“ und verurteilen darf. Zudem erklärt sie – in Anlehnung an den Ausspruch des Girondisten Pierre Vergniaud während der französischen Revolution: „Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder“ –, dass die „Revolution ihr eignes blödes Kind gefressen“ hat. Demgegenüber wird Ensslin von Jelinek als eine machtbesessene Egoistin gezeichnet, die immer noch von den Idealen der RAF überzeugt ist und davon ausgeht, dass sie den alleinigen „Überblick über die Totalität“ habe und der „Kapitalismus […] die eignen Kinder“ fresse. Im Gegensatz zu Meinhof erscheint sie radikalisierter und ideologisierter. Den dramaturgischen Höhepunkt bildet das dritte Teilstück, treffenderweise mit den Worten „und: action!“ eingeleitet. Nun treffen Meinhof und Ensslin aufeinander und werden ins Lächerliche gezogen. Dies wird vor allem anhand der Sprache deutlich. So appelliert Meinhof, die in den ersten beiden Teilakten ihre Zeit bei der RAF bereut, an Ensslins Mitgefühl, indem sie sich selbst als Opfer inszeniert. So erklärt sie Ensslin:

„Ich will vor dir mich niederwerfen, Schwester, ja, das mach ich glatt, darauf kommt es mir nicht mehr an, den Boden unter meinen Füßen hab ich längst verloren. […] O, das tut mir leid, denn jetzt bin ich wohl gar nichts mehr, denn ich bin nichts ohne die Gruppe, das steht fest, die Gruppe schließt mich aus in jeder Form, die ich mir auch nur vorstellen kann. Das hab ich nun davon. Ihr stoßt in einen Abgrund mich hinunter, noch bevor ich selber springen kann“.

Ensslin geht nicht auf Meinhofs Friedensangebot ein und erscheint dadurch konsequenter als Meinhof. Doch auch sie wird im dritten Teilstück negativer dargestellt als in den ersten beiden. Dies wird vor allem daran deutlich, dass sie vulgäre und obszöne Ausdrücke benutzt und hierdurch ordinärer als Meinhof gezeichnet wird. So nennt sie Meinhof an mehreren Stellen des Dramas „bürgerliche Fotze“ und fordert sie mit den Worten „Mach deine Fresse zu und bleib im Loch und steck dir dein Gehirn in Arsch und dann häng dich an das streifenweis zerschnittene Handtuch, denn was andres hast du nicht dafür zu bieten“ zum Suizid auf.

Im Gegensatz zu Ulrike Maria Stuart findet in Das schweigende Mädchen keine dramaturgische Steigerung statt. Stattdessen wird der Prozess in seinem gleichförmigen Verlauf dargestellt. Die Rolle der Jungfrau wird von Jelinek als Rassistin gezeichnet, die vor Gericht weder Reue zeigt noch ihre kriminellen Machenschaften einsieht. Jelinek lässt die Jungfrau, den Engel und den Propheten im Nazi-Jargon reden. So bezeichnen sie Deutschland – in Anlehnung an die Rassenlehre – als das „Volk“ oder „Volk des Herren“ und grenzen Menschen mit Migrationshintergrund aus diesem Volk aus, bezeichnen sie als „Fremde“, „Feinde“, „andere“, „Kanaken“ und „Dreck“.

Auffällig ist, dass Jelinek die drei Rechtsextremisten als göttliche Figuren konstruiert, welche die Morde an den neun Migranten mit religiösen Motiven rechtfertigen. Der Engel wird von Jelinek als Überlieferer des rassistischen Gedankenguts gezeichnet, der die Deutschen zur Fremdenfeindlichkeit regelrecht bekehren und zum Mord an Migranten auffordern will. So erklärt er dem Richter nicht nur, dass die Toten die „falsche Religion“ haben, sondern prophezeit auch, dass die „andere[n]“ den „Thron der Deutschen, um den seit langem ein fürchterliches Gerangel besteht“, streitig machen wollen. Seiner Auffassung nach habe sich „dieser Migrationshintergrund […] für viele Menschen jedoch eingebürgert, das Außen wurde zu uns hereingeholt. Wir werden noch ihre Diener werden, wenn das so weitergeht! […] Es wird sich umkehren, das Fremde wird sich gegen uns kehren, indem es wird, was wir sind. Ich verstehe total, daß das verhindert werden muß“. Diese und andere Äußerungen des Engels erweisen sich als anschlussfähig an gegenwärtige Diskurse über Fremdenfeindlichkeit und verleihen ihnen ironische Pointen, wie vor allem anhand der Sprachspiele und Ausdrücke wie „eingebürgert“ ersichtlich wird.

Auch am Ende des Dramas Ulrike Maria Stuart werden Ensslin und Meinhoff von Jelinek als Engel gezeichnet, die dem „Volk“ die Augen über die wahren Absichten der Bourgeoisie öffnen wollen. Die Engel erklären dem Volk, dass die Bourgeois „Schweine [sind], die nur ihr Schweinesystem kennen, in welches sie das gläubig überzeugte Volk […] ein[…]sperr[en]“ wollen.

Jelinek ist insbesondere für ihre Kritik an der katholischen Kirche, dem Kapitalismus und der patriarchalischen Gesellschaft bekannt. Es darf zu den reizvollsten Aspekten in Ulrike Maria Stuart und Das schweigende Mädchen gezählt werden, dass gerade diejenigen Figuren als Engel konstruiert werden, die radikale (un-)politische Positionen vertreten. Darüber, ob Jelinek damit indirekt die Scheinheiligkeit des Christentums und die Hybris derjenigen Menschen kritisiert, die das Christentum über alles stellen und andere Menschen bekehren wollen, lässt sich indes nur spekulieren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Elfriede Jelinek: Das schweigende Mädchen. Ulrike Maria Stuart. Zwei Theaterstücke.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
463 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783499270567

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